Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund |
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Statt eines Schlusswortes: ein Plädoyer für eine gelebte Verfassung
Am 1. September 1948 trat in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen. Frauen und Männer; Christen, Agnostiker und Atheisten; Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Kommunisten – viele von ihnen ehemals von den Nationalsozialisten verfolgt, inhaftiert, in einem Konzentrationslager inhaftiert oder gezwungen ins Exil zu flüchten. Trotz dieses hohen Grades an Differenz verloren die Mütter und Väter des zu ausarbeitenden Grundgesetzes ihr einigendes Ziel niemals aus dem Blick: Nie wieder sollte eine Ideologie der Ungleichwertigkeit menschlichen Lebens auf deutschen Boden wachsen, gedeihen und zur vollen Blüte gelangen. Nie wieder sollte eine Ideologie der Antihaltungen, des Hasses und der Volksgemeinschaft samt Führerprinzip die Bürgerinnen und Bürger hinter sich vereinen, die Demokratie kapern und schließlich Tod und Elend über andere Menschen bringen. Die Nationalsozialisten hatten deutlich gemacht, dass die Würde des Menschen sehr wohl antastbar ist. Wie zum Trotz heißt es dagegen in Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt.
Im nachstehenden Absatz gibt sich der Staat auch einen erzieherischen Auftrag, denn staatliche Institutionen alleine können nicht die Würde des Einzelnen schützen. Die Qualität einer Demokratie und ihrer Glieder wird von ihren Repräsentanten maßgeblich bestimmt, die wiederum nichts anderes als ein Spiegel des Volkes sind. Der seit Jahrhunderten in Europa gezüchtete Antijudaismus, der sich dann zum Antisemitismus weiter entwickelte, sollte durch einen neuen humanen Umgang von Menschen mit Menschen, insbesondere eben Minderheiten, ersetzt werden:
Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
In dieser Hinsicht wird das Grundgesetz stets eine unvollendete Verfassung bleiben, deren Ideale sich von Generation zu Generation immer wieder bewähren müssen. Immer wieder stehen die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes in der Pflicht, die Kultur des Grundgesetzes im Umgang von Menschen mit anderen Menschen zu praktizieren. Dies erfordert große Anstrengung von allen hier lebenden. Weder die alteingesessene deutsche Bevölkerung, noch die zugewanderten neuen Deutschen dürfen sich mit einer abwartenden Erwartungshaltung an den jeweils anderen begnügen. Denn so kann nicht zusammen wachsen, was zusammen gehört. Eine gespaltene Nation kann nicht bestehen. Wir alle stehen in der Verantwortung, Lebensbrücken zu bauen und zugleich die religiöse und kulturelle Eigenständigkeit des jeweilig anderen Raum zu lassen.
Ich glaube, miteinander zu leben, nicht bloß nebeneinander, nicht bloß nebenher und aneinander vorbei, miteinander zu arbeiten, zu wirtschaften, zu speisen, sich gegenseitig zu besuchen und zu helfen – triviale, aber alltägliche Dinge – stellen Möglichkeiten dar, den humanem Geist des Grundgesetzes in die Tat umzusetzen und es zu einer lebendigen und gelebten Verfassung zu machen, die ein Heimatgefühl für alle hierlebenden aufkommen lässt.
Heimat? Heimat, so sagte Altbundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner Antrittsrede 1984, ist nicht nur dort, wo man geboren wurde. Sondern wo man in Verantwortung genommen wird und wo man verantwortlich sein kann. Wo sich die Gesellschaft öffnet und den neu dazugekommenen Mitsprache und Mitverantwortung auf Augenhöhe einräumt.
Dabei ist nicht außer Acht zu lassen, dass dort, wo Menschen zusammenleben, stets auch unterschiedliche Interessen vorherrschen, die Konflikte schüren. Eine plurale Gesellschaft wird es stets mit jenen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu tun bekommen, die Vielfalt grundsätzlich als Bedrohung der eigenen Lebensart betrachten – da sind die neue Rechte und der muslimische Zelotismus nur die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Durch radikale, aufsehenerregende Protestaktionen wollen sie den fatalen Eindruck schaffen, die Demokratie sei nicht fähig, dass allmähliche Zusammenwachsen verschiedener Teilgemeinschaften zu einem deutschen Wir zu bewerkstelligen. Aber gerade die Offenheit, Lernfähigkeit und die Annäherung durch Verhandlung und Kompromissbereitschaft machen deutlich, dass die Demokratie besser als jede andere Regierungsform hierzu geeignet ist. Allerdings müssen drei Dinge allen Bürgerinnen und Bürgern klar sein: 1) keine Interessensgruppe kann ihre Forderungen, wie das Zusammenleben auszusehen habe, zu 100 Prozent durchsetzen. Demokratische Kompromissfindung bedeutet daher, dass die getroffenen Entscheidungen auch respektiert werden. 2) Miteinander leben ist ein langwieriger Prozess, der Zeit und Geduld benötigt. Auf dem Weg dorthin ist mit Rückschlägen, Integrationsverlierern auf allen Seiten und Anti-Bewegungen zu rechnen, ob es sich nun um stupide muslimische Zeloten oder den rechten Schreibtisch-"helden" von Politically Incorrect handelt.
Damit nicht die Ränder der Gesellschaft die Deutungshoheit über das deutsche Wir erlangt, braucht es eine selbstbewusste Bürgerrechtsgesellschaft, die sichtbar, engagiert und couragiert protestiert, wenn sich Verfassungsanspruch und Verfassungsrealität zunehmend voneinander verabschieden.
Nun ist es zwar nicht weniger mutig, aber doch fällt es leichter, Verfassungspatriot zu sein, wenn man eine Mehrheit hinter sich weiß. Aber weit größerem Mut braucht es, wenn man die Mehrheit einer Gesellschaft auf etwas hinweisen muss, für das sie blind ist. Thilo Sarrazins demagogisches Buch Deutschland schafft sich ab – meistverkauftes Sachbuch seit Gründung der Bundesrepublik – und die Studien der Friedrich Ebert Stiftung seit 2006 machen deutlich, dass in noch zu vielen Köpfen der Geist der Ungleichwertigkeit herumschwirrt und Antisemitismus nahtlos übergeht in Islamophobie. Seit Jahren geben die muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern diesem Problem eine Stimme. Als Verfassungspatrioten machen sie sich für den Geist des Grundgesetzes stark und ernten dafür Unverständnis ("Geht doch weg, wenn es euch hier nicht passt!"), Verleumdung ("Opfermentalität") oder gar Feindseligkeit ("Den Muslimen muss man die Grenzen aufzeigen!"). Die alteingesessene Bevölkerung erwartet von der muslimischen Minderheit Zurückhaltung und ein besonderes Wohlverhalten gegenüber der Mehrheit. Nur stille Muslime sind gute Muslime. Würden die deutschen Bürgerinnen und Bürger muslimischen Glaubens dem Folge leisten, würden sie eher artigen Schoßhündchen als vollwertigen Staatsbürgern ähneln. Dabei ist es ihr Recht als Bürger und zugleich Angehörige einer religiösen Minderheit, die volles Bürgerrecht im Staat hat, Kritik an Missständen in Staat und Gesellschaft zu üben. Wer dieses Recht den Muslimen abspricht, der betrachtet sie nicht als Bürger, bestenfalls als unliebsame Gäste, mehr noch als Gastarbeiter, die sich gefälligst unterwürfig zu verhalten haben. Wer nicht erkennt, dass über 200 Anschläge auf Moscheen, öffentliche Beschimpfungen, Anfeindungen und Übergriffe insbesondere gegenüber muslimischen Frauen, das Gedeihen von allerlei rassistischer Organisationen (Ku-Klux-Klan in Baden-Württemberg) bis hin zu rechten Terrororganisationen wie dem Nationalsozialistischen Untergrund samt den bis heute nicht geklärten Verstrickungen von Polizei und insbesondere Verfassungsschutzämtern ein Problem sind, ist mit Blindheit oder Selbstgefälligkeit geschlagen. Deutschland hat ein sehr ernstes Problem. Dieses Problem ist nach dem Holocaust die abermalige Begegnung mit einer religiös sichtbaren kulturell eigenständigen Minderheit.
Betrachten wir beispielsweise die Identitäre Bewegung – eine kuriose Erscheinung unserer Tage. Überfordert durch die Globalisierung, den weggeschwemmten traditionellen Lebensformen und der Begegnung mit den neuen zugewanderten Deutschen waren ihre Anhänger unfähig, eine nach vorne gerichtete Identität zu entwerfen. Stattdessen suchten sie Halt in ewig gestrigen Ansichten. Um jedoch selber nicht als rechts zu erscheinen, kaschierte man die eigene Gesinnung, indem man sich als national betrachtet. Das Grundgesetz legt man sich dann auch in fundamentalistischer Manier so zurecht, dass es der eigenen Weltanschauung entspricht. Grundgesetzkommentare und Urteile des Bundesverfassungsgericht dreist ignorierend wird der Volksbegriff in der Verfassung ethnisch gedeutet, obwohl jeder Grundgesetzkundige weiß, dass Volk die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger meint, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und keine ethnische Konnotation hat. Im nächsten hanebüchenen Schritt verweisen Mitglieder der Identitären Bewegung auf Artikel 20 Absatz 4, der das Widerstandsrecht gegen jene beinhaltet, die die verfassungsmäßige Ordnung aufheben wollen. Nun wird weiter argumentiert, dass sowohl Juden und Muslime daraufhin arbeiteten, ihr religiöses Recht, die Halacha und die Schari’a, in Deutschland einzuführen, um das Grundgesetz auszuhebeln. Ergo müsse Artikel 20 Absatz 4 gegen Juden und Muslime ausgerufen werden. Stimmungsmache dieser Art führt zu einer zunehmenden Akzeptanz von Gewalt insbesondere gegen Muslime hierzulande. Vertreter der Identitären Bewegung oder Politically Incorrect mögen sich zwar gerne auf das Grundgesetz beziehen, aber eigentlich möchten sie lediglich die Lieblingsbeschäftigung ihrer geistigen Vorfahren wieder etablieren: das Töten.
Die Wurzeln dieser Überforderung mit sichtbaren Minderheiten hängt mit der deutschen Geschichte zusammen. Denn bis zur Reichseinigung 1871 konnte niemand so genau sagen, was eigentlich der Deutsche ist. Es gab ja bis dahin kein Deutschland, sondern nur ein Römisches Reich, zu dem auch Italien, Böhmen, Ostfrankreich, die Beneluxländer, die Schweiz und Österreich gehörte. Die Deutschen unterschieden sich also von den anderen Nationen darin, dass sie keine Staatsnation waren. Doch was waren sie dann? Was konnten sie dann sein? Und so gelangte man zu dem Schluss, man sei eine Gemeinschaft der Sprache, der Kultur und der Dichtung. Die Deutschen wurden zur Kultur-Nation, ein Volk der Dichter und Denker. Ganz anders die Franzosen und Engländer, die Nation politisch definierten, gleich woher jemand stammte oder welche Sprache er sprach. Dagegen verstanden die Deutschen sich als Schicksalsgemeinschaft, in die man hineingeboren wird. Dieser ethnisch-sprachliche Nationalbegriff stellte dann das Kernproblem im Umgang mit dem Judentum und heute im Umgang mit dem Islam dar. Es gilt, den Begriff Nation weiterzudenken. Deutscher ist, wer sich zum Grundgesetz bekennt. Deutscher zu sein, bedeutet nicht Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sein, sondern ist ein willentlicher Zusammenschluss von Menschen, ähnlich einer Clubmitgliedschaft, und die Clubregeln sind das Grundgesetz.
Solange dieser Wandel sich nicht vollzieht, dient der Begriff Nation von Generation zu Generation der Ausgrenzung von Minderheiten. Deshalb ist es richtig, wenn muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger sich eben nicht wie kleinlaute Bürger zweiter Klasse benehmen, sondern selbstbewusst, mutig, stolz und laut die Mauern der Ungerechtigkeit zu Fall bringen. Als Nation können wir anhand dieser Probe unseres Grundgesetzes nur wachsen und zu einem Miteinander gelangen, das auf gegenseitiger Achtung aufgebaut ist.
Der Islam- und Politikwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza wird das Projekt "Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund" mit wöchentlich erscheinenden Aufsätzen redaktionell begleiten und dazu beitragen, das im Internet eine hoffentlich rege Diskussion entsteht. Dadurch soll Muslimen, insbesondere Jugendlichen in den Moscheen, unser republikanisch-demokratisches Staatswesen näher gebracht werden. |
Muhammad Sameer Murtaza |
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