Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund: Artikel 15 |
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Artikel 15 - Die Sozialisierung
Wer im Grundgesetz etwas zur wirtschaftspolitischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland nachschlagen will, wird verdutzt feststellen, dass das Grundgesetz hierüber schweigt bzw. sich neutral verhält.
Selbst die Errungenschaft der sozialen Marktwirtschaft ist im Grundgesetz nicht verankert und somit nicht garantiert. Folglich steht es jeder Bundesregierung zu, die wirtschaftspolitische Ausrichtung der Bundesrepublik gravierend zu verändern.
Bedeutet dies dann folglich, dass vom Sozialismus bis zum entfesselten neoliberalen Kapitalismus alles möglich ist? Nein! Dass Grundgesetz stellt eine Barriere für den Sozialismus dar, da es am Eigentumsrecht festhält (Artikel 14 Absatz 1). Die in Artikel 15 abgehandelte Enteignung ist keine grundsätzliche, sondern nur eine punktuell ansetzende:
Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.
Somit ist Artikel 15 eine Sperre für eine sozialistische Wirtschaftsordnung. Im gleichen Maße stellt Artikel 14 Absatz 2 eine Hindernis für einen Raubtier- und Heuschreckenkapitalismus dar, da die mit dem Eigentum verknüpfte soziale Verantwortung betont wird:
2. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Hieraus kann gefolgert werden, dass es kein marktkonformes Grundgesetz gibt, sondern nur einen Grundgesetz konformen Markt geben darf. Hieran ist jede Bundesregierung gebunden.
Dennoch ergibt sich die spannende Frage, weshalb sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes in einer so bedeutenden Angelegenheit, wie der wirtschaftspolitischen Ausrichtung Deutschlands, zu Neutralität verpflichtet haben. Es darf nicht vergessen werden, dass die Mitglieder des Parlamentarischen Rates zugleich Parteipolitiker mit unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Vorstellungen waren. Zwischen den bürgerlichen Parteien und der SPD klaffte in diesem Punkt ein unüberwindbarer Gegensatz, so dass sich eine verfassungsrechtliche Festlegung der einen oder anderen Position ausschloss. Doch was nun? Politik ist selten die 100-prozentige Durchsetzung der eigenen Position, sondern in der Regel die Bereitschaft mit anderen einen Kompromiss auszuhandeln, in denen sich zumindest ein Teil des eigenen Standpunktes wiederfindet. Oberste Maxime muss dabei das Wohl der Allgemeinheit sein, nicht die Parteilinie. Genau dies erklärt auch die Offenheit des Grundgesetzes in dieser Sachfrage und das Vorhandensein von Artikel 14 und 15, in denen sich die beiden politischen Lager wiederfanden.
Wenden wir uns nun dem Artikel inhaltlich zu. Er gibt dem Gesetzgeber die Möglichkeit zu einer punktuellen Vergesellschaftlichung von „Grund und Boden, Naturschätze[n] und Produktionsmittel[n]“. Es ist wichtig sich in Erinnerung zu rufen, dass diese Art der Sozialisierung, d.h. die Vergesellschaftlichung nicht mit Verstaatlichung gleichgesetzt werden darf. Ersteres stellt die Fortführung des Enteigneten im Sinne des Gemeinwohls zur Deckung eines gesellschaftlichen Bedarfs dar. Eine Gewinnorientierung steht hierbei überhaupt nicht im Vordergrund. Bei der Verstaatlichung, die flächendeckend sein kann, verfolgt der Staat dagegen weiterhin ein Gewinnstreben zwecks einer gesellschaftlichen Veränderung mittels Umverteilung.
Auf diese Unterscheidung legte der Parlamentarische Rat großen Wert, weshalb auch erläutert wird, wie das Enteignete weitergeführt werden soll, nämlich in Formen von „Gemeinwirtschaft“. Bei dem Wort handelt es sich im Wesentlichen um einen Unterscheidungsbegriff zur gewinnstrebenden Marktwirtschaft.
Dennoch, die Vergesellschaftlichung stellt einen erheblichen Eingriff in das Eigentumsrecht dar, so dass dieser eines „Gesetz[es], das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt“ bedarf. Hinsichtlich der Entschädigung verweist der Artikel dann auf die Regelung in Artikel 14 Absatz 3.
Die Vergesellschaftlichung stellt lediglich eine Möglichkeit dar, das Grundgesetz ordnet sie nicht an. Bis zum heutigen Tag gab es in der Bundesrepublik keinen einzigen Fall, wo Artikel 15 zur Anwendung kam. Ist er also bloß ein Verfassungsfossil, dessen man sich entledigen kann? Keineswegs! Seine Bedeutung als Abwehrrecht gegen Eigentumseingriffe seitens des Staates und der Etablierung einer sozialistischen Wirtschaftsordnung bleibt bestehen. Gemeinsam mit Artikel 14 trägt er zu einer wirtschaftsfreundlichen Ausrichtung der Bundesrepublik bei ohne dass das Allgemeinwohl aus den Augen verloren wird.
Der Islam- und Politikwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza wird das Projekt "Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund" mit wöchentlich erscheinenden Aufsätzen redaktionell begleiten und dazu beitragen, das im Internet eine hoffentlich rege Diskussion entsteht. Dadurch soll Muslimen, insbesondere Jugendlichen in den Moscheen, unser republikanisch-demokratisches Staatswesen näher gebracht werden. |
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