Artikel Montag, 16.11.2009 |  Drucken

Nur säkulare Gesellschaften können demokratisch sein?

Der derzeit an der Georgetown University lehrende Wissenschafter gibt uns auf 120 Seiten in drei Kapiteln einen Überblick über die tiefgehende Problematik, die dieses Vorurteil nährt. Im ersten Kapitel veranschaulicht Casanova, warum Europa ein Problem mit der Religion hat. So ist die große Erzählung der Trennung von Politik und Religion als Errungenschaft säkularer westlicher Modernität für Casanova nichts weiter als ein historischer Mythos. Denn mit dem Ende der Glaubenskriege kam nicht die Säkularität als Vorbedingung für Demokratie sondern der moderne, konfessionelle, absolutistische Territorialstaat.

Weiters zeige die Geschichte, dass Säkularisierung und Demokratie nicht immer Hand in Hand gehen. Die Schrecken des Holocaust, der bolschewistische Terror und Hiroshima sind alles Produkte moderner, säkularer Ideologien. Auch sei die normative Vorstellung der Trennung von Religion und Politik in den westeuropäischen Demokratien eben nur eine Norm, nicht aber Realität.

Das zweite Kapitel analysiert die konstatierten Ähnlichkeiten zwischen dem alten Diskurs über den Katholizismus von Mitte des 19.Jahrhunderts bis zur Mitte des 20.Jahrhunderts mit dem zeitgenössischen Diskurs über den Islam. Beide Diskurse würde vier Parallelen aufzeigen: (1) die Unterscheidung zwischen "zivilisierter" und "barbarischer" Religion, die gegen die Aufklärung und Demokratie ist, (2) die Nichtassimilierbarkeit von ImmigrantInnen beider Religionen, (3) die Unterstellung einer Zugehörigkeit zu einer transnationalen Gemeinschaft (Papst, ummah) und (4) die Kritik an patriarchalischen Strukturen in der jeweiligen Religion.

Nach Casanova wurde die protestantisch-katholische Kluft mit drei Vorgängen geschlossen: (1) dem Militärbündnis der NATO, die harmonische Beziehungen zwischen Rom und Washington voraussetzte, (2) das Projekt der Europäischen Einheit und ein Schulterschluss des Westens gegen den äußeren Feind des Kommunismus und (3) der Zweite Va tikanische Konzil, wodurch der traditionelle Zwangscharakter der Katholischen Kirche abgelegt und die Trennung von Staat und Kirche akzeptiert wurde.

Muslimische Moderne

Ein fundamentaler Unterschied zwischen Islam und Katholizismus sei aber jener, dass Ersterer stark heterogen sei, Zweiterer eine zentralisierte Struktur aufweise. Aber das führt nach Casanova nur zu einem Szenario: Dass es neben vielen westlichen Modernen auch viele muslimische Modernen geben wird.

Casanova geht es dabei nicht um einen systematischen und substantiellen Vergleich beider Diskurse, sondern Parallelen aufzuzeigen und darzustellen, dass die Antworten der verschiedenen muslimischen AkteurInnen heute als Versuche zu werten sind, ein muslimische Versionen der Moderne zu kreieren. Casanova führt diesen Gedanken am Beispiel der Geschlechterfrage weiter aus.

Im dritten und letzten Kapitel teilt er die Theorie der Säkularisierung in drei Komponenten – Theorie der institutionellen Differenzierung, des fortschreitenden Niedergangs religiöser Überzeugungen und der Privatisierung von Religion – ein, um diese jeweils gesondert zu betrachten und erstere, die sich am hartnäckigsten hält, kritisch zu hinterfragen.

Zum Nachdenken...

Dabei zeigt Casanova die Dialektik zwischen dem Säkularen und dem Profanen auf und zeichnet die Entwicklung der beiden Begriffe im westeuropäischen Christentum nach und welchen unterschiedlichen Lauf die Entwicklung in den USA und in Europa gemacht hat. Er warnt vor einer eurozentristischen Sicht, die eine Universalisierung der europäischen Erfahrungen unternimmt, wie auch vor einer Essentialisierung fundamentalistischer Bewegungen, die ebenso vielfältig sind wie die miteinander konkurrierenden Säkularismen. Casanova sieht eine "Globalisierung der Weltreligionen", die erstmals die Gelegenheit biete, "wahrhaft eine Weltreligion zu werden".

Diese "Globalisierung der Weltreligionen" bedeutet für Casanova eine Transformierung und Neudefinition dieser auf Basis eines wechselwirksamen Prozesses einer partikularistischen Differenzierung bei universalistischen Ansprüchen und gleichzeitiger gegenseitiger Anerkennung.

Durch diese Globalisierung, die an sich nicht neu ist aber neuartig darin, dass sie alle Religionen global und gleichzeitig betrifft, würden die Weltreligionen erstmals deterritorialisierte, globale, imaginäre Weltgemeinschaften bilden können. Diese Gemeinschaften konkurrieren untereinander ebenso wie mit den säkular imaginierten Gemeinschaften. Und dieser dialektische Prozess bringe eine Profanisierung der Religion wie auch eine Sakralisierung der säkularen Sphäre mit sich. Eine kritische und lesenswerte Lektüre, die mit angenommenen Selbstverständlichkeiten aufräumt und zum Denken anregt!

José Casanova: Europas Angst vor der Religion. Berlin University Press. Mai 2009

Quelle:http://www.kismetonline.at (siehe auch unterer link)



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