Artikel Mittwoch, 27.04.2016 |  Drucken

Marokko als Modell für ein islamisches Gemeinwesen mit gesellschaftspolitischem Reformpotential

von Dr. Rachid Boutayeb

Islamismus und Islamischer Fundamentalismus sind im gegenwärtigen deutschen Mediendiskurs Termini, die als vermeintliche Evidenz für eine Rückständigkeit der Islamischen Welt gegenüber dem Westen in der soziopolitischen Entwicklung herhalten müssen. Wenn derartige Phänomene in einem Land in der unmittelbaren Nachbarschaft zu Europa bekannt werden, assoziiert man sie zugleich mit einem Bedrohungspotential für die abendländische Zivilisation.

In seinem Buch „Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas – Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität“ versucht Mohammed Khallouk die Bandbreite an Strömungen und Einstellungen darzulegen, die mit diesen Begriffen verbunden sind und insbesondere die Missverständnisse auszuräumen, die sich aus der Übertragung der im westlich-christlichen Kontext entstandenen Bezeichnung „Fundamentalismus“ auf gegenwärtige Strömungen im Islam ergeben. Anhand Historie und politökonomischer Gegenwart demonstriert er anschließend, welche Gefahren, möglicherweise aber auch Chancen für Marokko und seine politökonomische Kooperation mit Europa daraus erwachsen.

In der aktuell erschienen zweiten Auflage des Buches bezieht Khallouk die jüngste politische Entwicklung seit dem sogenannten „Arabischen Frühling“ in und außerhalb des Königreichs im westlichen Maghreb in seine Analyse mit ein. Zeichnet das Exempel Marokko bereits in hervorragender Weise die Heterogenität an Strömungen und Einstellungen nach, die allgemein unter Islamismus und Islamischer Fundamentalismus subsummiert werden, verdeutlicht die Abweichung der marokkanischen Entwicklung von jener der meisten anderen Arabischen Staaten in der jüngsten Zeit - gerade auch im Hinblick auf die Aktivität von Islamisten, dass Verallgemeinerungen in der politischen und wissenschaftlichen Begegnung zu vermeiden sind.

Werden die Existenz von radikalen, gewaltbereiten Islamisten und ihre Beteiligung an Kriegen und Gewalttaten in und außerhalb der Islamischen Welt vielfach als Belege der These herangezogen, die Religion müsse aus dem politischen System generell herausgehalten werden, und dienen westlichen Eliten wie arabischen Diktatoren sogar bisweilen als Rechtfertigung für die eigene Anwendung repressiver Methoden, stellt Khallouk anhand des „Marokkanischen Modells“ heraus, wie Islamisten in Verantwortungspositionen sogar zur Demokratisierung und Reformierung eines Gemeinwesens beitragen können.

Ohne die Naivität zu besitzen, gemäßigte Islamisten in Regierungspositionen würden radikalen gewaltbefürwortenden Islamismus und rückwärtsgewandtes Denken in der Islamischen Welt vollständig auszuräumen in der Lage sein, dient Khallouks Darstellung der im regionalen Vergleich als „vorbildlich“ beschriebenen Situation Marokkos Verantwortungsträgern dort wie in Europa doch als Anschauungsmaterial, dass Islamisten und säkular ausgerichtete politische Akteure im Sinne eines gemeinsam beschriebenen Fortschrittsziels zu kooperieren in der Lage sein können.
Voraussetzung dafür sei zum einen die Akzeptanz von Pluralismus und Gewaltenteilung nach westlichen Vorbildern, zum anderen aber die Orientierung am kulturellregiösen Fundament der Nation, das zweifellos im Islam liege.

Zwar ist das Bewusstsein, dass Marokko als auf Jahrhunderte lange präkoloniale Tradition sich stützende Dynastie hier Voraussetzungen besitzt, die andere Arabische und Islamische Staaten, die sich in ihren Grenzen weitgehend als Konstruktionen europäischer Kolonialmächte erweisen, nicht besitzen, stets vorhanden. Dennoch gelingt es Khallouk, die zweifelsohne mit Islamischem Fundamentalismus verbundene Gefahr für den Westen wie für die Islamische Welt als beherrschbar und in der Einbeziehung bekennender Islamisten in die pragmatische, an islamischen Werten orientierte Bewältigung von Alltagsproblemen als überwindbar zu skizzieren.

Mohammed Khallouk: Islamischer Fundamentalismus vor den Toren Europas - Marokko zwischen Rückfall ins Mittelalter und westlicher Modernität

2. Auflage

Springer VS, Wiesbaden 2016

ISBN: 9783658120481

Preis: 39,99 EUR



Ähnliche Artikel

» ZMD Generalsekretär Abdassamad El Yazidi nimmt zum zweiten Mal an der Internationalen Sufi Konferenz für Spiritualität in Madagh / Marokko teil
» Jüdische Kulturgeschichte in der arabischen Welt? Von Mohammed Khallouk
» Die Wurzeln des Baumes sind in Afrika zu Hause, die Äste ragen nach Europa
» Neues Abraham-Forum gegründet - Interrreligiös und International
» Partei „Islamische Gerechtigkeit und Entwicklung“ siegt

Wollen Sie einen
Kommentar oder Artikel dazu schreiben?
Unterstützen
Sie islam.de
Diesen Artikel bookmarken:

Twitter Facebook MySpace deli.cio.us Digg Folkd Google Bookmarks
Linkarena Mister Wong Newsvine reddit StumbleUpon Windows Live Yahoo! Bookmarks Yigg
Diesen Artikel weiterempfehlen:

Anzeige

Hintergrund/Debatte

Bochum ehrt Ahmed Aweimer zum 70. Geburtstag
...mehr

Aiman Mazyek kommentiert das Verbot der Imam Ali Moschee: "Blaue Moschee - Islamisches Zentrum in Hamburg
...mehr

Medienanalyse: Rassismus in Medien, Recht und Beratung
...mehr

Jahresbericht des Deutschen Instituts für Menschenrechte: Jeder Mensch möchte in Würde leben - Für viele Menschen bleiben diese Wünsche unerfüllt – auch in Deutschland
...mehr

Kalifat, Scharia-Polizei und Propagandisten - Von Aiman Mazyek
...mehr

Alle Debattenbeiträge...

Die Pilgerfahrt

Die Pilgerfahrt (Hadj) -  exklusive Zusammenstellung Dr. Nadeem Elyas

88 Seiten mit Bildern, Hadithen, Quran Zitaten und Erläuterungen

Termine

Islamische Feiertage
Islamische Feiertage 2019 - 2027

Tv-Tipps
aktuelle Tipps zum TV-Programm

Gebetszeiten
Die Gebetszeiten zu Ihrer Stadt im Jahresplan

Der Koran – 1400 Jahre, aktuell und mitten im Leben

Marwa El-Sherbini: 1977 bis 2009