Artikel Mittwoch, 02.01.2019 |  Drucken


"Für Sie" Interview mit der stellvertretenden Vorsitzenden des ZMD Nurhan Soykan - WARUM ICH GLAUBE

Die GRETCHENFRAGE stellten sich Miriam Meißner, Nurhan Soykan, Alisa Bach und Petra Bahr.

Sind religiöse Traditionen im Wandel? Was bedeutet Glauben? Und wie einig können sich eine Protestantin, eine Jüdin und eine Muslima sein? Interview von Miriam Meissner

Bald ist Weihnachten – das bedeutet für viele Menschen, religiöse Traditionen zu pflegen. Wir in der Redaktion fragten uns, ob Menschen in Zeiten, in denen die Welt gefühlt in Aufruhr ist, da rüber hinaus wieder vermehrt Halt und Antworten im Glauben suchen. Um das herauszufinden, haben wir drei religiöse Frauen an einen Tisch gebracht: Regionalbischöfin Dr. Petra Bahr (52), Nurhan Soykan (48) vom Zentralrat der Muslime in Deutschland und ein Gründungsmitglied der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, Alisa Bach (68). Eine spannende Konstellation verschiedenster Traditionen. Dennoch ist die Atmosphäre gelöst, das Gespräch harmonisch – bis zum Schluss…

Zu Beginn erst einmal eine persönliche Frage: Was hat Sie selbst zum Glauben
geführt?

NURHAN SOYKAN Glauben ist in unserer Familie immer Teil des Lebens gewesen. Ich habe schon als Kind an die Existenz Gottes geglaubt und sie gespürt.

PETRA BAHR Das geht mir auch so. Vermutlich waren es die frühen Abendlieder meiner Eltern. Ich bin in eine religiöse Familie hineingewachsen. Was nicht heißt, dass ich mir die Religiosität meiner Vorfahren nicht auch kritisch angeeignet hätte. Das gehört zur Auseinandersetzung mit der Religion.

ALISA BACH Ich stamme aus einer säkularen jüdischen Familie. Meine Eltern waren Naziflüchtlinge. Zeit meines Lebens haben wir uns mit dem Holocaust und der Shoah beschäftigt, darüber bin ich zu dem Wunsch gekommen, das Judentum besser zu verstehen.




Haben Sie den Eindruck, dass Menschen wieder mehr Halt im Glauben suchen?

SOYKAN Ich glaube, in der heutigen Zeit braucht es eher Mut, religiös zu sein. Das ist eine Lebensform, die eigentlich mittlerweile von der Mehrheit der Gesellschaft als negativ und rückständig angesehen wird.

BAHR Ich denke auch, dass die großen religiösen Traditionen momentan in Mitleidenschaft gezogen sind, weil es kein Vertrauen mehr in Insti tutionen gibt. So haben sich Bedürfnisse auch ausgelagert, weg von den traditionell re ligiösen Gemeinschaften hin zu Themen, die man zunächst nicht vermutet. Gerade Frauen suchen sich mit Gesundheit, Wellness, Ernährung Bereiche, bei denen sie ihr Leben dann auf andere Weise als sinnvoll erfahren.

BACH Was die jüdischen Gemeinden vermitteln, ist das Gefühl der Zugehörigkeit. Da sind Leute, die Ähnliches denken und durchgemacht haben. Die religiöse Praxis gehört dazu und kann Orientierung und Halt geben, aber für die Einzelnen ist das Zugehörigkeitsgefühl in einer Minderheitensituation in Deutschland wichtig.

Es geht also auch um den Gedanken einer Gemeinschaft?

BAHR Diese Sehnsucht danach, sich in einer Religion zu Hause zu fühlen, heißt ja in der Tat ganz banal: Ich treffe da Leute, die sind wie ich. Das hat nur manchmal, jedenfalls in den Kirchen, auch seinen Preis.Denn der Anspruch, dass alle da Platz haben, die getauft sind, deckt sich nicht so richtig mit der Erfahrung. Es gibt viele, die formal dazugehören, es aber nicht so erleben. Oder die nur sehen, dass einmal die Großmutter schlecht beerdigt wird, und daraus dann schließen, dass Religion doch nichts für sie sei.

SOYKAN Im Islam gibt es ja keine Mittlerrolle, sondern nur die direkte Beziehung des Menschen zu Gott. Nur ihm und seinem eigenen Gewissen gegenüber ist man verantwortlich. Von daher würde ich sagen, dass die Gemeinschaft wichtig ist, aber das Individuelle im Vordergrund steht. Ich kann nur aus eigener Erfahrung sagen, nachdem ich angefangenhabe zu praktizieren und fünfmal am Tag bete, fühle ich mich viel freier, ausgeglichener und glücklicher. Die kleinen Problemchen, die man mit sich rumschleppt, handelt man direkt schon beim nächsten Gebet ab. So sammelt sich nicht viel an. Vielleicht ist das auch ein psychologischer Effekt, man nimmt sich die Zeit, um sich mit seiner Seele zu beschäftigen.

BAHR Ich finde, das ist ein wichtiger Punkt, weil Religiosität meistens mit Unterwerfung verbunden wird. Man müsse sich einem autoritären Gott unterordnen, irgendwelchen Regeln, die man nicht selbst erfunden hat. Aber die Sicht auf das eigene Leben ändert sich in der Tat. Was wirklich wichtig ist und was nicht, wird immer noch einmal überprüft. Das macht den Kopf einfach frei.

BACH Also ich würde nicht sagen, dass Unterwerfung unter einen totalitären Gott zur Religion gehört! BAHR Ja, aber das ist doch die Unterstellung … BACH Das Judentum gilt als die Religion mit den meisten Lebensregeln, aber letztlich muss man sich nicht unterwerfen, sondern sich mit ihnen auseinandersetzen. Das ist die Auffassung des liberalen Judentums. Es geht nicht um Gehorsam, sondern um die Beschäftigung damit, auf welche Art und Weise man leben will.




Muss Religion denn mit der Zeit gehen, sich in irgendeiner Form modernisieren?

SOYKAN Man kann nicht an den Grundprinzipien des Glaubens rütteln und versuchen, sie zu reformieren. Stattdessen gibt es unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten. Es wurden seit jeher neue Entwicklungen in die Religion hineingetragen – und das findet immer noch statt. So haben wir zum Beispiel zum Thema Organtransplantation und Sterbebegleitung unsere Theologen neu befragt. Religion ist immer im Prozess.

BAHR Ich glaube nicht, dass Religion modern sein muss in dem Sinne, dass Popmusik gespielt wird oder so. Das ist eine sehr oberflächliche Sicht. Sie muss relevant sein. Wenn die Menschen nicht den Eindruck haben, dass ihr Leben dadurch schöner und reicher wird, dann hilft auch keine Aufhübschung.

BACH Ein gutes Beispiel im Judentum, aber sicher auch im Protestantismus, ist die veränderte Rolle der Frau. Im liberalen und konservativen Judentum hat sich die Position der Frau im Laufe von 150 Jahren vollständig geändert. Einzelne Texte wurden leicht modifiziert, auch wenn sie 1000 Jahre alt sind. Heute können Frauen Kantorinnen und Rabinerinnen werden, Männer und Frauen sitzen zusammen in der Synagoge. Und so wird es uns mit anderen zeitgenössischen Themen wie beispielsweise der Umwelt auch gehen. Ich denke schon, wir bewegen uns. Lassen sich im Glauben also tatsächlich Antworten finden?

BACH Ich würde es anders sagen. Man kann ethische Grundhaltungen entwickeln. Also, wie will ich als Mensch sein? Wir gewinnen eine spirituelle Haltung zur Welt. Noch einmal zur Rolle der Frau: Hat sich diese im Islam auch gewandelt?

SOYKAN In der Zeit nach dem Propheten hat sie sich eher zum Negativen verändert. Man ist wieder in die traditionellen Rollen zurückgefallen, die vor dem Islam bestanden haben, wo Frauen keine Rechte hatten. Aber ich finde, im Augenblick haben wir eine Bewegung, die sich auf die Ursprünge konzentriert, in denen Frauen vor Männern gelehrt haben, jede ihren eigenen Nachnamen und ihr eigenes Haus besaß und unabhängig war. Sie konnte sich auch scheiden lassen. Wir müssen uns wieder darauf zurückbesinnen.

Fühlen Sie sich für Ihren Glauben auch mal kritisiert?

BACH Also, ich fühle mich nicht angegriffen, weil ich als Jüdin lebe. Ich denke, das sollte in einer pluralen Gesellschaft auch selbstverständlich sein.

SOYKAN Das wäre schön. Man spürt natürlich überall Diskriminierung und Hass. Und man wird immer auf Äußerlichkeiten angesprochen.

BACH Gut, aber auf der anderen Seite muss man auch Kritik zulassen. Nicht alles an der eigenen Tradition ist erstrebenswert. Auch wenn jemand sagt: „Ich finde es unmöglich, was ihr lehrt“, ist das keine Diskriminierung, das ist eine andere Position, mit der ich mich auseinandersetzen muss. Ich bin auch eine Vertreterin der Trennung von Staat und Religion. Die Institutionen müssen neutral gestaltet sein, damit sich alle wohlfühlen und begegnen können. Das heißt, ich bin gegen das Kopftuch im Schulunterricht oder in Gerichten – und das gilt auch für die Kippa.

BAHR Das sehe ich genauso. Damit so viele unterschiedliche Überzeugungen religiöser oder nicht religiöser Art nebeneinanderleben können, braucht der Staat einen Ruheort vor aufgeladener Symbolik.

SOYKAN Ich verstehe Neutralität so, dass der Staat allen die gleichen Chancen einräumt, unabhängig von Religion, Rasse, Herkunft. Wenn ich als Muslima also nicht die Möglichkeit habe, in einer Schule zu unterrichten, weil es ja zu meiner Glaubenspflicht gehört, das Kopftuch zu tragen, dann bedeutet das für mich faktisch ein Berufsverbot. Und die Neutralität eines Menschen hängt doch nicht von Äußerlichkeiten ab.

BACH Ich denke, die Positionen sind klar.

BAHR Es ist ja auch wichtig zu sehen, dass wir uns nicht in allem einig sind. Und ich finde, das ist ja schon gelebte Pluralität, die man aushalten muss. Haben Sie Wünsche für die Zukunft?

SOYKAN Vielfalt sollte normaler werden, und wir sollten uns nicht an Kleinigkeiten aufhalten, sondern gemeinsam auch gegen den erstarkenden Rechtspopulismus in dieser Gesellschaft zusammenhalten.

BACH Für den Dialog zwischen den Religionen wünsche ich mir mehr Ehrlichkeit und nicht das Zukleistern der Probleme, die im Zusammenleben bestehen. Und natürlich die Weiterentwicklung der vielfältigen Gesellschaft.

BAHR Ich wünsche mir, dass, wenn es in der Öffentlichkeit um Religion geht, man nicht immer nur bei den Themen Papst, Gewalt und Frauen stehen bleibt, sondern sich religiöse Fragen auch einmal selbst stellt. Zum Beispiel: Wie will ich eigentlich wirklich leben?

Das ist ein schönes Schlusswort. Ich danke Ihnen allen für das Gespräch

Quelle: FÜR SIE - https://www.fuersie.de

Interviewerin: Miriam Meissner


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