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Montag, 13.09.2021
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Rede Bundespräsident Steinmeier im Schloss Bellevue: "Wenn wir sagen, 'ihr seid hier zuhause', dann muss auch ihr Glaube in all seiner Vielfältigkeit hier eine Heimat haben"60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen: Bundespräsident Steinmeir ruft im Schloss Bellevue zu einem Perspektivwechsel beim Blick auf die Einwanderungsgesellschaft in Deutschland aufGurbet – auf Türkisch heißt das "die Fremde". Ein Wort, das für eine ganze Generation zum Synonym für Deutschland wurde, damals in den 1960er und 1970er Jahren. Der Musiker Özdemir Erdoğan besang das Lebensgefühl, das Heimweh und die Hoffnungen derer, die sich auf den Weg gemacht hatten, in einem Lied mit ebenjenem Titel, "Gurbet".In diesen Tagen jährt sich die Unterzeichnung des Anwerbeabkommens der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei zum sechzigsten Mal. Anfangs nur ein Stück Papier, eine Verabredung zweier Regierungen, die das Leben von Millionen Menschen, Türken und Deutschen, ja das Gesicht unseres Landes verändern sollte. Die Menschen, die damals kamen, diese sogenannten Gastarbeiter: Sie, ihre Kinder, Enkel und Großenkel sind heute Deutschland. Ein Deutschland ohne sie ist schlicht nicht mehr vorstellbar. Einwanderer und ihre Kinder und Enkel arbeiten heute in Fabriken genauso wie in Forschungseinrichtungen. Sie sind Künstlerinnen und Musiker, Unternehmerinnen und Impfstoffentwickler, Richterinnen und Staatsanwälte, Abgeordnete, Staatssekretärinnen oder Minister. Wenn wir auf sechzig Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen zurückschauen, dann denken wir auch an die Menschen aus Italien, aus Spanien, aus Griechenland, aus Marokko und vielen anderen Ländern – auch sie haben an diesem Land seit Jahrzehnten mitgebaut und tun es noch heute. Jene Menschen, mit denen all das begann, jene Menschen, die vor sechzig Jahren nach Deutschland kamen, sie kamen, weil wir sie eingeladen haben. Weil wir sie brauchten. Ihnen verdankt dieses Land sehr viel. Eine kluge Frau, die heute unter uns ist, sagte mir einmal: "Wir sind doch keine Gäste in einem Haus, das wir selbst mit gebaut haben!" Nicht nur das deutsche Wirtschaftswunder, nein – die Entwicklung dieser deutschen Gesellschaft war und ist maßgeblich mitgetragen von Italienern, von Griechen, von Spaniern und Türken. Frau Yonca und Herr Cetinkaya sind als Vertreter der ersten Generation von Einwanderern heute bei uns. Wir freuen uns sehr über Ihr Kommen und hoffen, später von Ihren Eindrücken und Erinnerungen zu hören. Ihnen ein herzliches Willkommen! Und auch an die Lebensleistung der Menschen aus den sogenannten Bruderstaaten der DDR, aus Kuba, aus Vietnam, aus Mosambik sollten wir heute denken – auch wenn ihr Weg über die DDR in das wiedervereinigte Deutschland ein ziemlich anderer war. Doch sie alle haben nicht nur äußerlich das Gesicht unseres Landes verändert mit dem, was ihre Hände aufgebaut haben. Sondern sie haben die deutsche Gesellschaft im Innersten verändert. Und auch sechzig Jahre danach ist es nicht zu spät, Danke zu sagen. Ich danke Ihnen – als Bürger und als Bundespräsident im Namen des ganzen Landes! Sie haben viel dazu beigetragen, dass Deutschland heute gesellschaftlich offener und vielfältiger, wirtschaftlich stärker und wohlhabender ist. Es hat in Deutschland Jahrzehnte gedauert, bis wir uns dazu bekannt haben. Deutschland als "Einwanderungsland" – das ging uns schwer über die Lippen, auch noch in den Jahren, als wir es den Zahlen nach schon lange geworden waren. Das ist nicht nur Vergangenheit. Auch in Zukunft werden wir Zuwanderinnen und Zuwanderer brauchen, Menschen, die anpacken und an der Zukunft dieses Landes mitbauen. Einwanderung wird auch zur Zukunft unseres Landes gehören, wenn wir ein starkes und wohlhabendes Land bleiben wollen. "Was kann ich in der Fremde ganz alleine tun?" "Kann ich so weit entfernt von der Liebe leben?" Wenn wir heute an jene Zeit, an jene Bilder vor sechzig Jahren erinnern, dann sehen wir aber nicht nur Hoffnung, Zuversicht, Aufbruch. Wir sehen auch Bilder, die nur schwer zu ertragen sind: die erniedrigende Leibesvisitation bei der Einstellungsuntersuchung, deutsche Amtsärzte, die mit herzloser Routine Gebisse untersuchen, durchnummerierte Menschen in Unterwäsche; wir sehen baufällige Baracken, in denen viel zu viele auf kleinstem Raum hausen mussten; entwurzelte und entkräftete Menschen, ausgezehrt von der harten Arbeit. Solche Bilder, auch der Blick auf uns selbst, bestürzen uns noch heute. Mahir Zeytinoglu kam in den 1970er Jahren nach München. Er erinnert sich: "Nicht wenige, die eigentlich Kollegen hätten sein sollen, haben uns erniedrigt, nach dem Motto: Du bist Ausländer, hol, mach, tu, los! Gastarbeiter, das waren immer auch Arbeiter zweiter Klasse." Es gab keine Sprachkurse, keine Unterstützung, keine Integrationspolitik, und zwar aus dem einfachen Grund, dass Integration schlicht nicht gewünscht war. Nach zwei Jahren sollten die Menschen wieder ihre Koffer packen. An diesen Versäumnissen änderte sich auch lange nichts, nachdem die sogenannte Rotationsregel auf ausdrücklichen Wunsch der deutschen Wirtschaft gefallen war. Es war ein langer, ein schmerzhafter Weg, bis unsere Gesellschaft viel zu spät bereit war, das Unausweichliche und Überfällige, das Richtige anzunehmen: Diese sogenannten Gastarbeiter sind weder nur Gäste noch nur Arbeitskräfte. "Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen", hat Max Frisch 1965 geschrieben. Menschen – mit Hoffnungen und Träumen. Mit dem Bedürfnis, mit ihren Liebsten beisammen zu sein. Mit dem Antrieb, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen und das Versprechen vom sozialen Aufstieg durch Arbeit und Bildung einzulösen. Viele, viele haben inzwischen eine gute Berufsausbildung gemacht oder das Abitur und dann studiert. Sie sind Wege gegangen, auf die sie stolz sind – ebenso stolz wie auf ihre Eltern oder Großeltern, jene, die damals den Anfang machten vor sechzig Jahren. Und dennoch: Noch immer unterscheiden sich die Chancen auf Bildung, auf sozialen Aufstieg – und zwar nicht nur ein bisschen, sondern um Welten. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund verlassen fünfmal häufiger die Schule ohne Abschluss als ihre Klassenkameradinnen und -kameraden ohne Migrationshintergrund. Natürlich trägt in unserer freiheitlichen Demokratie jede und jeder selbst einen Gutteil der Verantwortung für den eigenen Lebensweg: Mut und Leistungsbereitschaft gehören dazu – die ersten Gastarbeiter, an die wir heute erinnern, haben so beeindruckend viel davon gezeigt. Chancen auf Bildung und Ausbildung nicht links liegen zu lassen, gesellschaftliche Angebote zu sehen und anzunehmen – all das gehört dazu. Nur: Verschlossene Türen aufzustoßen – das ist eine Frage der gesellschaftlichen Strukturen. Wenn sechzig Jahre nach der Unterschrift auf dem Anwerbeabkommen die Kluft zwischen den Lebenschancen so groß bleibt, dann trägt auch unser Staat eine Verantwortung. Eine Verantwortung für die Versäumnisse der Vergangenheit. Aber vor allem die Verantwortung für eine bessere Zukunft. Und bitte seien wir ehrlich: Diese bessere Zukunft wird es nicht geben, solange Ausgrenzung, Vorurteile, Ressentiments den Alltag unserer Gesellschaft durchziehen. Wenn die Jobbewerbung aussortiert wird, wenn die Wohnungssuche zum Spießrutenlauf wird, nur weil man anders heißt, weil man anders aussieht. Ist das nicht eine ähnliche Geisteshaltung, die da zum Vorschein kommt, ein ähnliches Menschenbild wie vor sechzig Jahren, als man keinen Anstoß daran nahm, Menschen wie Arbeitsmaschinen zu behandeln? Mich erschüttert es, wenn Menschen mit anderer Hautfarbe, Sprache oder Religion bis heute zur Zielscheibe von Hass und Hetze werden. Wenn sie angefeindet werden, im Netz oder auf der Straße. Wir wissen doch: Das sind nicht nur Worte, sondern das ist ein Gift, das Wirkung hat. Das ist ein Gift, das immer wieder Menschen glauben macht, sie dürften im Namen eines angeblichen Volkswillens andere Menschen demütigen, bedrohen, jagen oder gar ermorden. Die niederträchtigen Morde des NSU, die Toten in Mölln und Solingen und Hanau, sie sind Opfer eines Hasses, der mitten in Deutschland, mitten in dieser Gesellschaft seine Wurzeln hat. Nach wie vor. Und deshalb sind wir alle im Angesicht dieser Opfer traurig, betroffen, auch wütend. Aber wir sind nicht ohnmächtig! Es ist die Pflicht des Staates, alle Menschen zu schützen. "Fremdenhass" ist Menschenhass. Und diesen Hass werden wir in Deutschland niemals dulden! "Wir haben vergessen zurückzukehren" heißt ein Dokumentarfilm von Fatih Akin aus dem Jahr 2001. In einer Szene steht Fatih Akins Vater Enver in der Fabrik in Hamburg, wo er sein Leben lang gearbeitet hat, und sagt ebenjenen Satz: "Wir haben vergessen zurückzukehren." Aus zwei Jahren, wie geplant, waren für Enver damals schon über 35 Jahre geworden. Das Leben kam dazwischen. Während die erste Generation vielleicht noch instinktiv zwischen der Heimat im Osten und der Fremde, gurbet, im Westen unterschied, so hatte spätestens die zweite Generation eben zwei Heimaten. Und was ist mit der dritten, der vierten Generation? Werden wir vielleicht irgendwann das Zählen der Generationen einstellen? Nicht um den Menschen ihre Wurzeln zu nehmen, sondern weil es keine Bedeutung mehr hat? Weil es keinen Unterschied macht bei der Wohnungssuche, beim Bewerbungsgespräch, in der U-Bahn? Oder ist das nur ein frommer Wunsch? Ich bin fest überzeugt: Heimat gibt es im Plural. Niemand muss seine Herkunft verleugnen, um hier zu Hause zu sein. Wenn wir heute Ihre Geschichten hören, wenn wir Ihre Lebensleistung würdigen, dann beschäftigen wir uns nicht mit "denen da", sondern mit uns selbst, mit der Bundesrepublik Deutschland, wie sie heute ist. Indem dieses Land die Geschichte der türkeistämmigen Menschen in Deutschland anerkennt, erkennen wir uns selbst: Wir haben uns, seit Sie hier sind, verändert. Die Bedeutung des Begriffes "deutsch" hat sich verändert. Deutsch zu sein, das kann heute genauso bedeuten, dass die Großeltern aus Köln oder Königsberg stammen wie aus Istanbul oder Diyarbakır. Deutsch zu sein, das meint alle, die in diesem Land von Recht und Freiheit friedlich zusammenleben wollen. Ich finde, es ist an der Zeit für diese Selbsterkenntnis, für diesen Perspektivwechsel. Wenn heute über ein Viertel der Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund hat, die meisten von ihnen hier geboren, warum zeigen wir dann überhaupt noch auf andere Menschen und sagen, "das sind Menschen mit Migrationshintergrund", als seien sie irgendwie anders, außergewöhnlich, fremder als "Wir"? Wer ist denn dieses "Wir"? Nein, meine Damen und Herren, Sie sind nicht "Menschen mit Migrationshintergrund" – wir sind ein Land mit Migrationshintergrund! Die Menschen, die in den sechzig Jahren nach dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen hierherkamen, sind sehr unterschiedlich. Sie sind Türken, Kurden, Tscherkessen, Lasen, Armenier, Christen, Sunniten, Aleviten. Sie sind eben keine homogene Gruppe. Gerade beim Thema Religion wird das besonders deutlich. Die Menschen, die aus der Türkei zu uns gekommen sind, sind gläubige Muslime ebenso wie Menschen, die jahrelang keine Moschee von innen gesehen haben. Hier in Deutschland sind sie alle frei. Frei zu glauben oder auch nicht zu glauben. Ja: Gläubige Muslime gehören zu diesem Gemeinwesen, genauso wie säkulare Zuwanderinnen und Zuwanderer. Wenn wir sagen, "ihr seid hier zuhause", dann muss auch ihr Glaube in all seiner Vielfältigkeit hier eine Heimat haben. Dazu gehört zum Beispiel die Ausbildung von Imamen oder der islamische Religionsunterricht an den Schulen. Auch deswegen sollte unser Land die religiösen Bedürfnisse der Muslime nicht nur dem Ausland überlassen. Solange aber das Bild des Islams in Deutschland von Stereotypen und Vorurteilen geprägt ist, solange die Luft dünner wird für diejenigen, die sich für den organisierten Islam in unserer demokratischen Verfasstheit einsetzen, solange Kooperationsformate abgesagt werden aus Angst vor der öffentlichen Meinung, so lange ist das "Heimatversprechen" nicht eingelöst. Musliminnen, Muslime sollen ihren Glauben in all seiner Vielfalt im Herzen unserer Gesellschaft leben können – mit und nicht gegen unsere Demokratie! Nicht weniger darf unser Anspruch sein. Ich blicke heute mit großem Respekt auf die Lebensleistung Ihrer Eltern und Großeltern und mit Bewunderung auf die vielen unterschiedlichen Wege ihrer Kinder und Kindeskinder – all die Arbeiter und Lehrerinnen, Unternehmer oder Handwerker, Filmemacher, TV-Lieblinge oder Fußballstars, ohne die unser Land nicht das wäre, was es ist. Sie alle sollen uns Ansporn sein. Ich ermuntere Sie und alle, die hier zu Hause sind: Nehmen Sie sich den Platz, der Ihnen zusteht, den Platz in der Mitte, und füllen Sie ihn aus! Gestalten Sie diese Gesellschaft mit, denn es ist Ihre Gesellschaft!
Ich freue mich nun, die beiden Gesprächspartner und die Moderatorin des heutigen Vormittags vorzustellen. Evren Zahirovic ist in Deutschland aufgewachsen und in der Türkei zu Schule gegangen. Sie kennt beide Länder und spricht darüber auch in ihrer Radiosendung auf Cosmo. Herzlich willkommen, Frau Zahirovic! Adnan Maral und ich kennen uns schon lange. Vor fünfzehn Jahren begleitete er mich mit der Ernst-Reuter-Initiative nach Istanbul. Er ist ein kultureller Vermittler zwischen beiden Ländern, vor und hinter der Kamera – und meist ganz ohne Kamera. Schön, dass Sie da sind, lieber Herr Maral, lieber Adnan! Ganz herzlich begrüße ich auch Nazan Eckes, die uns durch den heutigen Vormittag führt. Ich bin sicher, der eine oder die andere hat sie schon einmal irgendwo gesehen. Herzlichen Dank, liebe Frau Eckes, dass Sie heute schon wieder das TV-Studio mit Schloss Bellevue getauscht haben. Und nicht zuletzt begrüße ich Sie alle hier im Saal. Wir haben Sie eingeladen, weil Sie viel zu erzählen und viel zu sagen haben. Dafür werden wir nach dem Zwiegespräch ausreichend Gelegenheit haben. Haben Sie also keine Scheu und bringen Sie sich ein! Ich freue mich sehr auf die Diskussion mit Ihnen allen. Wie schön, dass Sie hier sind! |