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Donnerstag, 22.01.2015
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Gewaltlosigkeit und Friedenstheologie im Islam - Von Muhammad Sameer MurtazaGewalt. Eine Handlung, bei der ein Individuum oder eine Gruppe Über-sich-hinaus geht und sich einem anderem Individuum oder einer anderen Gruppe psychisch oder physisch aufzwängt. Der Überwältigte hat keine Wahl. Jeder Widerstand wird gebrochen. Notfalls mit der Auslöschung des Anderen. Gewalt ist eine Form von Machtausübung, bei der das Selbst des Menschen mehr Raum für sich einnimmt. Diese Ausdehnung zerreißt das Selbst aber nicht. Es verliert sich nicht. Macht ist nicht nur ein Über-sich-hinaus-gehen, sondern zugleich auch ein Bei-sich-sein, denn der Mensch behauptet sein Selbst im Konflikt (vgl. Han, Byung-Chul (2005: 66-67)).Je mehr Macht ein Mensch ansammelt, je mehr Raum er mit seinem Selbst besetzt, desto unabhängiger, desto freier ist er. Macht bedeutet, der Mensch darf alles tun, was er will. Er darf andere verletzen, er darf andere unterdrücken, er darf andere töten. Gleichwohl wir Menschen auf dem Mond waren, gleichwohl wir Menschen punktgenau in die Erbinformationen eingreifen können, gilt noch immer die Aussage des römischen Komödiendichters Titus Maccius Plautus (gest. 184 v. Chr.): "Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen". Es ist Macht, - wenn jüdische Siedler das Existenzrecht der Palästinenser, Muslime und Christen übrigens, negieren, ihren Lebensraum rauben, um das biblische Land Israel (Eretz Israel) wiederzuerlangen (siehe dazu ausführlich: Murtaza, Muhammad Sameer (2013)). - wenn jüdische Siedler in Israel und Restpälästina Anschläge auf christliche Einrichtungen verüben (vgl. Domradio.de (2014)). - wenn muslimische Kämpfer des IS Menschen christlichen, jesidischen oder muslimisch-schiitischen Glaubens verfolgen, kreuzigen, köpfen, um ein Kalifat zu errichten. - wenn die nigerianische Gesellschaft hinnehmen muss, dass die islamisch extremistische Gruppe Boko Haram 200 Mädchen versklavt, verkauft und verheiratet. - wenn Buddhisten in Myanmar 70.000 Menschen wegen ihres muslimischen Glaubens vertreiben, um die Vormachtstellung des Buddhismus im Lande zu sichern (vgl. Blume, Georg (2013)). - wenn in Indien Hindus regelmäßig Christen verfolgen, weil die Ausbreitung des Christentums den Weiterbestand des Kastensystems gefährdet (vgl. Buchsteiner, Jochen (2008)). - wenn US-Soldaten im irakischen Gefängnis Abu Ghraib im Rahmen ihrer demokratischen Zivilisierungsmission die ihnen anvertrauten Häftlinge demütigen, foltern, sie an einer Hundeleine durch das Gefängnis zerren und zwingen nackt eine menschliche Pyramide zu bilden. - wenn die pakistanische Gesellschaft hinnehmen muss, dass unter dem Friedensnobelpreisträger Präsident Barack Obama die Drohnenangriffe eskaliert sind und seit 2004 den Tod von über 300 unschuldiger Kinder, sogenannte Kollateralschäden, verursacht haben (vgl. Spiegel Online (2014)). - wenn Russland die Krim und Teile der Ostukraine im Namen Neurußlands annektiert, 4.500 Menschen in unserer unmittelbaren kontinentalen Nachbarschaft sterben und eine halbe Million Menschen auf der Flucht sind. - wenn US-Soldaten und IS-Kämpfer gleichermaßen ihre Selbsterhöhung mittels Fotos oder Youtube-Videos festhalten. Sie zelebrieren ihre Macht. Genießen den Schrecken und die Abscheu, die sie in unsere Herzen werfen. Finden Erregung an diesem Machtrausch. Die Ausübung dieser Macht teilt die Menschen in Machthaber und Machtunterworfene. Der Machthaber setzt sein Wollen gegen das Wollen eines Anderen durch. Dem Machtunterworfenen bleibt in seiner Ohnmacht und Unfreiheit nichts weiter übrig, als dies äußerlich hinzunehmen. Diese Macht bringt den Raubtiermenschen hervor. Er vermag nichts anderes als zu erobern, zu erzwingen, zu erdrücken. Seine Macht ist eine ganz und gar vermittlungsarme Macht (vgl. Han, Byung-Chul (2005: 68-69)). Macht, so der Politikwissenschaftler Hans J. Morgenthau (gest. 1980) ist die Lust des Menschen über andere Menschen zu herrschen (vgl. Krell, Gert (2009: 147)). Menschen bekennen sich aber nicht zu dieser Lust. Menschen bekennen sich zur Religion, zu einer Zivilisierungsmission oder zu einem Nationalismus, um ihr gewalttätiges Handeln zu legitimieren. Alle diese alten Rechtfertigungsstrategien werden auch im 21. Jahrhundert recycelt, so wie dies im 22. Jahrhundert, im 23. Jahrhundert und den folgenden Jahrhunderten immer wieder geschehen wird. Aber sie verschleiern nicht mehr, dass in erster Linie das Problem nicht bei Religionen, Weltanschauungen oder politischen Konzepten liegt, sondern in uns. Menschen bedürfen Rechtfertigungsstrategien nicht nur anderen gegenüber, sondern auch sich selbst gegenüber. Beinahe so, als würde etwas in uns mahnend auf uns einwirken. Etwas, das tiefer geht als bloße gesellschaftliche Konventionen. Wenn Religionen nur ein Friedenspotential besäßen, so würde ein Gewalttäter scheitern, sein Handeln mit Religion zu legitimieren. Doch ein Gewalttäter jüdischen Glaubens kann mit der biblischen Landnahme die Vertreibung der Palästinenser begründen. Begründen kann ein christlicher Gewalttäter seine Handlungen mit dem Schwertvers in Matthäus 10,34-37 und ein muslimischer Gewalttäter seine Taten mit dem Schwertvers in Sure 9, Vers 5. Religionen besitzen ein Gewaltpotential, – aber sie besitzen ebenso ein Friedenspotential. Welches dieser beiden Potentiale das Universale und welches das Partikuläre ist, liegt in der Entscheidungsgewalt der Religionsgemeinschaften. Nach 3.000 Jahren Judentum, 2.000 Jahren Christentum und 1.400 Jahren Islam wird aber ersichtlich, dass das Gewaltpotential nicht das Universale ist. Gewaltsysteme sind nicht langlebig. Die Geschichte der drei abrahamischen Religionen ist keine durchgehende Geschichte von Mördern und Verbrechern, sondern eine Geschichte, in der das Wesen dieser drei Religionen wiederholt pervertiert wurde, aber trotz allen Unwesens das Wesen immer wieder durchbricht. Wenn zum Wesen von Religion das Primat des Friedenspotentials gehört, dann muss jeglicher Versuch das Gewaltpotential zum Primat von Religion zu machen als Unwesen, als das pervertierte Wesen der Religion verurteilt, dekonstruiert und das Wesen wiederhergestellt werden. Erneuerung und Reform gehören zur Identität einer jeden Religionsgemeinschaft – auch der muslimischen Religionsgemeinschaft. Islam. In der arabischen, wie in jeder semitischen Sprache, sind es stets die Konsonanten, die den Sinn eines Wortes bestimmen. Das Wort Islam besitzt die Konsonanten s-l-m. Diese Wurzel bildet Wörter wie salima, was wohlbehalten, unversehrt, sicher sein und frei sein bedeutet. Oder sallama, was mit sich ergeben, sich unterwerfen übersetzt werden kann. Ebenso salām, was Unversehrt, Wohlfahrt, Heil, Friede, Sicherheit heißt. Von seinem Begriffsinhalt her, hat das Wort Islam also etwas mit Sicherheit, Freiheit, Ergebenheit und Frieden gemeinsam. Wir merken, die gängige deutsche Übersetzung sich unterwerfen, sich hingeben (nämlich Gott) greift zu kurz. Hier werden weitere Aspekte des Begriffsinhaltes unterschlagen. Der Gelehrte Ahmad von Denffer überträgt daher Islam in das Deutsche mit Frieden machen (vgl. Denffer, Ahmad von; Al-Mahgary, Muhammad Ali (1995: 5)). Zwar greift auch diese Übertragung zu kurz, aber sie unterstreicht das dieser Religion innewohnende Ziel. Meine eigene Übersetzung lautet: aktive Ergebung und Hingabe gegenüber Gott, um Frieden zu finden und Frieden zu machen. Der Muslim, auch hier haben wir die drei Konsonanten s-l-m, ist demnach derjenige, der Frieden macht, so Denffer (vgl. ebda 6), oder in meiner Übertragung jener, der sich aktiv Gott ergibt, sich Ihm hingibt, um Frieden zu finden und Frieden zu machen. Frieden machen, so Denffer, erstreckt sich auf vier Ebenen: a) Frieden mit Gott, b) Frieden mit sich selbst, c) Frieden mit den Mitmenschen und d) Frieden mit der Schöpfung. (ebd.) Frieden ist jedoch ein Abstraktum hinter dem sich vieles verstecken kann. Verstecken kann sich hinter diesem Wort auch das Grauen einer gleichgeschalteten Gesellschaft unter einem Führer, einer Partei, einer Ideologie oder einer Religion. Frieden bedeutet dann künstliche Stagnation. Frieden rechtfertigt dann, dass um des Friedenswillen zum gutmeinenden Zwang gegen Abweichler aus der Herde gegriffen wird. Frieden ist dann nur eine weitere Maske für schrankenlose und barbarische Macht. Was bedeutet also das Wort Frieden für einen Muslim? Um dies in Erfahrung zu bringen, wendet er sich den beiden für ihn maßgebenden Quellen zu: dem Qurʾān, Gottes offenbartes Wort, und dem Propheten Muhammad, der das Wort Gottes geschichtlich realisierte. Offenbarung und Prophet sind für die Muslime zwei untrennbar konkret Maßgebende. Hier begegnet der Muslim aber bereits einem Problem. Wie geht man rechtens mit dem Gotteswort und dem Prophetenwort um. Literalistisch oder Interpretatorisch? Beides sind legitime Lesarten, doch die Geschichte der muslimischen Religionsgemeinschaft – und nicht nur ihre – hat wiederholt deutlich gemacht, dass ein wortwörtliches Verständnis der Offenbarung die Entstehung des Unwesens begünstigt. Wie das? Der Qurʾān realisierte sich im Laufe von 23 Jahren in der menschlichen Geschichte. In der Stammesgesellschaft Arabiens im 7. Jahrhundert. Universale Werte mussten Rücksicht auf die arabische Sprache, auf die arabische Kultur, die arabische Denkweise und die sozio-ökonomische Struktur Arabiens nehmen und dennoch das Konkrete so überstrahlen, dass spätere Generationen diese Werte unabhängig von all diesen Variablen extrahieren können. Eine literalistische Lesart der Offenbarung überliest all dies. Dieser allzu bequeme Lesemodus verklärt die Vergangenheit zu einem Goldenen Zeitalter, das wiederhergestellt werden muss. Dieser allzu gemütliche Lesemodus gebiert Archäologen, deren geistigen Kräfte rückwärts, nicht vorwärts, gerichtet sind. Dieser konsumentenfreundliche Lesemodus verkennt, dass alles Leben Wandel ist. Das vernunftlose Übertragen von Regeln, die in Zusammenhang mit einer bestimmten sozio-ökonomischen Struktur stehen, auf einen ganz anderen sozio-ökonomischen Kontext, stellt nicht nur ein Überlesen der offenbarten universalen Werte dar, sondern schmiedet das erste Glied für die schwere Kette religiöser Tyrannei, die am Ende alle Fesseln wird. Wir können diese Kette einschmelzen, wenn wir die Offenbarung als ein anvertrautes Gut verstehen. Rechtleitung in ihr findet der Mensch nicht durch eine massenkompatible Lesekultur des Findens, sondern nur durch eine wissenschaftliche Lesekultur des Suchens. Eine wissenschaftliche Herangehensweise kann niemals und will auch niemals einen Wahrheitsanspruch auf die eigene Interpretation erheben, da der Wissenschaftler, sei es ein Theologe, ein Philosoph, ein Rechtsgelehrter, ein Mystiker, um die menschliche Erkenntniskraft, aber auch um ihre Erkenntnisgrenzen weiß. Interpretation ist Teil des religiösen Wissens einer Glaubensgemeinschaft. Es darf aber mit der Religion nicht gleichgesetzt werden. Es ist lediglich der Versuch, der göttlichen Rechtleitung nahe zu kommen. Das Ergebnis dieser wissenschaftlichen Herangehensweise an die Offenbarung ist Demut, Bescheidenheit und Toleranz gegenüber anderen Islamentwürfen bis hin zu anderen Religionsentwürfen. Toleranz bedeutet aber niemals Indifferenz. Im Bereich der Metaphysik hat die Offenbarung der Vernunft etwas zu diktieren und die Vernunft darf nur über metaphysische Aussagen reflektieren, will sie nicht ihre eigenen Grenzen überschreiten. Aber in allen zwischenmenschlichen Angelegenheiten hat nicht nur die Offenbarung der Vernunft, sondern auch die Vernunft der Offenbarung etwas zu sagen. Doch Vorsicht! Vernunft alleine könnte sehr schnell zu interpretatorischen Beliebigkeit entarten. Das Überstülpen der politischen Idee des Liberalismus auf Religion könnte dieselbe anspruchslos und zeitgemäß machen. Literalismus und Liberalismus sind dann die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Beide bemühen sich nicht, die universalen Werte der Offenbarung zu suchen, sondern der Literalismus will einen starren totalitären Gesellschaftsentwurf auf Kosten des Individuums und der Liberalismus will individuelle Lebensentwürfe auf Kosten der Gesellschaft in der Offenbarung finden und rechtfertigen. Um beides zu verhindern muss der Wissenschaftler sich geistig verausgaben, um a) den Offenbarungskontext so genau wie nur möglich zu ermitteln, b) die Interpretationsgeschichte dieser oder jener Textpassagen in allen Bereichen der muslimischen Wissenschaften ermitteln und c) bei Neuinterpretationen nach Analogien zu ähnlichen oder gleichen Interpretationen im Judentum und Christentum suchen, um abschätzen zu können, welche Folgen seine Interpretation auf lange Sicht für das soziokulturelle Koordinatennetz der eigenen Glaubensgemeinschaft haben könnte. Mit diesen groben hermeneutischen Eckpunkten können wir nun im rechten Umgang mit der Offenbarung das Primat des Friedenspotentials im Islam versuchen aufzudecken. Die Humanitätsregel Abraham. Zentrale Gestalt für das Judentum, das Christentum und den Islam. Im Qurʾān begegnen wir ihm im Gebet: „O mein Herr! Gib mir einen rechtschaffenen (Sohn).“ Daraufhin kündigten Wir ihm einen gutmütigen Sohn an. Als dieser nun alt genug war, um mit ihm zu arbeiten, sprach er: „O mein Sohn! Siehe, ich sah im Traum, dass ich dich opfern müsste. Schau, was meinst du dazu?“ Er sprach: „O mein Vater! Tu, was dir befohlen wird. Du wirst mich, so Gott will, standhaft finden.“ (37:100-102) Im Grunde ist dies eine schreckliche Textpassage. Abraham entwertet seinen Sohn zu einem Ding, weil ihm Gott im Traume offenbarte, seinen Sohn wie ein Tier zu schlachten. Das Absolute legitimiert hier die Tötung eines Menschen. Dies wirft viele Fragen auf. Verroht der Gottesglaube einen Menschen dermaßen, dass er grundlos sogar bereit ist, sein eigenes Kind zu töten? Offenbart sich hier nicht das Primat des Gewaltpotentials von Religion? Und gleicht der Gott Abrahams nicht den anderen scheinbaren Götterkulten jener Zeit, die ebenso Menschenblut einforderten? Auch Abraham erscheint dies nicht geheuer, sonst würde er seinen Sohn nicht um Rat fragen. Doch letztendlich ergeben sich beide dem Befehle Gottes. Hören wir dem Qurʾān weiter zu: "Sobald beide sich (Gott) ergeben hatten und er ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Boden gelegt hatte, riefen Wir ihm zu: „O Abraham! Du hast das Traumgesicht bereits erfüllt!“ Wahrlich, so belohnen Wir die Rechtschaffenen. Fürwahr, dies war eine offensichtliche Prüfung! So lösten Wir ihn durch ein großes Schlachtopfer aus und bewahrten sein Ansehen unter den nachfolgenden (Generationen). „Frieden sei mit Abraham!“ So belohnen Wir die Rechtschaffenen. Er gehörte gewiss zu Unseren gläubigen Dienern. (37:103-111) Abraham musste Gott erst noch kennenlernen. Was unterscheidet den einen und einzigen durch sich selbstbestehenden Gott von den sogenannten Göttern, die zur Zeit Abrahams verehrt wurden? – – Dass er der menschenfreundliche Gott ist. Einprägsam für alle Generationen wurde dies anhand dieser schrecklichen Prüfung vermittelt, bei der es sich zugleich um eine religionshistorische Zäsur handelte. Der Gott Abrahams gleicht eben nicht jenen willkürlichen, unberechenbaren, blutdurstigen Götterbildern, die sich Menschen ausgedacht haben, sondern der Gott Abrahams hat sich der Barmherzigkeit verschrieben. Der Mensch soll sich in eine vertrauensvolle Beziehung mit Gott begeben, deswegen und auch zu seiner Beruhigung wird Abraham trotz der beinahe ausgeführten schrecklichen Tat rechtschaffend genannt. Aber er soll zugleich wissen, dass Er kein Gott der Zerstörung ist, sondern des Erschaffens, das Er kein Gott der Willkür ist, sondern der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit. Jede Religion, die das Humanum ignoriert, jede religiöse Interpretation, die Hass schürt, jeder Prediger, der zu Feindschaft aufruft, jeder religiöse Führer, der zu Kampf gegen andere hetzt, ist abzuweisen. Das Absolute kann nicht gegen den Menschen ausgespielt werden. Es gilt die Humanitätsregel: „Jeder Mensch soll menschlich behandelt werden.“ Auf heute übertragen bedeutet dies: „Jeder Mensch soll menschlich behandelt werden, gleich welchen Geschlechts, ethnischer Herkunft, sozialen Status, Aussehens, Sprache, Alter, Nationalität, Religion, Weltanschauung und sexueller Orientierung.“ Das Humanum ist ein aus der Offenbarung gewonnenes Kriterium, um religiöse Interpretationen, religiöse Praxis, Sitten und Gebräuche zu beurteilen. Wahre Menschlichkeit ist die Voraussetzung wahrer Religion. Kein Islam auf Kosten den Menschseins und kein Menschsein auf Kosten des Islam. Wenn es also gegen Juden geht, dann werde ich Jude. Wenn es gegen Christen geht, dann werde ich Christ. Wenn es gegen Homosexuelle geht, dann werde ich Homosexueller. Wenn es gegen Flüchtlinge geht, dann werde ich Flüchtling. Denn Menschenverachtung ist immer Selbsterhöhung und steht somit konträr zur Humanitätsregel. Aber warum all dies? Was hat es mit dem Menschen auf sich? Was ist so besonders an diesem Stück Lehm? Und kann die Humanitätsregel nicht ausgehebelt werden durch die juristisch spitzfindige Frage, wer überhaupt ein Mensch ist? Adam. Erster Mensch. Erster Prophet. Das Menschenbild des Muslims speiste sich aus der Adams-Erzählung im Qurʾān. Diese Erzählung gehört zum religiösen Gut des abrahamischen Monotheismus. Sie ist die Poesie der Offenbarung über den Anfang der Menschheit. Es handelt sich bei ihr um eine Urgeschichte, die von der ältesten Periode der Menschheitsgeschichte berichtet. Inhaltlich gibt sie immer und überall erfahrbare Grundzüge des Menschseins wieder, indem diese narrativ in die Uranfänge zurückversetzt werden. Schon die fantastische Lebensspanne Adams, die nach der Thora 930 Jahre betrug, macht deutlich: die Menschheitsgeschichte liegt so weit in der Vergangenheit, soweit im Dunkel der Geschichte, dass sie für die Menschen nicht mehr zu erfassen ist (vgl. Maiberger, Paul (1990: 21)). Die Adams-Erzählung ist also weniger eine Erzählung über den ersten Menschen, sondern vielmehr berichtet sie über den Menschen an sich. Deutlich wird dies an dem ursprünglich hebräischen Wort Adam, das Mensch bedeutet. Der Gattungsname ist zugleich der Eigenname. Was über Adam ausgesagt wird, gilt in der Weltanschauung der Gläubigen für jeden Menschen. Es geht also bei dieser Urgeschichte um den Menschen schlechthin (Maiberger, ebd. 17). Der Qurʾān unterstreicht, dass der Mensch etwas Besonderes ist, wenn Gott in Sure 38, Vers 75 hervorhebt, dass Adam das einzige Geschöpf ist, das durch die Hand Gottes erschaffen wurde, während die restliche Schöpfung Seinem Wort entsprang. Zunächst deutet Hand Gottes nur auf die äußere Gestaltung des Menschen hin, wobei schon der Gelehrte Muhammad Asad (gest. 1992) die Besonderheit des Menschen vielmehr in seinem Inneren sah, nämlich aufgrund seiner Vernunft (vgl. Asad, Muhammad (2009: 871)). Allerdings ist die Benennung der Vernunft nicht unproblematisch. Sind denn dann geistig Behinderte, Demenz- und Alzheimerpatienten noch Menschen zu nennen? (vgl. Küng, Hans; Rinn-Maurer, Angela (2005: 51). Sicherlich, die Vernunft des Menschen, sein begriffliche Denken, seine Befähigung zu Sprechen und seine Entscheidungsfreiheit bilden das Kontinuum, das seinen Rang als Statthalter Gottes auf Erden begründet, wie es in Sure 2, Vers 30 heißt. Aber was ist mit jenen Menschen, die diesbezüglich eingeschränkt sind? Der Gelehrte Abdoldjavad Falaturi (gest. 1996) verwies daher auf nachstehenden Vers (vgl. Falaturi, Abdoldjavad (2002: 43)): Dann formte Er ihn und blies von Seinem Geist (min rūḥihi) in ihn. Und Er gab euch Gehör, Gesicht, Gefühl und Verstand. Wenig Dank erweist ihr Ihm! (32:9) Ähnliche Aussagen finden sich in folgenden Versen: Und als dein Herr zu den Engeln sprach: „Seht, Ich erschaffe einen Menschen aus trockenem Lehm, aus formbaren Schlamm und wenn Ich ihn gebildet und ihm von Meinem Geist (min rūḥī) eingehaucht habe, dann werft euch vor ihm nieder!“ Da warfen sich alle Engel insgesamt nieder, (15:28-30) Als dein Herr zu Seinen Engeln sprach: „Seht, ich werde den Menschen aus Lehm erschaffen, und wenn Ich ihn geformt und ihm von Meinem Geist (min rūḥī) eingehaucht habe, dann fallt vor ihm nieder!“, da warfen alle Engel sich nieder – (38:71-73) Falaturi leitet hiervon ab, dass allein dem Menschen ein Teil des Göttlichen gegeben wurde, das von der restlichen Schöpfung, von Raum und Zeit, unabhängig ist. Dieses Göttliche geht der Vernunft voran. Das "Wie" der Erschaffung des Menschen, stellt seine Besonderheit dar. Was genau dieses Göttliche ist, lässt sich nur schwer auszumachen, da die gesamte Adams-Erzählung allegorisch verstanden werden muss. Zumindest kann es sich um keine Substanz im Menschen handeln, hierfür eignet sich das Wort Geist nicht. Eine genauere Beschreibung dieses Absoluten im Menschen ist aber nicht weiter möglich, wehrt dies doch schon die Offenbarung ab: Und sie werden dich über den Geist (al-rūḥ) befragen. Sprich: „Der Geist (al-rūḥ) ist eine Angelegenheit meines Herrn. Aber ihr habt nur wenig Wissen darüber.“ (17:85) Al-rūḥ ist dasjenige, das dem Menschen Leben verleiht und zugleich immerwährend mit Gott verbindet. In dieser besonderen Beschaffenheit des Menschen wurzelt seine transzendente Würde. Der Mensch ist nicht nur ein Erdenkoloss. Der Mensch ist nicht nur Lehm. Und so adelte Gott den Menschen, als er den Engeln befahl, sich vor Adam und damit stellvertretend vor allen Menschen niederzuwerfen: Und als Wir zu den Engeln sprachen: „Werft euch vor Adam nieder!“ – da warfen sie sich nieder, außer Iblis, der sich aus Hochmut weigerte und so zu einem der Glaubensverweigerer wurde. (2:34) Und wahrlich, Wir zeichneten die Kinder Adams aus und trugen sie über Land und See und versorgten sie mit guten Dingen und bevorteilten sie gegenüber den meisten Unserer Geschöpfe. (17:70) Die Niederwerfung der Engel war kein Akt der Anbetung, sondern ein Akt des Anerkennens der außergewöhnlichen Stellung des Menschen innerhalb der Schöpfung. Alle Menschen wurden mit dieser Niederwerfung geadelt – selbst der schlechteste. Folglich dürfen Muslime niemals die Menschlichkeit eines Menschen bestreiten oder seine Würde verleugnen. Die transzendente Würde des Menschen ist ein absoluter unantastbarer Wert. Ein Wert, der bereits mit seiner Existenz gegeben ist. Sie ist nicht Gegenstand einer Zuerkennung, sondern Gegenstand einer Anerkennung. Mittels seiner weiteren Eigenschaften, die ihn von allen anderen Geschöpfen unterscheiden, soll er seine Rolle als Statthalter Gottes auf Erden erfüllen und Zivilisation schaffen (siehe Sure 2, Vers 30). Ob ein Mensch nun nach der Erfüllung dieser Rolle trachtet oder nicht, beeinträchtigt nicht seine Menschenwürde. Sie gilt für jeden Menschen ohne Rücksicht auf seinen individuellen Entwicklungsstand. Jeder Mensch gleichgültig seiner Attribute oder seiner Lebensweise muss menschlich behandelt werden. Der Universalgelehrte Al-Ghazali schrieb: „Diese irdische Welt ist eine Karawanserei auf dem Wege zu Gott, und alle Menschen finden sich in ihr als Reisegenossen zusammen. Da sie aber alle nach demselben Ziele wandern und gleichsam eine Karawane bilden, so müssen sie Frieden und Eintracht miteinander halten und untereinander helfen und ein jeder die Rechte des anderen achten.“ (Al Ghasāli (1998: 75)). Ethos der Gewaltlosigkeit Der Mensch soll aufbauen, nicht zerstören. Der Mensch soll sich entwickeln, nicht in Stagnation verharren. Der Mensch soll Zivilisation schaffen, nicht Barbarei. Mit der Aufgabe der Statthalterschaft auf Erden geht die Frage des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (gest. 1716) fehl, ob Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen habe. Gott schuf diese Welt als Rohmaterial für den Menschen. Es liegt an uns, sie zur besten aller möglichen Welten zu machen. Hierbei sind wir uns aber oftmals selber im Wege. Es heißt in der Offenbarung über den ersten Mord: Und verkünde ihnen die Wahrheit gemäß der Geschichte der beiden Söhne Adams, als sie ein Opfer darbrachten. Angenommen wurde es von dem einen von ihnen, aber nicht von dem anderen. Er sprach: „Wahrlich, ich schlage dich tot!“ (Der andere) sprach: „Siehe, Gott nimmt nur von den Gottesfürchtigen an. Wahrlich, erhebst du auch deine Hand gegen mich, um mich totzuschlagen, so erhebe ich doch nicht meine Hand gegen dich, um dich zu erschlagen. Siehe, ich fürchte Gott, den Herrn der Welten. Siehe, ich will, dass du dir meine und deine Sünden auflädst und ein Bewohner des Feuers wirst; denn dies ist der Lohn der Missetäter.“ Da trieb es ihn, seinen Bruder zu erschlagen, und so erschlug er ihn und wurde einer der Verlorenen. (5:27-30) Seit den frühsten Tagen der Menschheit ignoriert der Mensch die Humanitätsregel. Wir haben eine Kultur der Gewalt hervorgebracht. Wir haben Religionen für diese Kultur dienstbar gemacht, indem wir sie pervertiert haben. Wir haben Weltanschauungen und Ideologien des Krieges produziert. Als Gott den Menschen erschaffen wollte, ein Wesen ausgestattet mit einer relativen Entscheidungsfreiheit, verwunderte dies die Engelschar: Und als dein Herr zu den Engeln sprach: „Siehe Ich will auf der Erde für Mich einen Sachwalter einsetzen“, da sagten sie: „Willst Du auf ihr einen einsetzen, der auf ihr Verderben anrichtet und Blut vergießt? Wir verkünden doch Dein Lob und rühmen Dich.“ Er sprach: „Siehe, Ich weiß, was ihr nicht wisst.“ (2:30) Gottes Antwort darf uns Hoffnung machen. Ja, wir Menschen haben bedingt durch unsere Entscheidungsfreiheit ein Gewaltpotential in uns. Ja, wir sind zu den Architekten unserer eigenen globalen Zerstörung geworden. Aber ebenso wahr ist, dass es Menschen gibt, die sagen: Wahrlich, erhebst du auch deine Hand gegen mich, um mich totzuschlagen, so erhebe ich doch nicht meine Hand gegen dich, um dich zu erschlagen. Siehe, ich fürchte Gott, den Herrn der Welten. Unser von Gewalt geprägter Jetzt-Zustand ist nicht der Omegapunkt unserer kulturellen Entwicklung. Wir können das Friedenspotential, das genauso in uns schlummert, zum dominierenden Zug einer neuen Morgenröte für die Menschheit machen. Wir sind gewalttätige Wesen, die sich aber nach Frieden sehnen. Wahrlich, erhebst du auch deine Hand gegen mich, um mich totzuschlagen, so erhebe ich doch nicht meine Hand gegen dich, um dich zu erschlagen. Dies ist eine Kultur der Gewaltlosigkeit und des Friedens auf die der Mensch hinarbeiten soll. Selig sind, die Frieden stiften (Matthäus 5,9), aber die Friedensstifter dürfen nicht vergessen, dass sie umgeben sind von einer Kultur der Gewalt. Es ist immer besser Gewalttätigkeit hinzunehmen, in der Hoffnung hierdurch Scham beim Aggressor und eine Änderung des Herzens zu bewirken, als selber gewalttätig zu werden. Aber es gibt Aggressor, die jedes innere Gewissen abgetötet haben. Gegen Adolf Hitler oder Josef Stalin hätte die Strategie der Gewaltlosigkeit nicht gewirkt. Deshalb und nur deshalb gebietet der Qurʾān als letztes – nicht als erstes – Mittel das Recht zur Selbstverteidigung: Erlaubnis (zur Verteidigung) ist denen gegeben, die bekämpft werden – weil ihnen Unrecht angetan wurde –, und Gott hat gewiss die Macht ihnen beizustehen. Jene, die schuldlos aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, nur weil sie sagen: „Unser Herr ist Gott!“ Und hätte Gott nicht die einen Menschen durch die anderen abgewehrt, wären (viele) Klöster, Kirchen, Synagogen und Moscheen, in denen Gottes Name häufig gedacht wird, bestimmt zerstört worden. Und wer Ihm helfen will, dem hilft gewiss auch Gott, denn Gott ist stark und mächtig. (22:39-40) Die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong äußerte hierzu kürzlich: „Hätte Mohammed nicht gegen Mekka gekämpft, wäre das Gemeinwesen in Medina sicherlich ausgelöscht worden. Sobald sich aber das Kriegsglück zu seinen Gunsten wandte, setzte er eine mutige Politik der Gewaltfreiheit in Gang. Jesus hatte dagegen den Luxus, nicht Staatsoberhaupt zu sein und konnte daher seinen Anhängern sagen, sie sollten die zweite Wange hinhalten und auch ihre Feinde lieben.“ (Cicero (2014)). Diese Individualethik der Gewaltlosigkeit, die der unbekannte Muhammad, unbekannt für Nichtmuslime wie auch für zig Muslime, lehrte, die sich noch zu einer Sozialethik entwickeln muss, beginnt mit der Achtung vor dem Menschenleben, denn jeder Mensch ist mit einer transzendenten Würde versehen: Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Israels angeordnet, dass wer einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen oder Unheil im Lande angerichtet hat, wie einer sein soll, der die ganze Menschheit ermordet hat. Und wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten. (5:32) Selig sind, die Frieden stiften (Matthäus 5,9) Der Islam ist keine idealistische Religion, sondern einem realistischen Idealismus verpflichtet, der darauf hinarbeitet, Gewalt einzudämmen bis die Kultur der Gewalt überwunden ist. Bis Menschen endlich soweit sind, auf Gewalt zu blicken und sie als etwas Unreifes zu verurteilen. Doch wie kann dies praktisch erreicht werden? Nach dem Gelehrten Jawdat Saʿid verpflichtet das Ethos des gewaltlosen Sohnes Adams den Muslim dazu, 1) jede Schmähung, jedes psychisch und physisch zugefügte Leid durch das Vertrauen auf Gott (tawakkul) geduldig zu ertragen. Saʿid verweist hierbei auf folgenden Vers (vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 43)): Und warum sollten wir nicht Gott vertrauen, da Er uns doch unseren Weg bereits gezeigt hat? Wahrlich, wir wollen geduldig ertragen, was ihr uns an Leid zufügt, und Gott sollen alle Vertrauenden vertrauen. (14:12). Gewaltloser Widerstand ist nur insofern passiv, dass er den Aggressor nicht physisch angreift. Aber er ist beständig aktiv darin, dem Aggressor zu überzeugen, dass er im Unrecht ist. Die Methode ist also körperlich passiv, aber geistig aktiv. Keine Widerstandslosigkeit gegenüber dem Bösen, sondern aktiver gewaltloser Widerstand gegen das Böse, der wahre Stärke erfordert (vgl. King, Martin Luther (1980: 29-30)) Abu Huraira, Gottes Wohlgefallen auf ihm, berichtete, dass der Gesandte Gottes, Gottes Segen und Friede auf ihm, sagte: „ Der wahre Starke ist nicht derjenige, der in einem Ringkampf siegt, sondern der wahre Starke ist derjenige der sich in seinem Zorn beherrscht.“ (Muslim) 2) in seinem Handeln nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern stattdessen den Hass, der ihm begegnet, durch entgegengesetztes Tun in Liebe zu verwandeln. Abermals stützt sich Saʿid auf die Offenbarung (vgl. Sa‘eed, Jawdat (o. J.a: 49)): Das Gute und das Böse sind fürwahr nicht gleich. Wehre (das Böse) mit Besserem ab, und schon wird der, zwischen dem und dir Feindschaft war, dir wie ein echter Freund werden. (41:34) Und die Diener des Erbarmers sind diejenigen, welche auf Erden bescheiden auftreten; wenn die Ahnungslosen sie anreden, entbieten sie ihnen den Friedensgruß. (25:63). Wer Böses mit Bösem und Hass mit Hass vergilt, der vergrößert nur das Böse und den Hass in dieser Welt. Das Ziel des gewaltlosen Widerstandes ist nicht die Auslöschung des Aggressors, sondern seine Freundschaft zu gewinnen. Aussöhnung soll erreicht werden (vgl. King, Martin Luther (1980: 30)) Sind sie aber zum Frieden geneigt, so sei auch du ihm geneigt. Und vertraue auf Gott. Siehe, Er ist der Hörende, der Wissende (8:61) 3) die Strukturen pathologischer Gewalt zu erforschen und durch gesellschaftliche Erziehung und Reformen zu durchbrechen. Saʿid führt den Vers heran (vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 101)): Gewiss, Gott verändert die Lage eines Volkes nicht, solange sie sich nicht selbst innerlich verändern. (…) (13:11). Hierzu reiche es aber nicht aus, sich lediglich mit religiösen Texten zu beschäftigen, sondern das Studium der menschlichen Geschichte müsse herangezogen werden. Ein Gang durch die Geschichte, würde den Muslimen helfen zu erkennen, dass Gewalt strukturell nur durch einen demokratischen Rechtsstaat eingedämmt, domestiziert und reguliert werden könne. (vgl. Said, Jawdat (o. J.c)). Ein Rechtsstaat sei der Gerechtigkeit als ausgleichendes Maß zwischen den Menschen verpflichtet und würde daher Gewalt überflüssig machen. In Saʿids Denken stellt der Rechtsstaat den Übergang vom Primat des Stärkeren zum Primat des Rechts dar (vgl. Current Islamic Issues (1998)). Der Islam ist keine politische Religion, aber ihm wohnt ein politisches Engagement inne, da er das Ideal einer gerechten Welt proklamiert. Die Gläubigen sollen dieses in die Realität übersetzen. Allein durch Predigen kann die gerechte Welt aber nicht verwirklicht werden, friedvolle politische Überzeugungsarbeit ist dafür vonnöten. Martin Luther King schrieb einmal: „jede Religion, die angeblich um die Seelen der Menschen besorgt ist, sich aber nicht um die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse kümmert, die der Seele schaden, [ist] geistlich gesehen schon vom Tode gezeichnet“ (vgl. King, Martin Luther (1980: 20). Gewaltloser Widerstand ist die wirksamste Weise, um einen friedlichen Wandel in einer Gesellschaft in Gang zu setzen. 4) den Pluralismus als notwendige Folge des Fortschreitens menschlicher Geschichte und Entwicklung zu akzeptieren. Jedes Bemühen, den Islam zu ideologisieren, ihn in eine unlebendige statische religiöse Konformität und starre soziale Ordnung zu transformieren, liefe der menschlichen Erfahrung von Dynamik zuwider, so Saʿid (vgl. Sa‘īd, Jawdat (2002: 21-23) 5) mittels transparenter Organisationen und Stiftungen eine islamische Infrastruktur zu schaffen, durch die friedlich zum Islam eingeladen, und das Gute geboten und das Schlechte verurteilt wird. Damit würden Muslime zeitgemäß dem prophetischen Lebensmodell folgen und als demokratische Akteure ein Teil des öffentlichen Diskurses sein (Sa`id ebda. (109)). 6) das islamische Engagement in der Gegenwart niemals von dem geschichtlichen Wissen zu trennen, dass die islamische Religionsgemeinschaft oftmals nicht entsprechend der prophetischen Handlungsmaxime gewirkt hat. Dies sollten Muslime sich schonungslos eingestehen und dafür auch Verantwortung tragen. Gerade durch letzteres beweise sich der Mensch als würdig Gottes Statthalter auf Erden zu sein; Saʿid verweist auf die islamische Urgeschichte als Adam und seine Frau für ihre Schuld die Verantwortung übernahmen, indem sie Gott um Vergebung baten, statt die Schuld aufeinander abzuwälzen und von sich zu weisen (7:23) (vgl. ebd. 121). Und wenn einer nun tönt: „Seht, der Träumer kommt daher.“ (1. Mose 37,19), dann hat er die kreative Kraft von Religion vergessen, die welthistorische Umwälzungen auslösen kann. In der biblischen Übertreibungsrhetorik heißt es: Wenn euer Glaube auch nur so groß ist, wie ein Senfkorn, dann werdet ihr zu diesem Berg sagen: Rück von hier nach dort! und er wird wegrücken. Nichts wird euch unmöglich sein. (Matthäus 17,20) Wer hieran glaubt, der ist bereit, der ist zuversichtlich, die Kultur der Gewalt herauszufordern und Denkgrenzen zu sprengen! Nächstenliebe Doch was können die abrahamischen Religionen im 21. Jahrhundert einer mit Massenvernichtungswaffen ausgerüsteten Menschheit anbieten? Gewaltlosigkeit ist nur ein Verzicht auf eine bestimmte Art von Macht. Verzicht schafft Vakuum. Mit welcher Macht füllen wir es? Mit einer anderen Form von Macht, in der Sprache der Religionen: Nächstenliebe. Eine tätige Liebe, die aus der Achtung vor jedem Menschen als einem Geschöpf Gottes und dem guten Willen gegenüber allen Menschen entspringt: Dies ist es, was Gott Seinen Dienern verheißt, die glauben und das Rechte tun. Sprich: „Ich verlange keinen Lohn von euch. Aber liebt dafür (euere) Nächsten.“ Wer eine gute Tat begeht, dem werden Wir gewiß noch mehr an Gutem erweisen. Gott ist fürwahr verzeihend und erkenntlich. (42:23) Die Nächstenliebe ist in den prophetisch-semitischen Religionen, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam, nichts Abstraktes, sondern stets eine konkrete Handlung, eine praktische Hilfe, aber auch eine Zurechtweisung. Sie manifestiert sich in der Welt nicht durch Reden, sondern durch die Tat! Auch hier also ein Über-sich-hinaus-gehen und ein Bei-sich-sein. Auch hier eine Unterteilung in Machthaber und Machtunterworfener, aber derjenige, der aus Nächstenliebe handelt, erobert nicht, unterwirft nicht, erzwingt nicht, er lädt ein. Der Machtunterworfene hat die Wahl, ob er dieser Einladung folgt oder nicht. Folgt er dem, der aus Nächstenliebe handelt, so unterwirft er sich zwar diesem, aber er folgt ihm freiwillig und gewollt. Er macht den Willen desjenigen, der aus Nächstenliebe handelt zu seinem eigenen Willen. Hierdurch verbleibt er nicht im Zustande der Ohnmacht, sondern durch die an ihm vollzogene Nächstenliebe erlangt er selber Macht und Freiheit. Die Nächstenliebe ist eine ethische vermittlungsreiche emanzipatorische Macht geprägt von der Achtung vor dem Anderen. Nächstenliebe bedeutet, dass der Mensch nicht alles darf, was er will und was er kann. Die Konfliktlinien dieser Welt verlaufen nicht zwischen West und Ost, nicht zwischen den USA und der muslimischen Welt, nicht zwischen Juden, Christen Muslime, Hindus oder Buddhisten. Dies sind Kreidestriche, die wir gezogen haben, um zu verschleiern, dass es im Grunde um zwei Typen von Menschen geht: Friedensstifter und Gewalttäter. Im Zeitalter der Globalisierung ist Gewalt zu einem globalen Problem geworden. Es hat sich gezeigt, dass aus dem gefeierten globalen Dorf auch ein globaler Alptraum werden kann. Wir alle, ob Juden, Christen oder Muslime, sind Weltbürger mit einer Weltverantwortung. Gewalt ist ein Problem, dass uns alle betrifft und nur eine gemeinsame Koalition für den Frieden kann sich dieser Herausforderung entgegenstellen. Der Qurʾān ermahnt die Muslime: Und streitet nicht mit dem Volk der Schrift, es sei denn auf beste Art und Weise, außer mit jenen von ihnen, die unrecht handeln. Und sprecht: „Wir glauben an das, was zu uns herabgesandt wurde und was zu euch herabgesandt wurde. Unser Gott und euer Gott ist ein und derselbe. Und Ihm sind wir ergeben.“ (29:46) Unser Gott und euer Gott ist ein und derselbe, faktisch handelt es sich hierbei um ein ökumenisches Glaubensbekenntnis. Der Islam sieht sich demnach selber als Teil einer größeren, nämlich der abrahamischen Gemeinschaft und so wird es Juden und Christen nirgendwo im Qurʾān bestritten, Abrahams Kinder zu sein. Durch das Hinzuziehen der Religion Zarathustras (siehe Sure 22, Vers 17) weitet der Islam den Kreis sogar aus, indem er sich als Teil der allgemeinen monotheistischen Weltbewegung betrachtet. Ob Zarathustra ein von Gott gesandter Prophet ist, lässt sich hieraus aber nicht ausmachen. Das Einbeziehen des Zoroastrismus in den Kreis der theistischen Religionen – trotz des ihm innewohnenden philosophischen Dualismus – und damit seine Anerkennung als Heilsweg sagt nichts über Zarathustra aus. Jedoch finden wir im Zoroastrismus eine monotheistische und ethische Religion vor. „Es ist die geheime Klammer im Himmel. Gerade das, was uns trennt, eint uns auch. Das Absolute nämlich“ , so der Theologe Ulrich Schoen (Schoen, Ulrich (1998: 405). Ergänzend schreibt der Theologe Clemens Thoma: „(…) denn Judentum, Christentum und Islam gehen – unter der Führung des Einen Gottes – auf getrennten Wegen dem Reich Gottes entgegen“ (zit. nach Becker, Hildegard (1998: 528). Es heißt in der Offenbarung: Sprich: „O Leute der Schrift! Kommt herbei! Einigen wir uns darauf, dass wir Gott allein dienen und nichts neben Ihn stellen und dass die einen von uns die anderen nicht zu Herren neben Gott annehmen.“ (3:64) Hier finden wir eine Bereitschaft zum Dialog mit Juden und Christen vor, auf dem Fundament des gemeinsamen Gottesbildes, der größtenteils gemeinsamen Prophetenkette und der größtenteils gemeinsamen Offenbarungsinhalte zur gemeinsamen und friedlichen Gestaltung unserer gemeinsamen Welt. Al Ghasāli (1998): Das Elixier der Glückseligkeit. München. Asad, Muhammad (2009): Die Botschaft des Koran. Düsseldorf. Becker, Hildegard (1998): Juden, Christen und Muslime im Lernprozess „Dialog“. In: Kirste, Reinhard; Schwarzenau, Paul; Tworuschka, Udo: Die dialogische Kraft des Mystischen. Balve: 527-539. Blume, Georg (2013): Myanmar: Der Zorn der Mönche. Internet: http://www.zeit.de/2013/21/myanmar-buddhisten-muslime (27.11.2014). Buchsteiner, Jochen (2008): Christenverfolgung in Indien. Flächenbrand in Orissa. 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Muhammad Sameer Murtaza M.A. ist Islamwissenschaftler und Mitarbeiter der Stiftung Weltethos. Seit 2010 setzt er sich mit der Vortragsreihe Gemeinsames Kernethos von Judentum und Islam für ein besseres Verständnis zwischen den beiden Religionen ein. Kürzlich erschien sein Buch Islam. Eine philosophische Einführung und mehr… |