Newsnational Dienstag, 24.06.2025 |  Drucken

Kritik an Antisemitismus-Erfassung: Neue Studie wirft RIAS methodische Mängel vor

Erhebliche Zweifel wegen "ausgedehnten und wenig präzisen Definition von Antisemitismus" -  Im Fokus: die einseitige Betonung des sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus“

Eine jüngst veröffentlichte Studie kritisiert die Arbeit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) und wirft der Organisation vor, unscharfe Begriffsverwendungen, mangelnde Kontextualisierung und eine politische Schieflage in der Bewertung antisemitischer Vorfälle zu praktizieren. Besonders im Fokus: die einseitige Betonung des sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus“ und die ungenügende Berücksichtigung rechtsextremer Gewalt. Anlass für die Diskussion ist unter anderem der Umgang von RIAS mit einer Gedenkrede des israelischen Historikers Moshe Zimmermann. Zimmermann, emeritierter Professor und renommierter NS-Forscher, hatte am Holocaust-Gedenktag 2020 im Landtag von Sachsen-Anhalt eine Rede gehalten, in der er für eine universelle Geltung des Versprechens „Nie wieder“ plädierte – auch im Hinblick auf die Politik Israels gegenüber den Palästinenser:innen. Diese Rede tauchte später in einem RIAS-Bericht unter der Rubrik „Erinnerungsabwehr und Antisemitismus“ auf, mit dem Hinweis, sie suggeriere eine problematische Gleichsetzung zwischen israelischer Politik und nationalsozialistischer Judenverfolgung. Diese Einschätzung sorgte für Kritik, nicht zuletzt wegen Zimmermanns Reputation und der differenzierten Tonlage seiner Rede. Der Vorwurf steht exemplarisch für eine Grundsatzdebatte über die Arbeitsweise von RIAS, die seit ihrer Gründung 2015 in Deutschland als zentrale zivilgesellschaftliche Dokumentationsstelle für antisemitische Vorfälle gilt. Ihre Erhebungen fließen regelmäßig in politische Entscheidungsprozesse ein und gelten für Medien, Verwaltungen und Politik als belastbare Quelle.

Wird inzwischen legitime Kritik an israelischer Politik mit Antisemitismus vermengt?

Die neue Studie, verfasst vom israelischen Journalisten Itay Mashiach im Auftrag der Organisation DiasporaAlliance, kommt zu dem Schluss, dass RIAS mit einer ausgedehnten und wenig präzisen Definition von Antisemitismus arbeite. Besonders auffällig sei die hohe Zahl an Fällen, die als „israelbezogen“ klassifiziert würden – oft ohne hinreichende Kontextualisierung oder nachvollziehbare Begründung. So stuft RIAS beispielsweise Theaterinszenierungen wie Oliver Frljićs „Ein Bericht für eine Akademie“ und das Stück „Die Vögel“ in München als antisemitisch ein. In beiden Fällen liegt die Einschätzung vor allem darin begründet, dass die Darstellungen israelischer Politik in einem negativen Licht erscheinen oder kontroverse historische Bezüge aufgreifen. Mashiach kritisiert dabei nicht nur die Auswahl der dokumentierten Vorfälle, sondern auch deren Präsentation. Die Berichte von RIAS listen die Fälle in anonymisierter Form und ohne umfassenden Kontext auf – eine Praxis, die unabhängige Überprüfungen nahezu unmöglich macht. Besonders problematisch wird dies, wenn – wie im Fall Thüringens – deutliche Unterschiede zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Erhebungen auftauchen. Während RIAS lediglich 37 Prozent der antisemitischen Vorfälle einem rechtsextremen oder rechtspopulistischen Hintergrund zuordnet, identifiziert die Thüringer Polizei 98 Prozent der entsprechenden Straftaten als rechtsextrem motiviert. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft den Rückgriff von RIAS auf die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die in Deutschland breit verwendet wird, international aber zunehmend umstritten ist. Kritiker:innen werfen dieser Definition vor, legitime Kritik an israelischer Politik mit Antisemitismus zu vermengen.

Mashiach sieht in der unreflektierten Übernahme dieser Definition durch RIAS eine strukturelle Schwäche: Die notwendige Berücksichtigung des jeweiligen Kontexts werde systematisch vernachlässigt. Ein besonders aufschlussreiches Beispiel liefert der RIAS-Bericht Bayern aus dem Jahr 2021. Darin wird bereits die Verwendung politisch geladener Begriffe wie „Apartheid“, „Kolonialismus“ oder „ethnische Säuberungen“ in Bezug auf Israel als antisemitisch gewertet – unabhängig von der Frage, ob diese Begriffe sachlich oder völkerrechtlich begründet sein könnten. Damit werde, so Mashiach, jede Form fundamentaler Kritik an israelischer Regierungspolitik vorschnell delegitimiert. Die Studie wurde bereits im Mai 2024 fertiggestellt, ihre Veröffentlichung jedoch zunächst wegen des Terrorangriffs der Hamas am 7. Oktober 2023 zurückgestellt. Die Autoren begründeten diesen Schritt mit dem Wunsch, in einer Zeit gesteigerter antisemitischer Vorfälle in Deutschland keine unnötigen Konflikte innerhalb jüdischer Gemeinschaften zu verschärfen. Am 21. Juni 2025 wurde der Bericht schließlich online gestellt. RIAS hat sich bislang nicht offiziell zu den Vorwürfen geäußert. Auf Nachfrage der taz blieb eine Stellungnahme aus. Unklar ist, ob und wann die Organisation zu den Vorwürfen Stellung nehmen wird. Die Debatte um RIAS wirft grundlegende Fragen auf: Wie lässt sich Antisemitismus effektiv und differenziert erfassen? Wo endet legitime Kritik an israelischer Politik – und wo beginnt die Dämonisierung eines Staates? Und wie gelingt eine Antisemitismusbekämpfung, die nicht selbst politische Maßstäbe setzt, sondern universalistische Prinzipien hochhält? Die Diskussion, so zeigt die Debatte um Zimmermanns Rede und Mashiachs Studie, ist längst nicht abgeschlossen.

Hinweis:Dieser Bericht basiert auf einem Kommentar von Stefan Reinecke, veröffentlicht in der taz am 24.06.2025.




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