Artikel Montag, 01.06.2009 |  Drucken

Jüdische Kulturgeschichte in der arabischen Welt? Von Mohammed Khallouk

Auf dem Spuren Jahrhunderte langer jüdisch-muslimischer Koexistenz in Marokko

Schon lange beschäftigte mich Frage, weshalb gerade Marokko bereits seit antiker Zeit eine der größten jüdischen Gemeinden weltweit beherbergt und wieso der westliche Maghreb in weit stärkerem Maße als manch andere arabische und muslimisch geprägte Region über die verschiedensten historischen Epochen hinweg sich mit einer qualitativ und quantitativ bedeutenden jüdischen Minorität konfrontiert sieht. Der Besuch der Fondation du Patrimoine Culturel Judeo-Marocaine in Casablanca am 23. Juli 2008, dem einzigen Museum für jüdische Geschichte und Kultur innerhalb der Arabischen Welt, sollte mir ein tieferes Verständnis für die jüdische Lebensweise und ihr Kollektivbewusstsein im marokkanischen Umfeld, sowie für den Stellenwert Marokkos als Patria für die diesem Land entstammenden Juden vermitteln. Besonders die Begegnung mit dem Generalsekretär des Museums, Simon Levy, ließ mir die Gemeinsamkeiten in der Ethik und Denkweise zwischen den Juden und uns Muslimen vor Augen treten, die hier in Marokko über Jahrhunderte hinweg einer von gegenseitiger Wertschätzung getragenen Koexistenz dieser beiden Religionen die Voraussetzung geboten hat, welche sich für die geistigkulturelle Entwicklung des Landes immer wieder als förderlich erwies.


Diskriminierte jüdische Minorität oder elementarer Bestandteil der marokkanischen Gesellschaft?

Einen Gegensatz zu ihren spezifisch jüdischen Lebensgewohnheiten, mit denen die marokkanischen Juden sich durchaus unverkennbar von der muslimischen Bevölkerung herausheben lassen, vermochte ich nicht herzustellen. Diese jüdischen Eigenheiten wurden an den verschiedensten Ausstellungsobjekten des Museums wie Bildern, Gebrauchsgegenständen, religiösen Kultutensilien, aber auch koscher hergestellten und zubereiteten Gerichten, Kleidung, Frisuren und Schmuck sichtbar – kurzum es bestand und besteht kaum ein Lebensbereich, in dem sie nicht sofort als Juden in nichtjüdischer Umgebung ins Auge fielen. Eine elitäre Abgehobenheit, die Juden von Nichtjuden nicht selten zugeschrieben wird, ging damit in den wenigsten Fällen einher, abgesehen vom Bewusstsein als „älteste monotheistische Religion der Welt“ den Glauben an den einzigen Gott und die göttlichen Gebote als erste erfahren und befolgt zu haben sowie damit einen Weg vorgezeichnet zu haben, welcher später mit dem Aufkommen des Christentums und nachfolgend des Islam von der gesamten mediterranen Civil Society beschritten wurde und bis heute zu einem elementaren Baustein der marokkanischen Kultur zählt.
Die zahlreichen Unterscheidungsmerkmale der Juden gegenüber den Muslimen erwiesen sich folglich keineswegs als Hindernis für eine über die verschiedensten Epochen hindurchziehende, von Respekt getragene Koexistenz beider Religionen in Marokko, da man sich gemeinhin des gleichen Ursprungs in Stammvater Abraham wie der ethischen Wesensverwandtschaft bewusst war. Durchaus enthält die marokkanische Geschichte verschiedene Perioden, in denen die Religionen Exklusivitätscharakter beanspruchten. Diese kristallisierte sich nicht nur in einer zeitweilig heraufbeschworenen Dualität zwischen Islam und Christentum mit Kriegen, Vertreibungen und gegenseitigen Verfolgungen - besonders im späten Mittelalter im damals zu maghrebinischen Zivilisationsgebiet zählenden Südspanien - heraus, sondern ging ebenso mit Verfolgung und Diskriminierung der Juden seitens der islamischen Obrigkeit Marokkos einher.

Simon Levy verweist auf den Fanatismus der Almohadenherrscher, dem sich unzählige Juden nur durch öffentliche Konversion zum Islam oder Flucht ins Ausland zu entziehen wussten. Demgegenüber stand die Ehrerbietung der Alaouitenherrscher dem jüdischen Erbe der Nation, das während der Ären Mohammed V. und Hassan II. sogar gegen von außen eindringende antijüdische Tendenzen und Verfolgungsabsichten geschützt worden sei. Vielmehr verhinderte die muslimische Führungsschicht des Landes seiner Zeit die Einbeziehung der marokkanischen Juden in das Martyrium ihrer europäischen Glaubensgenossen während der NS-Herrschaft.


Marokkanische Juden oder Israeliten marokkanischer Herkunft?

Die Tatsache, dass marokkanisch-jüdische Immigranten in Europa, Nord- wie auch Südamerika nach Generationen sich immer noch ihrer marokkanischen Herkunft erinnern und jenes Museum mit Begeisterung aufsuchen, um ihren Kindern und Enkelkindern mit Stolz vom jüdischen Lebensstil ihrer Vorfahren in Marokko zu berichten, beweist, dass sie eine möglicherweise dort erfahrene und antizipierte politische oder soziale Ungerechtigkeit weder mit dem Islam noch mit der marokkanischen Kultur assoziieren, sondern stattdessen als zeitweiliges Verlassen der ursprünglichen, dahinter stehenden Werte interpretieren.

Levy hebt hervor, dass unter einem fundamentalistischen Missbrauch jeglicher Religionen, die alle von ihrem Wesen her tolerant seien, das eigene Ansehen ebenso zu leiden habe wie die mutmaßlichen Anhänger der anderen Konfessionen. Die Bedrohung für ein friedliches Miteinander gehe daher heute wie in der Vergangenheit von Extremisten innerhalb der Religionen aus und betreffe sowohl den Islam, als auch das Christentum und das Judentum. Neben den Islamisten wahabitischer Prägung nennt er radikale Zionisten und die evangelikalen Christen Nordamerikas, die den origin politischen Konflikten im Nahen und Mittleren Osten, von messianischen Illusionen getrieben, den Anschein einer religiösen Auseinandersetzung verliehen.

Die staatliche Existenz des heutigen Israel habe zwar ihre politische Berechtigung, könne sich jedoch keineswegs auf ein Fundament in der Thora berufen. Vielmehr führt Levi die nach der israelischen Staatsgründung erfolgte Massenemigration von Marokko dorthin ebenso wie jene nach Europa und Amerika in erster Linie auf ökonomische Perspektivlosigkeit in der bisherigen Heimat zurück. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die jüdischen offenbar nicht von muslimischen Marokkanern, die sich zeitgleich in der Migration nach Europa, USA oder Kanada den ersehnten Wohlstand zu erlangen erträumten.


Von religiöser Ethik geleitete patriotische Kosmopoliten statt Elite mit Exklusivitätsbewusstsein

Der gegenseitige Respekt, den das Miteinander der beiden semitischen Völker – Hebräer und Araber – in Marokko bis in die Gegenwart auszeichnet und den aus dem europäischen Kontext entstammenden Terminus „Antisemiten“ für die Marokkaner wie andere Araber als ebenso unpassend wie unzutreffend entlarvt, sollte daher als Hoffnung für eine gleichermaßen friedliche Koexistenz von Israelis und Palästinensern dienen, der bei einer Beseitigung der politischen Konfliktursachen die Religion ebenso wenig entgegensteht wie die Ethnie oder das jeweilige Kollektivbewusstsein.

Der Besuch des Fondation du Patrimoine Culturel Judeo-Marocaine hat mich auf jeden Fall eines gelehrt, dass aller jüdischen Spezifitäten zum Trotz den marokkanischen Juden ihr Patriotismus in keiner Weise abgesprochen und weder als Gegensatz zu einer durchweg vorhandenen kosmopolitischen pluralistischen Einstellung interpretiert werden sollte, noch zu ihrer tiefgründigen, in keiner Weise exklusiv zu verstehenden Religiosität, mit der sie sich von so manchem säkularen Juden in Europa und sogar in Israel ebenso abheben wie von manchem Muslimen und Christen der Neuzeit, dem materielle Werte zunehmend bedeutender erscheinen mögen als die Gebote Gottes. Die marokkanischen Juden dürfen nach den Eindrücken, die ich aus dem Museum mitnehmen konnte, durchaus auch als „Agenten Zions“ bezeichnet werden, hiermit ist jedoch weder ein jüdisches Auserwähltheitsbewusstsein noch ein Exklusivitätsanspruch verbunden.

Der Autor Mohammed Khallouk ist Deutsch-Marokkaner und habilitiert zur Zeit an der Bundeswehruniversität München über das Thema Juden in Marokko


Lesen Sie dazu auch:
Palästinensisch-israelische Verständigung auf der ITB

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