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Dienstag, 11.04.2006 | Drucken |
Rupert Neudeck: „Die Flüchtlinge kommen - Buchbesprechung von Thuraya Mustafa
Warum sich unsere Asylpolitik ändern muss. Verlag Diederichs/H. Hugendubel, München 2005. 252 Seiten, 19,95 €.
Noch immer erinnern wir uns an die Bilder der Flüchtlinge, die im Herbst des vergangenen Jahres die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla erstürmten. Viele von ihnen waren seit einem Jahr oder gar länger unterwegs und kannten nur ein Ziel ihres Elendmarsches: die hoffnungslos überfüllten Auffanglager für Immigranten. Ebenso gut entsinnen wir uns der von Spanien abgeschobenen Menschen, die von den Marokkanischen Behörden in die Wüste geschickt wurden, im wahrsten Sinne des Wortes. Nun hat die Spanische Regierung mit der Abschiebung von illegalen afrikanischen Zuwanderern von den Kanarischen Inseln nach Mauretanien begonnen. Was bewegt Menschen dazu, diese unmenschlichen Strapazen auf sich zu nehmen, Heimat und Familien zurück zu lassen, um einer ungewissen Zukunft entgegen zu gehen? Eine Zukunft, die in einigen Fällen bedeutet, von Grenzsoldaten erschossen zu werden? Es ist der unaufhaltsame Versuch, Krieg, Korruption und Hunger zu entkommen!
Von diesen Menschen, den „Habenichtsen“ und „Schmuddelkindern“, wie Rupert Neudeck sie nennt, berichtet sein Buch „Die Flüchtlinge kommen.“ Darin plädiert der Gründer der Hilfsorganisation „Cap Anamur“ zunächst für eine Neugestaltung der Entwicklungspolitik, die den Menschen die Möglichkeit bietet, in ihren Heimatländern ein menschenwürdiges Leben zu führen. Er versucht dem Leser den Zusammenhang zu erläutern zwischen gut gemeinter, aber leider oftmals völlig unsinniger Entwicklungshilfe, von der Korruption der Machthaber in den Ländern der Dritten Welt und dem Strom der Wanderer, die unaufhaltsam ihrem Schicksal zu entfliehen versuchen. Da sich die Asylbewerberzahlen in Europa in den vergangenen zehn Jahren halbiert haben, verschwendet die Politik keinen Gedanken mehr an die Fluchtursachenbekämpfung. Im Gegenteil, Europa verschärft das Asylrecht und macht seine Grenzen dicht angesichts der Massen, die unterwegs sind. Nach Schätzungen von Klaus Töpfer, dem Leiter des UN-Umweltprogramms in Nairobi, sind es 18 Millionen Afrikaner, die auf der Flucht sind. Nicht vergessen werden dürfen die Flüchtlinge aus dem Nahen wie Fernen Osten. Das Ungleichgewicht, die ungleich verteilten Güter, der steigende Wohlstand einiger weniger und die bittere Armut einer Vielzahl von Menschen auf dieser Welt, all das muss, so Neudeck, abgeschafft werden. Die Erste Welt gibt jedoch lieber Unmengen aus für einen Schutzwall gegen die Dritte Welt und schottet sich weiter ab.
Gleichzeitig plädiert er für eine geregelte Einwanderung. Es sollten seiner Meinung nach gezielt Arbeitkräfte ausgewählt werden, die in den alternden Gesellschaften Europas dringend gebraucht würden. Für Deutschland bedeute dies, sich endlich dazu zu bekennen, ein Einwanderungsland zu sein und der bis dato praktizierten Asylpolitik ein Ende zu bereiten. Damit Asylanten nicht mehr jahrelang dazu verdammt würden, dem Steuerzahler auf der Tasche zu liegen, da sie bis zu ihrer Anerkennung, oder Abschiebung, weder arbeiten noch eine Ausbildung machen dürfen. „Echte Migranten“ sollen ins Land geholt werden, verlangt Neudeck, die bereits vor ihrer Einreise Deutsch lernen und sich mit dem Einreiseland vertraut machen müssen. Mit Hilfe von so genannten „Migrantenstewards“ sollen Einwanderer aktiv in die Gesellschaft integriert werden. Angesichts der Arbeitslosenzahlen in Deutschland sollten es aber maximal 40 000 Einwanderer sein, die pro Jahr ins Land immigrieren dürften.
Jedoch birgt die Forderung Neudecks nach wenigen, ausgesuchten Einwanderern die Gefahr der Unterteilung in „gute“ und „schlechte“ bzw. in „brauchbare“ und „unbrauchbare“ Immigranten. Vor allem, wenn dies auf dem Rücken der bereits in Deutschland lebenden Ausländer ausgetragen wird. Die Zahl der Abschiebungen steigt. Und vor dem Hintergrund der New Yorker Anschläge vom 11. September sehen Politiker kein Problem mehr darin, bei einer reinen Verdachtslage aus Gründen der inneren Sicherheit, selbst bereits eingebürgerten Migranten die Staatsbürgerschaft wieder abzuerkennen und sie des Landes zu verweisen. Darf also nur noch ins Land, wer eine entsprechende Ausbildung absolviert hat, wie Neudeck es vorschlägt, oder wird der potentielle Immigrant darüber hinaus noch nach Religion und Nationalität ausgewählt? Und was ist mit den politisch Verfolgten? Hier widerspricht sich Neudeck selbst, wenn er verlangt, dass allen Flüchtlingen geholfen werden muss.
Ungenau bleibt leider auch die Definition von Integration. Als Beispiel für eine gelungene Integration nennt er die 50 000 Vietnamesen, die sehr schnell Deutsch lernten und keine Sozialhilfe in Anspruch nahmen. Es gelang ihnen, so Neudeck, die „eigene Kultur und Religion zu bewahren, ohne sich gleich völlig abzugrenzen und zu isolieren.“ Ihre Kinder lernten so gut Deutsch, dass „alle einen Beruf oder eine Beschäftigung“ hätten. Als eine absolut gescheiterte Integration dagegen sieht Neudeck die der 2,6 Millionen Türken an, die in Deutschland leben. Diese Behauptung verwundert, denn auch ihre Kinder sprechen Deutsch, viele studieren, arbeiten oder machen eine Ausbildung. Sie haben eigene Betriebe, sind gar Arbeitgeber und leisten einen großen Beitrag zum Bruttosozialprodukt des Landes. Warum erklärt Neudeck ihre Integration pauschal für gescheitert, die Integration von fast 3 Millionen Menschen? Weil angeblich alle Zwangsverheiratung und Ehrenmorde praktizierten. Als Quelle für diese Erkenntnis zieht Neudeck das Buch „Die fremde Braut“ der Soziologin Necla Kelek heran. Ihr Buch jedoch basiert nicht auf empirischen Untersuchungen, es ist vielmehr ein Erlebnisbericht, wo traurige Einzelfälle als ein gesellschaftliches Problem dargestellt werden. In ihrer eigenen, Jahre zuvor erschienenen Dissertation, die wissenschaftlich fundiert ist, kommt sie zu gegenteiligen Ergebnissen. Die jüngst in „Die Zeit“ erschienene Petition von sechzig Integrationswissenschaftlern macht auf genau diese Problematik aufmerksam.
Was Neudecks Buch auszeichnet, ist der Blick hinter die Zahlen und Statistiken. Die vielen Anekdoten und Berichte der einzelnen Schicksale, sein eigenes Engagement bei der Rettung von Flüchtlingen, machen den Text lebendig und eröffnen dem Leser neue und interessante Sichtweisen. Dabei zeichnet er ein schonungsloses Bild der Asylpolitik. Vor allem aber vermittelt sein Buch Zuversicht, denn, wie er betont, sind die Gesellschaften Europas „trotz aller Probleme […] starke Gesellschaften.“ Sie sind „Rechtsstaaten und Sozialstaaten, wie es sie auf der ganzen Welt kein zweites Mal gibt.“
„Die Flüchtlinge kommen“. Warum sich unsere Asylpolitik ändern muss. Vor Rupert Neudeck. Verlag Diederichs/H. Hugendubel, München 2005. 252 Seiten, 19,95 €.
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