Newsnational Dienstag, 13.10.2009 |  Drucken

Anzeige:


Thilo Sarrazin ein Rassist? - Von Stephan Kramer

Pauschalurteile und Hetze werden die Integrationsprobleme nicht beseitigen sondern nur verschlimmern

Fehler sollte man eingestehen. Als ich Thilo Sarrazin wegen seiner migrantenfeindlichen Äußerungen der geistigen Nähe zum Nationalsozialismus zieh, beging ich einen doppelten Fehler. Erstens, weil Nazivergleiche problematisch sind. Ich selbst habe sie immer kritisiert. Kritik muss dann aber auch zu Selbstkritik führen. Ich wollte Sarrazin nicht unterstellen, wie Hitler und Goebbels zu sein – das ist überzogen –, wohl aber, die Sprache und Gedanken der heutigen Neonazis zu verwenden.

Die Parallele war auch der Sache selbst nicht dienlich, droht doch der Wirbel um den Vergleich Sarrazin im Kampf um seinen schmählich verlorenen Ruf zu helfen. Das wäre erst recht bedauerlich. Deshalb möchte ich meine Kernaussage wiederholen: Sarrazins Äußerungen sind rassistisch und zielen auf niedrigste Instinkte. Sie verraten ein Weltbild, das mit der biblischen Botschaft, Gott habe alle Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, unvereinbar ist. Und man muss nicht fromm sein, um dieses Prinzip als die Grundlage jeglichen menschlichen Miteinanders anzuerkennen. Das aber tut Sarrazin nicht, denn nur als Rassist kann man „Türken und Araber“ verächtlich in den Berliner Gemüsehandel verweisen. Und wie viel Menschenhass muss jemand wie Sarrazin empfinden, der ganze Menschengruppen als Unterschicht definiert und ihr Recht auf Fortpflanzung infrage stellt? Der Arbeitslose wie Alleinerziehende, Türken wie Araber in einen Topf wirft und stigmatisiert?

Der Ton, so die bekannte Redensart, macht die Musik. Auch bei Thilo Sarrazin lohnt es sich, in den Ton hineinzuhören, um zu begreifen, welche Register er zieht. Ihn stören die „kopftuchtragenden Mädchen“ aus moslemischen Familien. Vor genau 130 Jahren schrieb Heinrich von Treitschke, wütiger deutscher Antisemit des 19. Jahrhunderts: „Über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein.“ Gemeint waren Juden. Ob „kopftuchtragende Mädchen“ oder „hosenverkaufende Jünglinge“: Die Melodie ist auf erschreckende Weise gleich. Von demselben Treitschke stammte übrigens der später vom „Stürmer“ zum Motto erhobene Spruch: „Die Juden sind unser Unglück.“

Da hilft auch Sarrazins plumpe Anbiederung nicht, osteuropäische Juden hätten einen um fünfzehn Punkte über dem Durchschnitt liegenden Intelligenzquotienten. Die Integrationsprobleme, die die deutsche Gesellschaft im frühen 21. Jahrhundert plagen, sind sozialen und kulturellen Ursprungs, nicht aber genetisch bedingt. Eine genetische Einteilung der Menschheit in Superkluge und Dumme, Nutzbringende und Nutzlose, Oberschicht und Unterschicht – das ist Rassismus pur. Und mit Rassismus wird Deutschland die Integrationsprobleme nicht etwa lösen, sondern sie verschärfen. Am Ende droht sich die rassistische Weissagung der Sarrazins selbst zu erfüllen. Auch deshalb sind die deutsche Politik und Gesellschaft aufgefordert, dem Rassismus eine klare Abfuhr zu erteilen. Wir brauchen keine menschenverachtenden Stammtischparolen, sondern eine Debatte, die Probleme nicht nur nennt, sondern auch deren Lösung sucht. Bessere Bildung ist ein Muss. Gewiss, Integration ist nicht nur eine Bringschuld der Mehrheit, sondern auch eine Holschuld der Minderheit. Toleranz hier, Integrationswilligkeit dort: Nur auf dieser Grundlage kann eine tragfähige Brücke für die Begegnung von Menschen aus nichtidentischen Kulturkreisen entstehen.

Erstveröffentlichung heute im Tagesspiegel, mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Stephan Kramer gehört zu den bekanntesten und profiliertersten deutschen Juden hierzulande. Der gelernte Jurist und Familienvater setzt dabei immer wieder Wegmarken und spricht unbequeme Wahrheiten aus, wie zuletzt im Mordfall Marwa El-Sherbini.



Lesen Sie dazu auch:
Aiman Mazyek bei N24-Talk "Was erlauben Strunz" zu Thilo Sarrazin

Ähnliche Artikel

» Deutschland, wo bleibt deine Empörung?
» "Hexenjagd wie in den 50ern"
» Werte einer demokratischen und weltoffenen Gesellschaft "mit Füßen getreten"
» Antidiskriminierungsstelle warnt: Rassismus steigt rapide an
» Zentralkomitee deutscher Katholiken (ZDK) stellt sich solidarisch hinter Muslime und prangert antimuslimischen Rassismus, Hass und Menschenfeindlichkeit an

Wollen Sie einen
Kommentar oder Artikel dazu schreiben?
Unterstützen
Sie islam.de
Diesen Artikel bookmarken:

Twitter Facebook MySpace deli.cio.us Digg Folkd Google Bookmarks
Linkarena Mister Wong Newsvine reddit StumbleUpon Windows Live Yahoo! Bookmarks Yigg
Diesen Artikel weiterempfehlen:

Anzeige

Hintergrund/Debatte

Extreme bis extremistische Einstellungen in Deutschland auf dem Vormarsch mit Spiegelung in der Politik und Medien
...mehr

Langes KNA-Interview: Der neue Vorsitzende des Zentralrats der Muslime über sein Amt
...mehr

Bochum ehrt Ahmed Aweimer zum 70. Geburtstag
...mehr

Aiman Mazyek kommentiert das Verbot der Imam Ali Moschee: "Blaue Moschee - Islamisches Zentrum in Hamburg
...mehr

Medienanalyse: Rassismus in Medien, Recht und Beratung
...mehr

Alle Debattenbeiträge...

Die Pilgerfahrt

Die Pilgerfahrt (Hadj) -  exklusive Zusammenstellung Dr. Nadeem Elyas

88 Seiten mit Bildern, Hadithen, Quran Zitaten und Erläuterungen

Termine

Islamische Feiertage
Islamische Feiertage 2019 - 2027

Tv-Tipps
aktuelle Tipps zum TV-Programm

Gebetszeiten
Die Gebetszeiten zu Ihrer Stadt im Jahresplan

Der Koran – 1400 Jahre, aktuell und mitten im Leben

Marwa El-Sherbini: 1977 bis 2009