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Donnerstag, 21.09.2006
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Kritischer Dialog: Ein muslimischer Versuch die Papst-Vorlesung zu verstehen - Von Mohamed Laabdallaoui

Warum sprach der Papst überhaupt über den Islam? Worin haben die Muslime den Papst falsch verstanden?

Um das Verhältnis von „Glaube und Vernunft“, um „Reflexionen und Erinnerungen“ sollte es in der Vorlesung von Papst Benedikt XVI. gehen. Der Zuhörer, auch der muslimische Zuhörer, durfte einen nicht nur akademisch interessanten Vortrag erwarten, sondern vor allem Gedanken eines ausgewiesenen Schriftgelehrten und die Weisheit eines erfahrenen Zeitzeugen.

Im Großen und Ganzen hielt sich die Vorlesung thematisch denn auch an das Programm, das der Titel vorzeichnete. Nur ist in der anschließenden Diskussion der eigentliche Inhalt der Vorlesung hinter die bekannten Passagen aus der Einleitung in den Hintergrund getreten. Die Muslime ärgern sich über die von ihnen so empfundene Verunglimpfung ihres Propheten Muhammad und auch sonst darüber, dass ein Papst am Beginn des 21. Jahrhunderts solcherlei Aussagen unkommentiert zitiert, die man als Muslime im Dialog mit der Christenheit doch langsam zu überwinden hofft. Diese Zitate, die Entrüstung der Muslime und die verhaltenen Beschwichtigungsversuche des Vatikans wurden zu den Schlagzeilen, die die Diskussion beherrschen.

Was waren die zentralen Aussagen der Regensburger Vorlesung?

Papst Benedikt XVI. ging es in Regensburg in erster Linie um das Verhältnis von Glaube und Vernunft. Er wollte beide nicht etwa miteinander versöhnen, denn dies ist nicht nötig, ist doch der Glaube eine selbstverständliche Dimension der Vernunft und beide im hellenischen Begriff Logos ursprünglich miteinander verbunden. Die moderne Vernunft ist lediglich um diese Dimension verkürzt worden. Der Glaube ist ein Teil der Vernunft ebenso wie die Theologie ein Teil des Wissenschaftsspektrums ist. Der Papst spricht in diesem Zusammenhang vom Verhältnis der christlichen Theologie zur griechischen Philosophie und von den drei Enthellenisierungswellen des Christentums. Er fordert eine Wiedererkennung der tief liegenden Gemeinsamkeiten von Christentum und Hellenismus, er sieht gar eine Wesensverwandtschaft zwischen ihnen und in ihrer nicht zufälligen Begegnung das, was aus dem orientalischen Urchristentum die europäische Religion und aus Europa das christliche Europa machte.

Hätte es der Papst hierbei belassen, wäre sein Besuch in Deutschland als Versuch in Erinnerung geblieben, das moderne Europa mit sich selbst zu versöhnen, indem es in seiner Vernunft seinen Glauben wiederentdeckt. Und vielleicht wäre sein eindrucksvoller Ruf „Die Sache mit dem Menschen geht nicht auf ohne Gott“ aus einer Predigt Tage zuvor die herausragende Schlagzeile über seinen Besuch geblieben.

Doch der päpstliche Ruf nach der Erweiterung des modernen westlichen Vernunftsbegriffs um die religiöse Dimension, seine Mahnungen, dass sich Ethik und Gemeinschaft aus Evolutionstheorie, Psychologie und Soziologie allein nicht hinreichend ergeben könnten und seine Betonung, unter Ausschluss des Göttlichen werde der dringend notwendige Dialog der Kulturen und Religionen nicht möglich sein – all das ist in der Berichterstattung und Diskussion weitgehend untergegangen.

Schade. Solche Stimmen sind nicht oft zu vernehmen in einer allzu hektischen und auf das Politische, Ökonomische und Sinnliche fixierten medialen Welt. Auch als Muslime können wir uns doch nur freuen, wenn an Gott erinnert wird. Wir können uns vor allem auch freuen, wenn gerade der Papst Versuche zur Versöhnung der modernen Wissenschaften mit Gott unternimmt, hat doch die katholische Kirche durch ihre einstige Wissenschaftsfeindlichkeit entscheidend dazu beigetragen, dass der europäische Wissenschaftsraum von Glaube und Gottbezogenheit „entleert“ wurde. Man könnte den Muslimen vorwerfen, dieses zentrale Anliegen des Papstes vereitelt zu haben, indem sie so viel Aufhebens um eine Passage gemacht haben, die doch nur als Einleitung zum eigentlichen Thema gedacht war. Auch wenn die Auswahl der Passage unglücklich war, die Muslime hätten doch etwas mehr Gelassenheit zeigen und es bei einem vernehmbaren Raunen belassen können.

Den Muslimen wird denn auch von vielen Seiten vorgeworfen, sie hätten die streitbaren Passagen missverstanden und aus ihrem Zusammenhang gerissen. Aber ist dies tatsächlich so? Hat der Papst seine Beispiele nicht bewusst ausgewählt? Ist es vorstellbar, dass er die Empörung der Muslime nicht absehen konnte? Und sind die streitbaren Sätze nicht doch struktureller Bestandteil der Vorlesung? Stimmt es wirklich, dass die Muslime Benedikt XVI. nicht richtig verstanden oder gar „absichtlicher Fehldeutung“ (Kardinal Lehmann) unterzogen haben? Nachdem ich zunächst nur kurze Auszüge aus der Vorlesung zur Kenntnis genommen hatte, habe ich mir deshalb die Mühe gemacht, den Text vollständig zu lesen und den Papst richtig zu verstehen.

Warum sprach der Papst überhaupt über den Islam?

Die Einleitung des Papstes erwähnte den Islam nicht nur beiläufig, sondern ganz typisch für eine Einleitung war es seine Rechtfertigung für die Relevanz des Vortrags. Dabei hätte es sicher viele Gründe gegeben, im heutigen Europa über das Verhältnis von Theologie und Wissenschaft zu sprechen, das wissen Muslime ebenso gut wie Christen. Auch hätte der Papst sicher viele treffende Zitate in der europäischen Geschichte und in der Geschichte des Heiligen Stuhls finden können, Zitate die dann von echter Relevanz für Europa gewesen wären, bewegt sich der Hauptteil der Vorlesung doch ausschließlich im europäischen Kontext, wo das Verhältnis von Glaube und Vernunft so schwierig ist wie in keinem anderen Kulturkreis.

Der Papst entzog sich hier jedoch der Konfrontation mit dem Eigenen und projizierte dieses vornehmlich christlich-europäische Problem in den Islam, um es dann souverän aus der Ferne behandeln zu können. Damit erfand er leider nichts Neues: Es gehört seit jeher zur Wahrnehmung des Islam durch das christliche Europa, dass es eigene Probleme und Sehnsüchte in ihn hinein projiziert. So spielt der Harem in der europäischen Vorstellung von der islamischen Welt eine viel größere Rolle als bei den Muslimen. Das Problem Europas mit seinem Klerus und folgerichtig auch die Notwendigkeit der Aufklärung nach europäischem Vorbild, das Problem des Schriftverständnisses und die Notwendigkeit der historisierenden Hermeneutik analog zur Bibelhermeneutik: der Islam ist in der Vorstellung eines großen Teils des europäischen Geistes dem „dunklen“ mittelalterlichen Christentum verblüffend ähnlich: Der Islam als das dunkle Alterego der eigenen Vergangenheit. Warum also das eigene Problem über den Umweg der fernen Geschichte angehen, wenn es sich doch an einem gegenwärtigen Phänomen anschaulich darstellen lässt?

Doch ist es nicht nur diese freudianische Interpretation der päpstlichen Einleitung allein, die ihren Zusammenhang mit dem gesamten Vortrag erklärt. Auch wenn es um ein europäisches Problem ging, so war die Vorlesung doch auch an die Adresse der Muslime gerichtet. Eine Aufforderung an die Muslime, ihre Theologie den Erfordernissen der Vernünftigkeit anzupassen. Man könnte dem Papst auch böswillig unterstellen, er habe die stereotype Wahrnehmung des Islam in Europa bestätigen und auffrischen wollen.

Worin haben die Muslime den Papst falsch verstanden?

Was hat der Papst nun über den Islam gesagt, worin ihn die Muslime falsch verstanden haben sollen? Er hat Manuel II., einen byzantinischen Kaiser, mit den Worten zitiert, Muhammad habe „nur Schlechtes und Inhumanes“ gebracht und vorgeschrieben, „den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“. Die Glaubenverbreitung durch Gewalt sei jedoch „widersinnig“, und „nicht vernunftgemäß zu handeln“ sei dem Wesen Gottes zuwider. Papst Benedikt XVI. erklärte im Nachhinein, dies sei nur ein Zitat und gebe keineswegs seinen eigenen Standpunkt wieder. Dann hört man hier und da, dieses Zitat sei aus seinem Zusammenhang gerissen worden. Ist dies tatsächlich so?

Zunächst gilt die grundsätzliche Regel, wonach ein unkommentiertes Zitat auch seine Bestätigung bedeutet, zumal wenn es wie im vorliegenden Fall in die eigene Argumentation eingebunden ist. Betrachtet man den unmittelbaren Textzusammenhang des Zitats in der Vorlesung, dann hat man aber das Gefühl, dass der Papst diese Aussage nicht nur bestätigen, sondern eher noch bekräftigen wollte. Bevor er zu dem eigentlichen Zitat kommt, führt er nämlich einen kurzen Vorspann an, der sich wie eine Vorwegnahme von Gegenargumenten gegen das Zitat liest. So zum Beispiel das Argument, der Koran verbiete den Zwang in Glaubenssachen oder der Islam respektiere den Glauben der Schriftbesitzer. Letzteres seien Einzelheiten, also nicht wesentlich zum Thema gehörend. Das Verbot des Glaubenszwangs stamme aus der Zeit, als Muhammad noch schwach war und sei in den späteren Gesetzen zum „Heiligen Krieg“ aufgehoben worden. Und im Absatz davor erwähnt er, bei der Lektüre des langen Textes habe ihn dieser Punkt sogar „fasziniert“. Das ist nun sogar deutlich mehr als eine Bestätigung. Mir ist natürlich klar, dass der Papst nicht von der Formulierung zum Propheten „fasziniert“ war, sondern von der Aussage, nicht vernunftgemäß zu handeln sei dem Wesen Gottes zuwider. Aber für jemanden, der den Papst nicht kennt, ergibt sich dies nicht selbstverständlich aus dem Text.

Kardinal Lehmanns „Erklärungen“ wollen nur ablenken

Dem Papst ging es um Glaube und Vernunft und er hat ganz klar den Islam als Beispiel für ein Missverhältnis zwischen beiden vor Augen. Dies zu bekräftigen zitiert er auch Ibn Hazm, einen berühmten andalusischen Gelehrten des 11. Jahrhunderts, mit einer entsprechenden Aussage über das Wesen Gottes. Diese Aussage wird wiederum kommentarlos angeführt. Schon oben hatte der Papst Manuel II. so zitiert, dass die Behauptung im Raum blieb, nach islamischer Auffassung könne Gott auch vernunftwidrig handeln. Dies bestätigt er noch einmal durch den – aus dem thematischen Zusammenhang gerissenen – Verweis auf diesen großen muslimischen Gewährsmann. Dann fährt er fort und erkennt an dieser Stelle einen „Scheideweg im Verständnis Gottes“: Auf der einen Seite das Gottes- und Religionsverständnis der Muslime, auf der anderen den „auf der Bibel gründenden Gottesglauben“, der sich in tiefem Einklang befindet zu „dem, was im besten Sinn griechisch ist“. Der genannte „Scheideweg“ fordere uns überdies „heute ganz unmittelbar“ heraus. Damit ist klar: die Relevanz des Themas sieht der Papst durch die Abwesenheit der Vernunft in der islamischen „Gottesvorstellung“ und „Religionsausprägung“ gegeben.

Worin besteht im Text der Vorlesung der „Scheideweg“ sonst, wenn nicht in diesem Punkt? Hier bleibt uns auch Kardinal Lehmann die Antwort schuldig, wenn er das Gegenteil behauptet. Er erklärt, es sei in der Vorlesung darauf angesprochen, „dass es auf Seiten aller Religionen der Reflexion auf die universale Verbindlichkeit der Vernunft bedarf“, was zwar zutreffen mag, aber nicht mehr als eine diplomatische Ablenkung vom eigentlichen Streitpunkt ist.

Das Zitat Manuels II. war also ganz und gar nicht nur beiläufig eingebaut und auch nicht „gar nicht so gemeint“. Für die Vorlesung insgesamt macht sie nur Sinn, wenn man sie zumindest im Großen und Ganzen als Meinung des Papstes auffasst. Da spielt es kaum eine Rolle, dass er es mit eigenen Worten nicht so formuliert hätte, dass er zum Beispiel die Worte „nur Schlechtes und Inhumanes“ zur Umschreibung der Botschaft Muhammads sicherlich nicht benutzt hätte. Als seine eigene Meinung stellt er jedenfalls die historisch falsche Behauptung der gewaltsamen Bekehrung zum Islam auf und führt sie auf den Propheten Muhammad zurück. Und damit bestätigt er wieder einmal die Rhetorik vom „islamischen heiligen Krieg“, die Europa und vor allem die christliche Religion ungebrochen pflegt, auch Kardinal Lehmann bei der Verteidigung des Papstes am 19. September. Doch der Begriff des „Heiligen Krieges“ ist und bleibt ein Begriff aus der christlichen Geschichte, auch wenn der christliche Präsident der USA zurzeit mit seiner Kreuzzugsrede drohte, ihn von dort in die Gegenwart zu holen. Durch die ständige Wiederholung dieser Fehlübersetzung von Djihad wird sie nicht weniger falsch.

Als Muslim gehöre ich zu jener Schule, die den Koran gerne interpretiert und auch gerne hinter den unmittelbaren Wortsinn zu schauen versucht. Aber dafür müssen sich Anhaltspunkte aus dem Text selbst, aus den historischen und aktuellen Umständen des Textes oder, um mich in die Begrifflichkeit dieses Kontextes einzureihen, aus der „Vernunft“ ergeben. Genauso sollten wir bereit und offenherzig genug sein, vom Wortlaut der päpstlichen Vorlesung abzusehen und sie umzuinterpretieren. Dazu muss es aber konkrete Anhaltspunkte geben. Diese fehlen jedoch im Text selbst gänzlich. An dieser Stelle geht es mir nicht darum, ob dies tatsächlich der persönlichen Meinung des Papstes entspricht – dass dies nicht so ist hat er ja bereits eindeutig erklärt – sondern um das, was der Text sagt, der ja allein die Muslime empört hat und dessen Falschverständnis man ihnen vorwirft.

Die Muslime stört auch nicht die Aussage des byzantinischen Kaisers, denn die hat ihren eigenen historischen und textlichen Zusammenhang. Die christlich-islamische Diskussion der damaligen Zeit wurde ja auch von Seiten der Muslime durchaus schroff geführt. Und so manche ihrer Aussagen könnte heute an geeigneter Stelle unkommentiert zitiert für Empörung auf der christlichen Seite sorgen. Deshalb ist eine ausführliche Erläuterung zur Aussage Manuels II., wie sie Kardinal Lehmann anführt, zwar historisch sehr interessant und lesenswert, sie führt aber im aktuellen Zusammenhang an der Sache vorbei. Für die Reflexionen Manuels II. war sie ja ohnehin nur „marginal“, wie Papst Benedikt XVI. selbst in seiner Vorlesung erklärt hat. Sie war aber nicht marginal für den Textaufbau der päpstlichen Vorlesung.

Der Vatikan hat die Entrüstung der Muslime vernommen und ist nun um Beschwichtigung bemüht. Von offizieller Stelle hieß es, man wolle den Muslimen die Aussagen des Papstes „erklären“. Eine „diplomatische Offensive“ soll dazu helfen. Seine Aussagen seien in den Medien falsch wiedergegeben worden. Nun ist der Papst kein Oberschullehrer, aber den berühmten oberschullehrerhaften Tonfall hat der Vatikan hiermit gut getroffen.

Aristoteles, Ibn Ruschd und die christliche Philosophie

Ebenso wie der Papst Wissenschaftsfeindlichkeit und den „heiligen Krieg“ in die Sphäre des Islam und damit geschickt aus der eigenen Geschichte hinausmanövriert, genauso fährt er im Hauptteil seiner Vorlesung fort und spricht vom tiefen Einklang zwischen dem christlichen Glauben und der hellenischen Philosophie. Seine Ausführungen über die Enthellenisierungswellen, die erst mit der Reformation beginnen, lesen sich so, als sei das Christentum schon immer rational gewesen im hellenischen Sinn. Im „besten hellenischen Sinn“, denn sie umfasste ja auch die Dimension des Göttlichen. Dass Aristoteles im christlichen Mittelalter Westeuropas erst durch Ibn Ruschd, einem ausgewiesenen Aristoteliker unter den muslimischen Philosophen bekannt wurde, dass die Aussöhnung der christlichen Theologie mit Aristoteles auch eine Aussöhnung mit Ibn Ruschd war, dass schon viele Historiker die Inspiration der christlichen Scholastik durch die islamische Scholastik verifiziert haben, dass das Christentum im Zusammenhang mit der Entdeckung der Vernunft dem muslimischen Andalusien sehr viel zu verdanken hat, alles das klingt in der Vorlesung an keiner Stelle an, obwohl es durchaus hätte anklingen können, wenn der Papst schon das Vernunftsproblem auch mit der islamischen Welt in Verbindung bringt. Wie hätte er auch, stünde es doch im Widerspruch zu der genannten Identifizierung des „Scheidewegs“ zwischen dem Christentum des Logos und der islamischen Vorstellung vom vernunftswidrig handelnden Gott.

Als Muslime sind wir es inzwischen mehr als gewohnt, dass unsere Religion mit Attributen und einer Terminologie versehen wird, die Europa aus seiner eigenen Geschichte kennt. Das stört mich inzwischen nicht mehr, auch wenn es mich nervt. Aber spätestens seit Papst Johannes Paul II. haben wir Muslime großen und unmittelbaren Respekt vor diesem höchsten Amt der christlichen Welt und vor seinem Inhaber. Deshalb ist diese Vorlesung des Papstes irgendwo doch verletzend. Sonst wäre sie für mich wohl genauso unbedeutend geblieben, wie die bekannten Aussagen Berlusconis zur zivilisatorischen Überlegenheit Europas gegenüber dem Islam.

Ohne die unglücklichen Zitate hätte die Vorlesung eine fruchtbare Diskussion anstoßen können

Es wäre viel interessanter gewesen, sich mit den eigentlichen Thesen der Vorlesung auseinander zu setzen, etwa mit der Wesensverwandtheit des christlichen Europa mit der hellenischen Philosophie, mit der Beziehung des byzantinisch-orientalischen Christentums zum Hellenismus und zum christlichen Europa, und vor allem mit der These der Entleerung des modernen Vernunftsbegriffs um den Gottesbezug und sich hier vor allem mit Kant zu beschäftigen, mit dem wir Muslime uns übrigens theologisch sehr gut anfreunden können.

Wir könnten in diesem Zusammenhang die Frage stellen, warum Europa das Christentum der Kreuzzüge, Inquisition, Zwangsbekehrungen und Hexenverbrennungen, des Dreißigjährigen Krieges nur durch die weitgehende Abkehr von der weltlichen Relevanz der Religion überwinden konnte, die schließlich in den vom Papst kritisierten Vernunftbegriff mündete. Warum musste Europa diesen Weg gehen? Hat das etwas mit der spezifischen Beziehung der Christen zu ihrer Schrift zu tun, mit der Institutionalisierung der Religion in der Kirche, oder gar mit ihrem Verständnis von der Immanenz des Göttlichen? Was versteht der Papst genau unter einem „weiten Vernunftsbegriff“ und warum hat sich Europa für den verengten statt für ihn entschieden?

Als Europa dann in vollem Vertrauen auf die „verengte“ menschliche Vernunft den Menschen an die Stelle Gottes gesetzt hatte, war der Weg zum Wahnsinn des „Übermenschen“ sehr kurz: die brutale Unterwerfung der restlichen Welt, Nationalismus und Rassismus, Stalin, Hitler, wobei bei der Unterwerfung der Welt zu Beginn die Kirche ja noch durchaus in ihrem Sinne mitgewirkt hatte. Seit den Zweiten Weltkrieg erlebt Europa, vielleicht zum ersten Mal in seiner langen Geschichte, eine Phase der Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenwürde – so nimmt es jedenfalls wahr, wenn man in Europa lebt. Wie nachhaltig sind die ethischen Werte dieser so oft beschworenen Wertegemeinschaft Europas, die bisher nur sechzig Jahre gehalten hat und hier und da schon zu bröckeln beginnt? Was ist problematisch an der „engen“ Vernunft der europäischen Moderne? Ist es tatsächlich so, um es mit dem bei uns Religiösen so beliebten Satz Heideggers zu sagen, dass nur ein Gott die Welt retten kann?

Vielleicht ergäbe sich daraus auch der Brückenschlag zur Frage, was heute im Unterschied zu Europa in der islamischen Welt wirklich drängend ist: nicht ihr Verhältnis zur Vernunft – mit ihr befindet sich der islamische Geist seit jeher in vergleichsweise guter Harmonie – sondern ihr Verständnis der Schrift. Wo liegen im islamischen Kontext die Ursachen für politischen Fatalismus, religiöse Starre, wirtschaftliche Lethargie, kulturelle Hilflosigkeit?

Die Frage allerdings, warum zum Beispiel die „christlichen“ USA und das „jüdische“ Israel mit Kampfbombern und die „muslimischen“ Terroristen mit Zugbomben Zivilisten töten, diese Frage können weder Theologie noch Philosophie beantworten, auch wenn wir den Islam noch so sehr mit dem „Heiligen Krieg“ in Verbindung zu bringen versuchen. Hier sind Soziologen, Psychologen und Politikwissenschaftler sicher die besseren Berater. Ich würde mich aufrichtig freuen, wenn diese unselige Ära des „Diskurses“ endlich vorbei ist.

Im Diskurs Europas und der islamischen Welt, der auch Papst Benedikt XVI. in dieser Vorlesung ein Anliegen war, wird es in der nächsten Zeit vor allem um die Frage gehen, was wir voneinander lernen können. So wie Europa vor Jahrhunderten mit Neugier und Wissensdrang von der islamischen Welt gelernt hat, so sind wir Muslime heute dabei von Europa zu lernen. Allerdings ist das Lernen diesmal kein Wissenstransfer von einem Kulturraum in einen anderen, von einem Kulturalter in ein anderes. Heute sind wir eine Welt mit einer gemeinsamen Zukunft. Ob uns bei der Bewältigung dieser Zukunft das zirkuläre Geschichtsverständnis, das mit den Muslimen verbunden wird, aber durchaus auch bei Goethe, Spengler und dem gläubigen Christen Toynbee zu finden ist, oder das eher fortschrittsorientierte Geschichtsverständnis, das Europa und dem Christentum zugeschrieben wird, die besseren Schlüssel hierzu liefern werden, das wird die Zukunft selbst zeigen. Es wird ein gegenseitiges Lernen vor allem auf dieser Ebene sein. Vielleicht wird es auch weniger um das Lernen selbst gehen, sondern mehr darum, endlich zu zeigen, was wir in den vielen Jahrhunderten gelernt haben.

Aber vielleicht bietet uns Papst Benedikt XVI. hierzu doch noch eine „klare“ Gelegenheit. Ich würde mich freuen und ziehe gerne den Schwamm über diese Sache.


Zum Autor: Mohamed Laabdallaoui (35, Deutsch-Marokkaner), Wirtschaftsingenieur und Islamwissenschaftler. Er ist seit knapp 10 Jahren Dozent für theologische Fragen beim Zentralrat der Muslimen in Deutschland und in der muslimischen Community ein profilierter Islamkenner unter den hier in Deutschland geborenen Muslimen. Auch als Kenner des Korans und der arabischen Sprache übersetzt er Texte und Bücher und hält seit Jahren Freitagspredigten in seiner Heimatgemeinde bei Frankfurt.



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