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Mittwoch, 24.02.2021

Redetext von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkveranstaltung am ersten Jahrestag des Anschlags in Hanau und zu den bisher unaufgeklärten Ge­scheh­nissen

Der 19. Februar 2020 von Hanau hat sich eingebrannt in unser Gedächtnis. Ein Jahr nach den brutalen Morden sind wir heute wieder hier beisammen, um der furchtbaren Ereignisse zu gedenken – und vor allem, um der Opfer zu gedenken. Um ihre Namen zu nennen, ihre Namen zu erinnern und nicht zu vergessen. Sich noch einmal dem Schmerz und der Trauer zu stellen, das ist für uns alle an diesem Tag ein schwerer Gang. Aber das gilt zuallererst für Sie, die Angehörigen, die engen Freunde der Ermordeten und die beim Attentat Verletzten, die Sie jetzt hier sind oder – wegen Corona – diese Stunde des Gedenkens am Bildschirm mit uns teilen. Sie alle haben Menschen verloren, die zu Ihnen gehörten, deren Gesichter und deren Art Ihnen vertraut, Teil Ihres Lebens waren. All diese geliebten Menschen, sie waren einzigartig und einmalig. Und deshalb – auch wenn die Opfer und auch wenn Sie, die Angehörigen, hier von einem grausamen Geschehen gemeinsam betroffen sind – so ist doch auch die Trauer und der Verlust, die ein jeder und eine jede verspürt, einmalig und ganz besonders.   Deswegen gedenken wir hier jedes einzelnen Namens und jeder einzelnen mit diesem Namen verbundenen Lebensgeschichte. Und deswegen kann hier jeder seiner ganz persönlichen Trauer noch einmal Raum geben, jenem ganz persönlichen Abschiedsschmerz, den jeder und jede allein für sich zu tragen hat, dessen Last niemand abnehmen kann, so sehr wir uns auch gegenseitig stützen und trösten mögen. Natürlich können wir nicht übersehen, was die Toten, um die wir trauern, verbindet. Sie alle sind Opfer eines Täters geworden, der in mörderischer Verblendung in ihnen eine ganz bestimmte Gemeinsamkeit sehen wollte. Allen Opfern war in seinen Augen gemeinsam, dass sie nicht hierhergehören sollten, nicht hierher nach Hanau, wo die Ermordeten lebten, wo sie geboren oder wohin sie gekommen waren, wo sie ihre Heimat hatten und von wo aus sie ihre Lebenspläne machten und verwirklichen wollten. Der Täter maßte sich das Recht an, zu entscheiden, wer hierhergehört und wer nicht. Er maßte sich das Recht an, zwischen „Wir“ und „Die“ zu unterscheiden; darüber zu richten, wer hier leben dürfe und wer nicht. Er maßte sich das Recht an, über Leben und Tod anderer zu entscheiden. Jeder einzelne Mensch, um den wir trauern, war einerseits ein zufälliges Opfer, weil er gerade dort war, wo der Täter seinen mörderischen Plan umsetzen wollte. Andererseits waren die Opfer alles andere als zufällig: Weil sie in der hasserfüllten Vorstellung des Täters nicht hierhergehörten, waren sie das präzise Ziel seines tödlichen Plans. Auch deswegen hat diese Tat ein solches Entsetzen ausgelöst, gerade unter allen Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Sie wissen: Jeder andere von ihnen hätte Opfer dieses mörderischen Anschlags werden können. Und vermutlich wollte der Täter seine Tat genauso verstanden wissen: als Fanal, als Kampfansage an gefundene Formen friedlichen Zusammenlebens. Diese perfide Botschaft verbreitet deswegen nicht nur Entsetzen, sondern vor allem auch Angst. Diese Angst haben viele, nicht nur in Hanau. Und ich kann diese Angst verstehen. Der Täter hat seine Ideen ja nicht nur aus sich heraus und von allein entwickelt. Er hat durch sein Umfeld, durchs Internet und soziale Medien eine Vorstellungswelt kennengelernt, in der sein Rassismus und seine in „Wir“ und „Die“ unterteilte Weltsicht immer wieder geprägt und verstärkt worden sind. Diese von Hass und Vernichtungsphantasien bestimmte Weltsicht wird immer noch, Tag für Tag, verbreitet – von Menschenfeinden, die wissen, was sie tun. So wie der Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke kein Zufall war, und auch nicht das Attentat auf die Synagoge in Halle, so waren auch die Morde in Hanau kein Zufall. Die Taten waren von gezielt gesteuertem Hass initiiert, die Täter davon ermutigt. Hass, Rassismus, Hetze gegen Muslime und Juden, Überlegenheitsphantasien: all das richtet sich sehr genau gegen sehr bestimmte Menschen. Menschen, die unter uns leben, die zu uns gehören, zu unserer Stadt und unserer Nachbarschaft, die mit uns dieselben Schulen besuchen, in denselben Läden einkaufen, derselben Arbeit nachgehen. So viel gemeinsamer Alltag, der zeigt, dass wir zusammengehören – trotz unserer Unterschiede! Aber die Wahrheit ist: Es gibt die, die schon auf Verschiedenheit mit Feindschaft antworten; die sich in einer Welt einrichten, in der nur die eigene Vorstellung ihren Platz hat; die sich selbst erhöhen, indem sie das Andere abwerten; für die klar ist, dass Verschiedenheit bekämpft werden muss. Und genau das soll durch Ideologie und Lüge, durch Hetze und Ausgrenzung in unsere Köpfe gehämmert werden. Die bösartige Menschenfeindlichkeit, die sich im Netz oder anderswo zeigt, ist das gefährliche Gift einer kleinen Minderheit – aber ein Gift, das Wirkung hat. Das immer wieder Menschen glauben macht, sie dürften im Namen eines angeblichen Volkswillens andere Menschen demütigen, bedrohen, jagen oder gar ermorden. Was kann unsere Antwort auf die schrecklichen Taten von Hanau sein? Was muss unsere Antwort sein? Viele Antworten, viele gute, ja sehr gute Antworten sind schon gegeben worden. Hass und Rache waren nicht dabei. Das Böse wird nicht durch Böses besiegt. Bei den guten Antworten denke ich zum Beispiel an die vielen spontanen Demonstrationen und Mahnwachen, die direkt nach den furchtbaren Meldungen hier aus Hanau überall im Land stattgefunden haben. „Hanau steht zusammen“ war eine dieser ersten spontanen Aktionen, die wiederum andere nach sich zogen. Ich weiß: Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, die bei Sinn und Verstand sind und ein Herz haben, wollen ein friedliches Zusammenleben. Sie wollen nicht unterscheiden zwischen „Wir“ und „Die“. Sie möchten ein „Wir“ – und sie setzen sich überall in unserem Land dafür ein, dass Hass und Gewalt, dass Missachtung und Respektlosigkeit unter uns keinen Platz haben. Sie setzen sich dafür ein, dass wir alle ohne Angst verschieden sein können, dass wir alle, ohne Angst voreinander, miteinander leben können. Ich denke an vieles, was hier in Hanau geschehen ist, für Sie und mit Ihnen, den Angehörigen der Opfer – aber gerade auch an das, was von Ihnen selbst ausgegangen ist. Ich denke dankbar an die Begegnung mit Ihnen im Schloss Bellevue, bei der wir versucht haben, die furchtbare Tat und die Folgen für jede einzelne Familie noch einmal aufzuarbeiten. Ein Weg, der für Sie sicher nicht einfach war. Ich denke an die praktischen, die psychologischen, auch materiellen Hilfen, die hier von Stadt, Land und Bund gegeben worden sind, aber vor allem an die zahlreichen Beweise von ganz einfacher  Mitmenschlichkeit. Viele ganz normale Menschen, ohne Amt und Auftrag, haben hier etwas getan, für das sie gewiss keinen besonderen Dank erwartet haben. Ich will aber trotzdem gerade heute allen danken für ihre Zugewandtheit und Hilfe, als sie sich gebraucht wussten, für all das, was sie für eine gute, eine bessere Zukunft hier in Hanau getan haben und weiterhin tun. Die Stadt Hanau und die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadtgesellschaft haben hier ein mitbürgerliches Engagement gezeigt, wie ich es in dieser Form und Vielfalt selten erlebt habe. Dafür möchte ich hier als Bundespräsident noch einmal ausdrücklich danken. Der Name Hanau steht nicht nur für ein schlimmes Verbrechen – er steht auch für eine liebenswerte Heimat, in der man sich kennt, sich hilft und füreinander da ist. Zu den wichtigen, aber ganz und gar nicht selbstverständlichen, engagierten Initiativen gehören vor allem die Patenschaften, die „Initiative 19. Februar Hanau“ oder die „Bildungsinitiative Ferhat Unvar“, und so vieles andere, was im Kleinen und Großen geschehen ist, bis hin zur Errichtung und Pflege der Gedenkstätten für die Toten und die Ehrengräber und das „digitale Denkmal“ am heutigen Jahrestag. Wir wissen: Nichts, von dem was geschehen ist, kann wirklich wiedergutgemacht werden. Aber die vielen kleinen Beiträge, von denen ich gesprochen habe, können vielleicht zu etwas führen, was für manche heute vielleicht noch ein zu großes Wort sein mag, das aber das Ziel all unserer, all Ihrer Bemühungen sein könnte: Vertrauen – Vertrauen in diese Stadt, in dieses Land, das unsere gemeinsame Heimat ist und bleiben soll. Ich weiß, dass es trotz allem, was an Gutem geschehen ist, auch Kritik und Fragen an das staatliche Handeln gegeben hat und weiterhin gibt. Ich bin als Bundespräsident nicht hier, weil ich Antworten auf alle offenen Fragen habe. Nein, ich bin hier, weil mich zutiefst bedrückt, dass unser Staat sein Versprechen von Schutz, Sicherheit und Freiheit, das er allen gibt, die hier gemeinsam friedlich leben, gegenüber Ihren Angehörigen nicht hat einhalten können. Ich weiß: Das berührt Ihr Vertrauen in diesen, in unseren, in Ihren Staat. Das darf uns nicht gleichgültig sein, denn der Staat braucht Vertrauen. Justiz und Polizei brauchen Vertrauen. Was sie, Polizistinnen und Polizisten, gerade in extremen Situationen, aushalten müssen und leisten, wird oft weder gesehen noch respektiert. Und ich beziehe auch die ärztlichen und pflegerischen Notfalldienste ausdrücklich ein. Aber – auch der Staat und alle, die in ihm Verantwortung tragen, sind nicht unfehlbar. Nirgendwo, auch nicht in Deutschland. Und wo es Fehler oder Fehleinschätzungen gab, da muss aufgeklärt werden. Aufklärung und Aufarbeitung stehen nicht in freiem Ermessen. Sie sind Bringschuld des Staates gegenüber der Öffentlichkeit und vor allem gegenüber den Angehörigen. Nur in dem Maße, in dem diese Bringschuld abgetragen wird und Antworten auf offene Fragen gegeben werden, kann verlorenes Vertrauen wieder wachsen. Deshalb müssen wir uns so sehr darum bemühen. Der Staat ist gefordert. Aber genauso sind wir es, jeder und jede von uns. Viele, sehr viele zeigen es Tag für Tag: im selbstverständlichen Miteinander des alltäglichen Lebens oder in besonderen Initiativen, die unser Gemeinwesen schützen und tragen. Und wir spüren und erfahren: Wir sind dabei nicht allein! Wer sich für friedliches Zusammenleben einsetzt, ist in bester Gesellschaft. Wer Ausgrenzung ablehnt – und zwar jede Ausgrenzung – findet Freunde, Nachbarn, Mitbürgerinnen und Mitbürger, die genauso denken und handeln. Ich versichere Ihnen: es ist die überwältigende Mehrheit der Menschen in unserem Land! Ein Jahr ist es her. Ist die Trauer nun gewichen? Ist der Schmerz geringer, die Wut verflogen? Sind alle Fragen beantwortet? Nein. Keineswegs. Doch als Bundespräsident stehe ich hier und bitte uns: Lasst nicht zu, dass die böse Tat uns spaltet! Übersehen wir nicht die bösen Geister in unserer Mitte – den Hass, die Ausgrenzung, die Gleichgültigkeit. Aber lasst uns glauben an den besseren Geist unseres Landes, an unsere Kraft zum Miteinander, zum gemeinsamen Wir! Wenn wir diese Botschaft verinnerlichen und hier aus Hanau mitnehmen, dann ist die heutige Stunde der Erinnerung und der Trauer auch eine Stunde der Hoffnung und der Zuversicht: für Hanau, für Hessen und für ganz Deutschland – unsere uns allen gemeinsame Heimat.



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