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Sonntag, 11.01.2004

Leserbriefe



Frieden in Schule und Gesellschaft – mit dem Kopftuch! schrieb:



Diese Stellungnahme zum „Kopftuchurteil“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 24. September 2003 wird von Christen und Muslimen herausgegeben, die in dem Projekt „Christlich-islamische Friedensarbeit in Deutschland“ zusammen arbeiten. Träger dieses Projekts sind die „Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden“ (AGDF), „Pax Christi“ Deutsche Sektion, der „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ und die „Schura, Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg“.
Integration ist geboten, um Frieden in Schule und Gesellschaft zu gewinnen
Integration bedeutet, dass Mehrheit und Minderheit sich aufeinander einlassen. Integration ist etwas anderes als Assimilation. Assimilation verlangt von der einen Seite die Aufgabe der eigenen Identität, kann also keinen Frieden bringen. Der Islam ist in Deutschland und Europa auf Dauer ein Bestandteil der Gesellschaft geworden. Die islamische Religionsgemeinschaft muss sich gleichberechtigt in die deutsche und europäische Gesellschaft einbringen können.

Die Bevölkerung islamischer Religionszugehörigkeit oder Herkunft bildet in Deutschland die größte religiöse Minderheit. Es ist richtig, wenn immer wieder fest gestellt wird, die deutsche Gesellschaft sei von den Traditionen und Werten des christlichen Abendlandes geprägt. Doch muss unterstrichen werden, dass diese Gesellschaft den Prozess der Aufklärung und Säkularisierung durchlaufen hat, der zur Trennung von Staat und Kirche sowie zur positiven Bestätigung gesellschaftlicher – und das heißt auch: religiöser – Pluralität geführt hat. Es gehört zur heutigen gesellschaftlichen Pluralität, dass sich ein gewichtiger Anteil der deutschen und europäischen Bevölkerung überhaupt keiner Religion zugehörig weiß.

Ein Schlüsselbereich, in dem sich die Aufgabe der Integration entscheidet, ist der staatliche Auftrag zur Erziehung und Bildung, sprich: die öffentliche Schule. Die Befähigung zum gleichberechtigten Miteinanderleben in einer pluralen Gesellschaft muss vorrangig in der Schule eingeübt werden. Umgekehrt erweist sich die Bereitschaft des Staates, die gesellschaftliche Integration voran zu bringen, in erster Linie im Bereich der Schule. Deshalb ist der „Kopftuchstreit“ weit über die Frage beamtenrechtlicher Rahmenbedingungen für muslimische Lehrerinnen hinaus ein Thema von gesamtgesellschaftlicher Relevanz.
Das Kopftuch – Ausdruck religiöser Überzeugung
Wenn Frauen islamischen Glaubens sich entscheiden, das Kopftuch zu tragen, folgen sie damit einer Aufforderung ihrer Religion. Darin ist sich die islamische Lehrtradition weithin einig: Unter Berufung auf den Koran (Sure 24, Verse 31 und 60und Sure 33, Vers 59) wird gläubigen Frauen geboten, in der Öffentlichkeit auch ihre Haare zu bedecken. Das Kopftuch bildet indes, anders als das Kreuz in der christlichen Tradition, kein religiöses Symbol für den Islam, sondern hat sich als praktisch erwiesen, um diesem Gebot nachzukommen. Nach dem Selbstverständnis des Islam darf in Angelegenheiten der Religion kein Zwang ausgeübt werden (vgl. Sure 2, Vers 256), zumal die unmittelbare Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott und seine freie Willensentscheidung die Basis für seine Verantwortlichkeit bilden. Die Befolgung religiöser Gebote liegt also ausschließlich im Entscheidungsbereich jedes einzelnen Menschen und darf nicht erzwungen werden. Wenn eine Frau sich persönlich entscheidet, kein Kopftuch zu tragen, bedeutet das ebenso wenig zwangsläufig die innere Ablehnung des Islam wie das Tuch auf dem Kopf einer anderen nicht zwangsläufig deren Frömmigkeit bescheinigt.

Diesen im Islam selbst angelegten Grundsatz von religiöser Überzeugung, freier Entscheidung und persönlicher Verantwortung gilt es zu stärken und durchzusetzen. Er entspricht dem Menschenbild, das dem Grundgesetz und dem daraus abgeleiteten Staatsverständnis zu Grunde liegt: „Der freiheitliche Staat des Grundgesetzes ist gekennzeichnet von Offenheit gegenüber der Vielfalt weltanschaulich-religiöser Überzeugungen und gründet dies auf ein Menschenbild, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung geprägt ist“(BVerfG). Das Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit auch in der Öffentlichkeit (Art. 4 GG) und auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern unabhängig vom religiösen Bekenntnis (Art. 33 GG) gehören zum Grundbestand eines so bestimmten Staates.

Wir appellieren an die islamischen Familien, Gemeinden und Gruppierungen in unserem Land, die Selbstbestimmung und religiöse Freiheit der Mädchen und Frauen, die zu ihnen gehören, zu respektieren. Im Namen des Islam haben sie ein Recht, ihrer Überzeugung zu folgen und das Kopftuch zu tragen oder es nicht zu tragen. Zwang von Eltern oder geistlichen Autoritäten entspricht nicht dem Wesen des islamischen Glaubens.

Wir appellieren an die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land, an Christen, christliche Gemeinden und Kirchen, das religiöse Selbstverständnis der muslimischen Minderheit, die unter uns lebt, zu respektieren. Dazu gehört es, deren religiöse Sichtweisen kennen zu lernen und mit Urteilen von außen, die leicht aus gesellschaftlicher oder kultureller Fremdheit erwachsen, Zurückhaltung zu üben. Es ist nicht ein Zeichen der Stärke, wenn von christlicher Seite gefordert wird, der Staat solle das Kopftuch verbieten. Menschen, die ihres Glaubens sicher sind, sollten damit offener und gelassener umgehen können.
Das Kopftuch – Signal des gesellschaftlichen Unfriedens?
Wir sind uns bewusst, dass auch in unserem Land mit dem Tragen des Kopftuchs Zwang und Unterdrückung verbunden sein können. In der Diasporasituation, verschärft durch die schwierigen Erfahrungen der Zuwanderung, kommt der Wahrung familiärer Verbundenheit besondere Bedeutung zu. Das führt leicht zu verkrampften Haltungen. Deshalb kann es passieren, dass in Zuwandererfamilien die Mädchen und Frauen zum Tragen des Kopftuchs gezwungen werden. Hier wird die Religion als Druckmittel missbraucht , um emanzipatorische Entwicklungen zu verhindern und männliche Herrschaftsformen aufrecht zu erhalten. Im Interesse der in diesem Sinne unterdrückten Mädchen und Frauen sind gerade hier Brückenpersonen (wie Kopftuch tragende Lehrerinnen) nötig, um überhaupt einen Kontakt zu den Familien herstellen und mit innerer Kenntnis ihrer Religion auf Missverständnisse und Menschenrechtsverletzungen aufmerksam machen zu können.

Solche Tendenzen werden verstärkt durch „fundamentalistische“ Kräfte in der islamischen Welt. In vielen islamischen Gesellschaften bilden sie lediglich ein Element in einem vielfältigen Spektrum. In einzelnen Ländern bestimmen sie jedoch Gesetzgebung und öffentliche Ordnung. Sie vertreten eine rigide Haltung: das gesamte Leben der Gesellschaft soll normiert werden, es gibt keinen Platz für liberale und plurale Lebensformen, für Demokratie und Selbstbestimmung.

Dies ist mit unserem Verständnis von Islam nicht vereinbar. Die Christen und Muslime, die in dem Projekt „Christlich-islamische Friedensarbeit in Deutschland“ zusammen wirken, stehen auf dem Boden des Grundgesetzes und bejahen entschieden die darin formulierten Werte und Grundrechte, die für jeden Mann und jede Frau gleichermaßen gelten. Wir setzen uns ein für den sozialen Frieden in der deutschen und in der europäischen Gesellschaft sowie für die Herausbildung einer islamischen Identität, die hier verwurzelt ist. Deshalb erfüllt es uns mit Sorge, dass immer wieder Islam und Fanatismus undifferenziert gleichgesetzt werden und viele Gegner und Gegnerinnen aus der christlichen oder säkularen Mehrheitsbevölkerung in jedem Kopftuch einer muslimischen Frau ein Zeichen der politischen Abgrenzung, der Unterdrückung von Frauen und damit eine Bedrohung unserer freiheitlichen Grundordnung und eine Verletzung der Menschenrechte sehen.

In zunehmender Zahl gibt es gerade junge muslimische Frauen in Deutschland und anderswo, die das Kopftuch als Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung tragen und das ist ihre individuelle Entscheidung und ihr eigenständiger, zeitgemäßer Lebensentwurf. Das Kopftuch ist für sie Zeichen ihrer Selbstbestimmung und mit der darin festgehaltenen Differenz zur Umwelt gerade die Voraussetzung gesellschaftlicher Integration. Ähnlich argumentieren Frauen deutscher Herkunft, die sich zum islamischen Glauben bekennen und für die das Kopftuch keineswegs einen Gegensatz zu einer aufgeklärten, modernen Lebensführung bedeutet.
Den Schulfrieden wahren
Die Weigerung, eine fachlich qualifizierte Frau als beamtete Lehrerin in den Schuldienst einzustellen, wird mit dem Argument begründet, das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin könne Schulkinder in unzulässiger Weise beeinflussen, Konflikte mit Eltern hervorrufen und somit den Schulfrieden stören. Sie verstoße gegen das für Staatsbedienstete geltende Gebot der Zurückhaltung und der staatlichen Neutralität. Gegen diese Annahme sprechen allerdings die vorhandenen Beispiele aus dem Schulalltag Kopftuch tragender Lehrerinnen, die weder Konflikte hervorriefen noch den Schulfrieden störten.

Die Trennung von Staat und Kirche ist in Deutschland, anders als etwa im laizistischen Frankreich, nicht strikt und exklusiv. Die dem Staat gebotene weltanschaulich-religiöse Neutralität ist vielmehr „als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen“ (BVerfG). Das gilt nach Auffassung des BVerfG insbesondere auch für den Bereich der Schule, in dem „seiner Natur nach religiöse und weltanschauliche Vorstellungen von jeher relevant waren“. Deshalb sind christliche Bezüge bei der Gestaltung der öffentlichen Schule nicht verboten, doch muss die Schule in gleicher Weise auch für andere religiöse Inhalte und Werte offen sein. Eine so bestimmte weltanschaulich-religiöse Offenheit verpflichtet allerdings den Staat in gleichem Maße, auf die Wahrung der negativen Bekenntnisfreiheit der Kinder und das Erziehungsrecht der Eltern zu achten: sie dürfen nicht gegen ihren Willen religiös beeinflusst werden. „In dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität. Für die Spannungen, die bei der gemeinsamen Erziehung von Kindern unterschiedlicher Weltanschauungs- und Glaubensrichtungen unvermeidlich sind, muss unter Berücksichtigung des Toleranzgebots als Ausdruck der Menschenwürde nach einem Ausgleich gesucht werden“ (BVerfG).

Der Schulfrieden darf und kann demnach nicht so gewahrt werden, dass alle religiösen Bezüge aus der Schule verbannt werden, aber erst recht nicht so, dass ein bestimmtes Bekenntnis aus dem Schulraum ausgeschlossen wird. Dies muss auch für Lehrer und Lehrerinnen gelten. Es ist nicht nur unrealistisch zu meinen, Lehrer könnten ihre Überzeugung vor dem Schulgebäude ablegen. Dies wäre auch gar nicht wünschenswert. Zum Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule gehört, unbeschadet des Erziehungsrechts der Eltern, nicht nur die Vermittlung von Wissen, sondern auch, die Schüler und Schülerinnen zu befähigen, „nach ethischen Grundsätzen zu handeln sowie religiöse und kulturelle Werte zu erkennen und zu achten“ (Niedersächsisches Schulgesetz § 2). Im offenen Diskurs sollen sie ihre persönliche Überzeugung gewinnen. Dazu gehört aber auch die Auseinandersetzung mit der vorgelebten Haltung des Lehrers oder der Lehrerin. Alles andere würde am Wesen der Vermittlung von ethischen Grundsätzen und der Achtung vor religiösen Werten vorbeigehen.

Die Kontroverse um das Kopftuch bei Lehrerinnen wird also –abgesehen von der unabdingbaren Voraussetzung, dass sie sich dem Grundgesetz und den demokratischen Werten verpflichtet wissen – zu einer Frage der pädagogischen Befähigung und Verantwortung. Diese kann jedoch nicht per Gesetz geregelt werden. Gefragt ist die staatliche Schulaufsicht und, wenn der Schulfrieden tatsächlich gestört wird, das Disziplinarrecht. Mit anderen Worten: der Staat muss jeweils im Einzelfall klären, wo die Grenze liegt zwischen einem im Sinne der Grund- und Menschenrechte schützenswerten religiösen Bekenntnis eines Lehrers oder einer Lehrerin und einer nicht hinzunehmenden, mit der Neutralität und dem Bildungsauftrag des Staates unvereinbaren Mission und Indoktrination.
Ein Gesetz gegen das Kopftuch bringt keinen Frieden
Nach allem Gesagten möchten wir eindringlich davor warnen, muslimischen Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs in Schule und Unterricht gesetzlich zu verbieten. Ein solches Verbot wäre in mehrfacher Hinsicht das verkehrte Signal. Es würde gesellschaftliche Spannungen verstärken statt Integration und sozialen Frieden zu fördern.

Ein Gesetz, das muslimische Lehrerinnen, wenn sie ihrer religiösen Überzeugung folgen, vom öffentlichen Schuldienst ausschließt, müsste von der islamischen Minderheit in Deutschland als Diskriminierung des Islam und als eine weitere Bestätigung ihrer Ablehnung durch die deutsche Gesellschaft und Öffentlichkeit verstanden werden. Erst recht ist diese Reaktion zu befürchten, wenn zwar christliche und jüdische Bekenntnisformen zugelassen würden, nicht aber islamische. Ein solcher Verstoß gegen den Verfassungsgrundsatz der Gleichbehandlung aller Religionen müsste vorhandene Tendenzen zur Aus- und Abgrenzung und zur Radikalisierung, die doch im gemeinsamen Interesse der Integration abgebaut werden sollen, gerade verstärken.

Aber auch im Interesse der Emanzipation und Gleichstellung der Geschlechter müsste ein solches Gesetz heftige Kritik auslösen. Zum einen: es wären ausschließlich Frauen von ihm betroffen. Zum andern sagen jetzt schon viele: heute trifft das Berufsverbot muslimische Lehrerinnen; werden morgen Frauen in anderen Berufen in ähnlicher Weise ausgeschlossen? Statt dessen müsste es doch im Interesse der deutschen Gesellschaft und Öffentlichkeit liegen, auch muslimischen Frauen die Ausübung ihres Berufs und damit eine selbständige Existenz zu ermöglichen. Mehr Selbstbestimmung und Modernität kann nicht dadurch erreicht werden, dass Frauen gezwungen werden, auf einen Teil ihrer Kleidung ersatzlos zu verzichten. Der Weg dahin kann nur gegenseitiger Respekt und Offenheit sein.

Hannover, 22. Dezember 2003


Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) (www.friedensdienst.de)
Pax Christi Deutsche Sektion (www.paxchristi.de)
Schura, Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg (www.schura-hamburg.de)
Zentralrat der Muslime in Deutschland (www.zentralrat.de)


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