Leserbriefe
Schluß mit der herablassenden Pseudotoleranz schrieb:
Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Streitfall zwischen Fereshta Ludin und dem Bundesland Baden-Württemberg ist wiedermal eine heiße Diskussion entfacht, die an dem Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft rüttelt.
Es ist durchaus legitim sich zu fragen, in wie weit man selbst an dieser Diskussion teilhaben und auch teilnehmen möchte oder eher die Rolle eines passiven Bürgers einnimmt, der von grund auf die politische Interesselosigkeit manifestiert. Es ist durch aus legitim sich zu fragen, ob dieser Fall eher einen Einzelfall darstellt oder ob man in Zukunft gehäuft mit dieser Art gesellschaftlichen Fragen konfrontiert wird. Die Antwort auf diese letzte Frage dürfte jedem Menschen, der in der Bundesrepublik Deutschland lebt, offen auf der Hand liegen. In den letzten mindestens 35 Jahren hat sich das Bild der deutschen Gesellschaft stark verändert. Aus einer mehr oder minder homogenen Nachkriegsgesellschaft entwickelte sich durch die Zuströme von Emigranten eine heterogene Mischgesellschaft, die viele verschiede kulturelle Einflüsse aufzeigt. Durch das Zuströmen von neuen kulturellen Einflüssen haben sich neben dem Gesellschaftsbild auch die Grundpfeiler der gesellschaftlichen Selbstdefinition verändert.
Heute bedarf es nicht mehr, dass man als Deutscher gilt nur wenn Eltern, Großeltern, Urgroßeltern deutsche waren, in Deutschland gelebt und Deutsch gesprochen haben. Deutsch-Sein bedeutet heute, sich in der Bundesrepublik Deutschland heimisch zu fühlen unbeachtet der Herkunft, sich mit der Verfassung und den Bundesgesetzen in Einklang zu wissen, die Gewaltenteilung und die Sekularisierung anzuerkennen. Jeder der diese Werte teilt und sich persönlich mit diesen Normen verbunden fühlt gilt als deutsch, jedoch nur auf dem Papier. Trotz der gesellschaftlichen Strukturveränderung und trotz der Anreicherung der deutschen Gesellschaft mit neuen kulturellen Einflüssen ist das Verständnis dafür, was deutsch ist und als deutsche Kultur gilt veraltet und nicht mehr zeitgemäß.
Das deutsche Verständnis von Gesellschaft ist immer noch geprägt vom Denkgut des 19. und des 20. Jahrhunderts. Aus genau dieser Denkweise heraus entsteht auch der Wunsch vieler Bundesbürger andere nicht gewohnte Denkweisen und Lebensauffassungen zu unterwerfen und sie im Schatten einer sogenannten deutschen Dominanzkultur zu assimilieren. Dieser Streit um die Akzeptanz des Kopftuchs im öffentlichen Leben und in staatlichen Schulen wurzelt genau in dieser unzeitgemäßen Denkweise.
Das Zusammenkommen von verschiedenen Kulturen bringt zwangsläufig sehr viel Energie und Dynamik mit sich, die jedoch wohlüberlegt und langfristig für die Zukunft richtig gehandhabt werden muss. Ansonsten schlägt sich diese Energie und Dynamik sehr schnell in Hass, Intoleranz und Unakzeptanz um und dies von beiden Seiten gleich stark.
Heute befinden wir uns an einem Punkt, der sehr deutlich auf diese Tragödie, auf dieses Fiasko hin deutet. Für die Zukunft und das Wohlergehen der deutschen Gesellschaft ist es von Nöten dieser negativen Entwicklung einen Riegel vorzuschieben und eine Plattform zu schaffen für eine interkulturelle Annäherung ohne falsche Denkmuster und Vorurteile. Die Zukunft unseres Landes braucht eine gesellschaftliche Einheit, jedoch keine kulturelle Unterwerfung und Gleichschaltung.
All diese Diskussionen, die seit dem Gerichtsurteil geführt werden, zeigen wieder einmal mit deutlichen Strukturen und schmerzhafter Deutlichkeit, dass wir als deutsche Gesellschaft fern ab sind von Einheit und gegenseitiger Akzeptanz. Hinzu kommt, dass Diskussionsrunden sehr häufig dominiert werden von Emotionen und falscher Hast. Noch nie wurden deutsche Staatsbürger so oft des Nichtdeutsch-Seins beschuldigt und ihnen gesellschaftliche Unverantwortlichkeit vorgeworfen.
Die Schuldzusprechungen gehen sogar soweit, dass deutsche Staatsbürger mit unterschiedlichen Weltanschauungen der Sympathie und Mitgliedschaft an nichtverfassungskonformen Organisationen und Vereinigungen beschuldigt werden mit der absurden Begründung der Religion und Konfession. Plötzlich tauchen weit hergeholte und unbegründete Theorien über globale Religionskriege und deutlichen Positionszuweisungen von „Gut“ und „Böse“ auf.
Bei Angesicht dieser Härte der Beschuldigungen ist es nötig noch einmal den Gegenstand der Diskussion vor Augen zu halten. Streitet sich die deutsche Gesellschaft über das Kopftuch, über Konfessionen und Andersgläubige oder eher über die angeblich bedrohte Vorherrschaft der eigenen Kultur? Wieso bewegt dieses Thema zu sehr die Gemüter und weckt so viele Emotionen? Steckt die deutsche Gesellschaft noch zu sehr in alten und versteinerten Ansichten ihrer Vorgänger aus den letzten Jahrhunderten?
Wir als Bundesbürger und Mitglieder der deutschen Gesellschaft müssen lernen die eigene Kultur nicht höher anzusetzen als andere Kulturen, unbeachtet der Herkunft und Historie. Es kann keine Skala geben auf der Kulturen, Rassen, Nationen und Weltanschauungen höher oder niedriger eingestuft werden. Wir als deutsche Gesellschaft und Träger deutscher Kultur müssen ganz seriös und ohne Heuchlerei die Egalität aller Kulturen, Rassen, Nationen und Weltanschauungen anerkennen. Wenn wir als Gesellschaft es schaffen unsere Perspektive zu verändern und mit dem Glauben an die Gleichheit aller Kulturen die heutigen gesellschaftlichen Probleme uns neu vor Augen halten, werden wir unschwer erkennen, dass wir grade bei der Angelegenheit um das Kopftuch sehr viel Bedeutung und unbegründete Angst hinein interpretieren und unbegründete Macht dem Kopftuch zuschreiben. Die deutsche Gesellschaft darf nicht erschrocken und ablehnend auf neue Einflüsse reagieren, sondern mit einer Offenheit, die man sich von einer weltbewanderten Gesellschaft von Weltbürgern wünscht, diese Einflüsse begrüßen.
Der Einzelne von uns hält innerhalb der gesellschaftlichen Struktur eine große Rolle mit sehr viel Bewegungs- und Veränderungspotenzial inne. Nur wenn der Einzelne sich der Gleichheit aller Kulturen bewusst wird und in sich die eigene Kultur festigt, erst dann kann derjenige offen sein für neue Einflüsse ohne die Angst zu verspüren sich selbst zu verlieren. Für die Zukunft und den langfristigen gesellschaftlichen Frieden dürfen wir die Menschen, die mit uns Leben und gleiche Werte teilen, nicht durch veraltete und schon längst zu Fossilien verkommene Ansichten und Denkweisen in die soziale Abgrenzung und Abschottung drängen. Künstlich geschaffene Ghettos und Abgrenzung von gut ausgebildeten Menschen schadet unserer eigenen Gesellschaft und führt häufig dazu, dass dieses menschliche Potenzial in die Hände von nichtverfassungskonformen Organisationen und sogar deutschlandfeindlichen Verbänden fallen. Wir dürfen unsere Mitmenschen nicht dazu zwingen uns zu hassen und ihre Energie und ihr Potenzial gegen uns zu verwenden.
Deutschland hat eine Zukunft, eine Zukunft als Gesellschaft von Weltbürgern. „Es ist Zeit endlich Schluss zu machen mit der herablassenden Pseudotoleranz und anzufangen mit ernsthaftem Respekt.“
(Zitat eines Satzes von Alice Schwarzer)
M.S. Güngör
Student der Uni-Paderborn
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