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Die Meinungsfreiheit



Die Religionsfreiheit (Artikel 4) und die Meinungsfreiheit (Artikel 5) schützen nicht nur die Freiheit, die eigenen Überzeugungen und Ansichten kundzugeben, sondern tragen auch die Demokratie. Der Verfassungstext zu Artikel 5 lautet:
  1. Jeder hat das Recht seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
Meinungen sind Ansichten, Werturteile, Einschätzungen und Auffassungen, die ein Individuum von Tatsachen, Verhaltensweisen oder Verhältnissen hat. Dabei ist es unerheblich, ob diese objektiv richtig oder falsch, ob sie sozial verantwortlich oder fahrlässig, ob sie wertvoll oder wertlos sind. Meinungen darf man nicht nur haben, sondern sie auch anderen Mitmenschen kundtun. Auf welche Art und Weise dies geschieht, ob sachlich oder polemisch, spielt hierbei keine Rolle.

Etwas anderes sind Tatsachenäußerungen. Sie werden durch die Meinungsfreiheit nur geschützt, wenn sie zutreffen. Bewusst unwahre Tatsachenäußerungen, wie z.B. dass es im Dritten Reich keine Judenverfolgung gegeben habe, stellen kein schützenwertes Gut dar.
Die Meinungsfreiheit ist für eine Demokratie deswegen so bedeutsam, weil Meinungen zu besitzen, sie auszusprechen und für sie einzutreten, Grundlage politischer Willensbildung und gesellschaftlichen Fortschritts sind. Sie ist eines der Lebenselemente der freiheitlichen Demokratie.
Die eigene Meinungsbildung wird durch die Informationsfreiheit und den modernen Massenkommunikationsmittel, die hier exemplarisch mit Rundfunk und Film aufgeführt werden, unterstützt. Folglich müssen die Medien inhaltlich und gestalterisch frei sein – frei vom Staat wie auch von Medienmonopolen.

Selbstverständlich garantiert Artikel 5 auch das Recht keine Meinung zu haben oder diese nicht äußern zu müssen.
Aus der Meinungsfreiheit ergibt sich zwangsläufig ein Zensurverbot, also eines präventiven Verfahrens, vor dessen Abschluss ein Werk nicht veröffentlicht wird. Allerdings ist eine nachträgliche Überprüfung von Inhalten möglich, da es in Absatz 2 heißt:
  1. Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.

Die Meinungsfreiheit kann also eingeschränkt werden, wenn höherwertige Gemeinschaftsgüter und –werte zu schützen sind. Dies gilt insbesondere für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, sowie die Staatssicherheit. Soweit die Theorie. Murad Hofmann hatte in seinem Beitrag zu Artikel 4 darauf verwiesen, dass Recht ist, was die Gerichte wahrscheinlich entscheiden werden. So zeigt sich in der Praxis die Tendenz, die Meinungsäußerungsfreiheit verstärkt zu schützen, so dass die Gefahr droht, dass Absatz 2 bedeutungslos wird.
Dies führt zu der für Muslime wichtigen Frage, ob Karikaturen, die den Propheten Muhammad verächtlich machen, oder gar eine Verbrennung des Qur’an noch unter Meinungsfreiheit fallen. Bedauerlicherweise muss davon ausgegangen werden, dass dem so ist. Dies hat zum einen mit der europäischen Konfliktgeschichte zwischen Aufklärung und römisch-katholischer Kirche zu tun. Das moderne Europa ist weitgehend ohne und gegen die Kirche Roms entstanden. Ihren Höhepunkt erreichte dieser Konflikt in der Französischen Revolution, die zur Folge hatte, dass in Frankreich eine republikanisch-laizistische Kultur entstand, der eine katholisch-konservative, klerikale Gegen- oder Subkultur gegenüberstand. Weit über Frankreich hinaus, wenn auch nicht in gleicher Schärfe, prägte dieser Konflikt das Abendland. Das hat zwar zunächst nichts mit dem Islam zu tun, allerdings wird die historische Erfahrung einer religiösen Bevormundung und Diktatur auf den Islam übertragen. Selbstverständlich darf auch der 11. September nicht ausgeblendet werden. Dieser abscheuliche Anschlag, der – dies sollten wir nicht leugnen – eben von Muslimen begangen wurde, von Menschen mit muslimischen Namen, die aus muslimischen Familien stammten und die in muslimischen Gesellschaften sozialisiert wurden, gleichwohl solche Verbrechen jeglicher islamischer Grundlage entbehren. Nach dem 11. September folgten die Anschläge auf vollbesetzte Pendlerzüge in Madrid 2004, dann jene auf die Londoner U-Bahn-Stationen und Busse 2005, gar nicht zu sprechen von den gescheiterten und vereitelten Anschlägen. Dies alles hat große Ängste vor dem Islam geschürt. Diese finden ihren Ausdruck in dem gegenwärtigen geistigen Meinungskampf hinsichtlich des Islam in Europa. Zum Teil wird er in überspitzter, polemischer und für Muslime verletzender Form ausgetragen. Rechte Kräfte greifen diese Stimmung auf und provozieren Muslime ganz bewusst und gezielt, da bedauerlicherweise die Reaktionen oft einkalkulierbar sind. Der Islam ist also Gegenstand einer öffentlichen Diskussion. Karikaturen und sogar Verbrennungen der islamischen Offenbarungsschrift dürften daher unter die Meinungsfreiheit fallen, da sie Ausdrucksformen dieser geistigen Auseinandersetzung sind.

Da Muslime auch in Zukunft noch sehr viel Verletzendes hinsichtlich ihres Glaubens hören werden gilt:
  • Die Meinungsfreiheit muss von allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes respektiert werden. Dies schließt auch mit ein, dass man Meinungen, die einem nicht gefallen aushält. Doch die Meinungsfreiheit sollte nicht missbraucht werden, um die Würde und den Glauben anderer Menschen verächtlich zu machen. Millionen von Menschen schöpfen aus dem Qur’an und dem Lebensmodell des Propheten Muhammad ihr Wissen von dem Guten, ihren Lebenssinn und ihre Normen.

    Die Religion des Anderen als Mittel zu benutzen, um den Andersgläubigen aufzustacheln, ist sowohl ein Missbrauch der Religion als auch dieses Grundrechts und zeugt vom Fehlen einer demokratischer Reife. Gegenseitige Achtung macht den Anfang eines ernsthaften Dialogs aus.

  • Gewalt kann und darf niemals eine Lösung sein. Am Ende zementiert sie nur die bestehenden Vorurteile. Stattdessen müssen Muslime besonnen reagieren, sich stärker am Meinungsaustausch beteiligen, Kritik aushalten, Selbstkritik üben, die emotional aufgeladene Debatte versachlichen und aufklären.
  • Muslime sollten trotz allem auch vom Rechtsweg Gebrauch machen unter Berufung auf § 166 StGB, der die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen unter Strafe stellt. Der Gesetzestext lautet:
  1. Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
  2. Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.
  • Schließlich gilt es den Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die verständlicherweise Angst vor Überfremdung und der immer noch unbekannten und oft missverstandenen Religion Islam haben, diese Ängste zu nehmen. Dazu reichen Worte nicht aus, sondern Vertrauen kann nur durch ein miteinander leben und gemeinsames gesellschaftliches Engagement aufgebaut werden. Die beste Aufklärung ist der gelebte Glauben. Im Falle einer Provokation gilt es sich strikt an nachfolgenden Qur’anvers zu halten, statt emotional auszurasten:

    Und wenn du jene siehst, welche über Unsere Botschaft spöttisch reden, dann kehre dich von ihnen ab, bis sie ein anders Gespräch beginnen.
    Und falls Satan dich dies vergessen lässt, bleibe nicht bei dem Volk der Sünder sitzen, sobald du dich daran erinnerst. Die Gottesfürchtigen haben keine Rechenschaft für sie abzulegen, sondern nur zu warnen. Vielleicht werden sie doch gottesfürchtig. (6: 68-69)
  • Kontraproduktiv ist jedoch bewusst Überfremdung zu überzeugen, indem man rücksichtslos einen extremen neuzeitlichen Individualismus auslebt (Stichwort: Burka), der nur dazu dient, sich von der Gesellschaft abzusondern und eine Gegenkultur zu schaffen. Insofern fallen zwar Kundgebungen wie jene des Predigers Pierre Vogel in Frankfurt unter die Meinungsfreiheit, aber es muss in der muslimischen Community darüber diskutiert werden, ob ein solches Auftreten dem friedlichen Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen dienlich ist.

Der Islam- und Politikwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza wird das Projekt "Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund" mit wöchentlich erscheinenden Aufsätzen redaktionell begleiten und dazu beitragen, das im Internet eine hoffentlich rege Diskussion entsteht. Dadurch soll Muslimen, insbesondere Jugendlichen in den Moscheen, unser republikanisch-demokratisches Staatswesen näher gebracht werden.

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