Artikel Montag, 13.10.2025 |  Drucken

Zerstört und am Boden: Was Syrien vom Wiederaufbau Deutschlands, Japans und Vietnams lernen kann – und warum was bisher unmöglich ist. Hier eine Pro- und Contra Sicht

In einem historischen Vergleich der Zerstörung und der Wiederaufbauanstrengungen wird das ganze Ausmaß der syrischen Tragödie deutlich. Während Deutschland, Japan und Vietnam heute als Beispiele für erfolgreiche Erholung nach totalem Kollaps gelten, steckt Syrien in einer Falle aus anhaltender Zerstörung, politischer Lähmung und fehlender internationaler Hilfe. Ein Blick in die Geschichte offenbart, warum ein Neuanfang in Syrien derzeit so schwierig gelingen und welche Lehren dennoch gelten.

Das Ausmaß der Zerstörung: Physisch, administrativ und sozial 

Deutschland 1945 wies vollständig zerstörte Städte zu 50–70 Prozent auf, mit Millionen Obdachlosen. In Japan waren über 60 Prozent der Industriezentren zerstört, etwa 9 Millionen Menschen obdachlos. Vietnam war nach drei Jahrzehnten Krieg massiv zerstört, mit kontaminierten Feldern und zerstörter Infrastruktur. Syrien hingegen erlebt nun diese Zerstörung in Echtzeit. UN-Schätzungen gehen von über 40 Prozent beschädigtem Wohnraum und 7,4 Millionen Binnenvertriebenen aus.

Entscheidend ist jedoch, dass die Zerstörung in Syrien nicht nur physisch, sondern auch administrativ und sozial strukturell ist: Behörden, Schulen und lokale Verwaltungen sind vielerorts nicht mehr funktionsfähig. Ganze Stadtviertel wurden entvölkert. Dadurch ist die Wiederherstellung des gesellschaftlichen und institutionellen Lebens weitaus komplexer als im Nachkriegsdeutschland oder Japan, wo die staatliche Verwaltung stets funktionsfähig blieb.

Externe Hilfe: Marshallplan versus internationale Isolation

Der Unterschied könnte kaum größer sein: Westdeutschland erhielt den Marshallplan und direkte US-Unterstützung. Japan erhielt umfangreiche US-Hilfe und profitierte wirtschaftlich vom Koreakrieg. Vietnam war zunächst isoliert, öffnete sich aber mit den Đổi-Mới-Reformen und erhielt später internationale Investitionen. Für Syrien existiert kein internationaler Plan für den Wiederaufbau. Die Hilfe, die ankommt, ist überwiegend humanitär und kurzfristig. „Caesar“-Sanktionen und die politische Komplexität verhindern Finanzierung und Investitionen. Syrien bleibt vom Zugang zu Weltbank und IWF ausgeschlossen. Ein koordinierter, langfristiger Aufbauplan fehlt vollständig. Der Wiederaufbau wird zudem durch geopolitische Konkurrenz blockiert: Russland und Iran fördern selektiv Projekte in Regierungsgebieten, während der Westen Hilfe an politische Bedingungen knüpft. Wirtschaftspolitik: Klare Vision versus Kriegsökonomie   Westdeutschland etablierte die Soziale Marktwirtschaft, Japan setzte auf staatlich koordinierte Industriepolitik, und Vietnam führte marktwirtschaftliche Reformen ein. Alle drei Länder hatten eine klare, nationale Wirtschaftsvision. In Syrien ist die Wirtschaft lahmgelegt durch Sanktionen, eine schwache Lira und Kompetenzverlust und Streitigkeiten innerhalb der Gruppen. Es gibt keine „einheitliche nationale Wirtschaftsvision“. Die syrische Wirtschaft ist zudem stark von inoffiziellen Märkten und Kriegsökonomien durchdrungen. Schmuggel und die Dominanz nichtstaatlicher Akteure und Walllorts erschweren den Aufbau einer transparenten Wirtschaftspolitik. Es fehlt eine funktionsfähige zentrale Wirtschaftsführung, die Vertrauen schafft.

Wohnungsbau: Rechtssicherheit als Grundvoraussetzung Deutschland baute Millionen Wohnungen, Japan schuf große öffentliche Wohnsiedlungen. In Syrien ist der Bedarf an Wohnraum immens, doch die erforderliche massive Finanzierung fehlt. Ein gravierendes Hindernis sind zudem rechtliche Unsicherheiten: Viele Geflüchtete können ihr Eigentum nicht zurückfordern, da Dokumente fehlen oder Gesetze wie Nr. 10 von 2018 Enteignungen ermöglichen. Dies unterminiert das Vertrauen in den Wiederaufbau – ein Problem, das es in Deutschland nach 1945 in dieser Form nicht gab.

Der soziale Faktor: Nationaler Zusammenhalt versus tiefe Spaltung

Deutschland, Japan und Vietnam wurden nach dem Krieg von einem starken kollektiven Willen zum Aufbau und nationalem Zusammenhalt getragen. In Syrien dagegen ist die Gesellschaft durch Krieg, Vertreibung und Vertrauensverlust tief gespalten. Ethnische, religiöse und politische Differenzen behindern den Aufbau einer gemeinsamen Identität. Versöhnung und Wiedervereinigung sind jedoch Grundvoraussetzungen für jede dauerhafte Stabilisierung.

Lehren und Handlungsimperative: Was muss geschehen? Der historische Vergleich ergibt klare Imperative für Syrien und die internationale Gemeinschaft:   1.  Politische Lösung zuerst: Die grundlegende Lektion lautet, dass Syrien, noch vor Geld, einen internen politischen Konsens braucht. Wiederaufbau ist primär eine Frage von Vertrauen, politischer Stabilität und institutioneller Kohärenz. Solange der Krieg politisch weitergeführt wird, bleibt jeder Wiederaufbau Flickwerk.

2.  Schaffung von Rechtssicherheit: Bevor Häuser gebaut werden können, müssen Eigentumsfragen geklärt und willkürliche Enteignungen beendet werden. Ohne diese Grundlage werden Vertriebene nicht zurückkehren und keine Investitionen getätigt.

3.  Gezielte Lockerung und Abschaffung von Sanktionen für den Wiederaufbau: Die internationale Gemeinschaft muss Wege finden, humanitäre Hilfe und Wiederaufbauprojekte von der Sanktionslogik auszunehmen, um zumindest lokale Erfolge zu ermöglichen.

4. Von Vietnam lernen: Schrittweise Öffnung: Das vietnamesische Modell der Đổi-Mới-Reformen zeigt, dass eine schrittweise wirtschaftliche Öffnung und Integration in die Weltwirtschaft auch nach Jahren der Isolation möglich ist. Dies setzt jedoch innenpolitische Reformbereitschaft voraus.

Fazit: Ein Blick in die Zukunft Deutschland, Japan und Vietnam zeigen, dass Wiederaufbau nach totaler Zerstörung möglich ist. Doch ihre Erfolgsgeschichten waren nur möglich, weil politische Kohärenz, externe Partnerschaft und nationaler Zusammenhalt zusammenkamen. Für Syrien ist diese Kombination derzeit nicht in Sicht. Der Wiederaufbau Syriens wird nicht mit Großbaustellen beginnen, sondern mit politischen Verhandlungen, Versöhnungsprozessen und der mühsamen Wiederherstellung von Staatlichkeit. Die Geschichte lehrt, dass dies die eigentliche Vorarbeit ist – und sie ist in Syrien noch nicht geleistet.

Pro: Titel: Syriens verborgene Resilienz: Warum ein Wiederaufbau auch ohne Marshallplan möglich ist

Während die Welt auf einen politischen Gesamtfrieden für Syrien wartet, formt sich im Schatten der Zerstörung bereits die Grundlage für einen organischen Wiederaufbau. Anders als Deutschland 1945 wird Syrien keinen Marshallplan erhalten – doch der Vergleich mit anderen Nachkriegsgesellschaften zeigt, dass auch unter widrigsten Bedingungen Erneuerung möglich ist Die syrische Wirtschaft: Vom Kriegsmodus zur informellen Widerstandskraft Zwar ist die offizielle Wirtschaft lahmgelegt, doch parallel hat sich eine robuste Kriegsökonomie etabliert. Diese inoffiziellen Netzwerke – oft als Hindernis betrachtet – verfügen über erprobte Lieferketten, lokale Produktionsstätten und grenzüberschreitende Handelsrouten. Genau diese Strukturen bilden das Gerüst für einen bottom-up-Wiederaufbau. In Aleppo und anderen Städten zeigen kleine Betriebe und Handwerksstätten bereits heute, wie mit minimalen Mitteln Produktion wiederaufgenommen wird. Diese informelle Wirtschaftsleistung, schwer in Statistiken erfassbar, stellt das eigentliche Startkapital Syriens dar.   Lokale Verwaltung: Wo der Staat fehlt, entstehen neue Strukturen Die Zerstörung der Zentralverwaltung mag wie ein Nachteil erscheinen. Doch in vielen Regionen haben sich lokale Verwaltungskomitees, Stadtteilräte und zivilgesellschaftliche Initiativen etabliert, die grundlegende Dienstleistungen organisieren. Diese dezentralen Strukturen – ähnlich den deutschen Trümmerfrauen – beweisen bereits ihre Effektivität bei der Trümmerbeseitigung und der Wiederherstellung lokaler Infrastruktur. Sie bilden den Kern eines späteren, möglicherweise dezentraleren und damit stabileren Staatsaufbaus. Die Diaspora als Entwicklungskatalysator Anders als 1945 in Deutschland verfügt Syrien über eine globale Diaspora, die jährlich Milliarden an Rücküberweisungen schickt. Dieses Kapital fließt bereits heute in kleine Wiederaufbauprojekte, Handwerksbetriebe und Familienunternehmen. Mit gezielten Instrumenten – etwa Diaspora-Anleihen oder matched-funding-Modellen – ließe sich dieses Potenzial vervielfachen. Die syrische Diaspora bringt zudem wertvolles Wissen, internationale Erfahrung und technisches Know-how mit – Ressourcen, die Japan und Deutschland erst mühsam aufbauen mussten. Pragmatische Regionalkooperation: Hilfe jenseits geopolitischer Blöcke Während die Großmächte sich blockieren, entwickeln Syriens Nachbarn pragmatische Wirtschaftsinteressen. Die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit arabischen Staaten eröffnet bereits jetzt neue Handelskorridore und Investitionsmöglichkeiten. Regionale Initiativen – etwa im Energiebereich oder bei Infrastrukturprojekten – könnten die Rolle des Marshallplans teilweise ersetzen, indem sie syrienzentrierte Lösungen fördern, anstatt es in globale Machtspiele einzubinden. Lernen aus Vietnam: Wie Isolation in Integration umgewandelt werden kann Vietnams Beispiel zeigt eindrücklich, wie ein international geächtetes Land durch eigene Reforminitiativen die Blockade durchbrechen kann. Syrien verfügt über ähnliche Potenziale: Eine gebildete Bevölkerung, strategische Lage und landwirtschaftliche Ressourcen. Durch gezielte Wirtschaftsreformen in Enklaven – Sonderwirtschaftszonen mit eigenen Regeln – könnte Syrien schrittweise internationale Partner gewinnen, selbst ohne umfassende politische Lösung. Der soziale Zusammenhalt in der Krise Trotz aller Spaltungen hat der gemeinsame Überlebenskampf auch neue Solidaritätsnetzwerke entstehen lassen. In vielen Gemeinden organisieren sich Menschen jenseits ethnischer oder konfessioneller Grenzen, um das Nötigste zu sichern. Dieses im Kleinen gewachsene soziale Kapital bildet die Basis für einen gesellschaftlichen Neuanfang – von unten nach oben.   Was jetzt getan werden kann – mit den Mitteln, die da sind 

1. Mikrofinanzierung statt Großinvestitionen: Gezielte Kleinkredite für Handwerker, kleine Betriebe und Landwirte können die informelle Wirtschaft transformieren – ohne auf große internationale Gelder zu warten.

2. Technologie als Beschleuniger: Mobile Zahlungssysteme, dezentrale Solarenergie und digitale Plattformen können viele staatliche Funktionen ersetzen und den Wiederaufbau demokratisieren.

3. Fokussierte Wiederaufbauzonen: Statt das ganze Land gleichzeitig anzugehen, könnten prioritäre Regionen mit funktionierender lokaler Verwaltung zu Modellzonen entwickelt werden.

4. Diaspora-Wissen systematisch nutzen: Durch virtuelle Austauschprogramme, Expertendelegationen und Mentoring-Initiativen lässt sich das Wissen der Geflüchteten für den Wiederaufbau mobilisieren.

Fazit: Syriens Weg wird nicht dem Deutschlands oder Japans gleichen – aber die Geschichte lehrt, dass Gesellschaften auch ohne optimale Bedingungen erstaunliche Widerstandskraft entwickeln. Der syrische Wiederaufbau hat bereits begonnen – nicht in Ministerien oder internationalen Konferenzen, sondern in den Werkstätten, lokalen Komitees und Familiennetzwerken, die mit dem arbeiten, was vorhanden ist. Diese organische Erneuerung mag langsamer sein als ein Marshallplan – aber sie könnte am Ende nachhaltiger sein, weil sie von innen wächst.




Ähnliche Artikel

» Das Assad-Regime in Syrien scheut vor nichts: Rotes Kreuz verurteilt Luftangriff auf Hilfskonvoi in Syrien
» "Solidarisch an der Seite Frankreich"
» Nach Paris-Terror: Brandanschläge auf Moscheen und Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland und Europa
» Mehr Engagement für Syrien gefordert - 10 Jahre Krieg und die Welt schaut zu
» Syrien-Konferenz in Brüssel(EU): Unterstützung für humanitäre Hilfe und politischen Wandel

Wollen Sie einen
Kommentar oder Artikel dazu schreiben?
Unterstützen
Sie islam.de
Diesen Artikel bookmarken:

Twitter Facebook MySpace deli.cio.us Digg Folkd Google Bookmarks
Linkarena Mister Wong Newsvine reddit StumbleUpon Windows Live Yahoo! Bookmarks Yigg
Diesen Artikel weiterempfehlen:

Anzeige

Hintergrund/Debatte

Zerstört und am Boden: Was Syrien vom Wiederaufbau Deutschlands, Japans und Vietnams lernen kann – und warum was bisher unmöglich ist. Hier eine Pro- und Contra Sicht
...mehr

Sant’Egidio: Angesichts der Dramen von Krieg und Flucht die Humanität nicht verlieren
...mehr

Die deutsche Erinnerungskultur und die Übertragung von Schuld- Warum Muslime oft zur Projektionsfläche für die Schuldenlastung werden
...mehr

Buchrezension: „Religion und Diplomatie – Ein Blick aus Wissenschaft, Politik und Religionsgemeinschaften“ (Herausgegeben von Dr. Heinrich Kreft, Botschafter a.D.)
...mehr

Papst Franziskus revolutionäres Vermächtnis: Der interreligiöse Dialog als historische Wegmarke - Ein Nachruf von Aiman A. Mazyek
...mehr

Alle Debattenbeiträge...

Die Pilgerfahrt

Die Pilgerfahrt (Hadj) -  exklusive Zusammenstellung Dr. Nadeem Elyas

88 Seiten mit Bildern, Hadithen, Quran Zitaten und Erläuterungen

Termine

Islamische Feiertage
Islamische Feiertage 2019 - 2027

Tv-Tipps
aktuelle Tipps zum TV-Programm

Gebetszeiten
Die Gebetszeiten zu Ihrer Stadt im Jahresplan

Der Koran – 1400 Jahre, aktuell und mitten im Leben

Marwa El-Sherbini: 1977 bis 2009