"Ihre Renten zahlen Zuwanderer"
Gutachten zeigt Fortschritte und Mängel der Migrationspolitik- Bei der europäischen Asylpolitik gibt es aus Sicht der Wissenschaftler den größten Nachbesserungsbedarf
Berlin (KNA) Acht Wissenschaftler sitzen bei der Vorstellung des Jahresgutachten des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) auf dem Podium. Unter ihnen sind Juristen, Soziologen, Ökonomen, Geografen und Migrationsforscher. Sie alle haben sich für das sechste Gutachten der Frage gewidmet, wie Deutschlands Migrations- und Integrationspolitik im internationalen Vergleich abschneidet. Das Ergebnis ist anders als die öffentliche Selbstwahrnehmung durchaus positiv: Deutschland habe in den vergangenen Jahren aufgeholt und halte mit klassischen Einwanderungsländern mit, bekräftigt die Vorsitzende Christine Langenfeld. Erfreulich, aber kein Grund, sich auszuruhen. Die To-Do-Liste bleibe lang, betont die Rechtswissenschaftlerin.
Fakt ist, so der Rat, dass Deutschlands Bevölkerung auch mit einer jährlichen Netto-Zuwanderung von 200.000 Erwerbsfähigen bis 2050 um zehn Millionen schrumpft. Der Wiener Geograf Heinz Faßmann erklärt: Mit einer Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau reproduziere sich aktuell eine Generation nur zu zwei Dritteln. Der Dortmunder Bildungsforscher Wilfried Bos ergänzt mit Blick in die Runde: «Ihre Renten zahlen Zuwanderer.» Das gelte auch für die Demonstranten der «Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida). Die Ratsvorsitzende Langenfeld fügt hinzu, dass die Attraktivität für Zuwanderer auch vom Klima in der Gesellschaft abhänge. «Deutschland muss sich international, aber auch nach innen noch sehr viel stärker und glaubwürdiger als Einwanderungsland definieren und positionieren.»
In seinem Jahresgutachten vergleicht der Sachverständigenrat Deutschland mit Ländern wie Kanada, USA und Schweden, die oft als Vorbilder bei der Einwanderungspolitik gelten. Dabei schneidet die Bundesrepublik vor allem bei der Arbeitsmigration gut ab. So gebe es mittlerweile Visa zur Arbeitssuche für Akademiker aus Drittstaaten, ohne dass ein Arbeitsvertrag vorliegen müsse. Eine ähnliche Regelung sei für nicht-akademische Fachkräfte geplant. Die Ratsvorsitzende Langenfeld fügt hinzu, dass Deutschland von anderen Staaten nur bedingt lernen könne. Die «schlichte Übertragung von Rezepten» aus anderen Staaten sei oft nicht möglich. Kanada etwa sei längst von einem rein auf die Qualifikation ausgerichteten Punktesystem abgekommen. Und die an die EU gebundene Asylpolitik Deutschlands macht das Ganze komplexer.
Genau bei der europäischen Asylpolitik gibt es aus Sicht der Wissenschaftler den größten Nachbesserungsbedarf. «Die Flüchtlingspolitik ist ein Prüfstein für die Handlungsfähigkeit der EU und ihrer Mitgliedsstaaten», bekräftigt Langenfeld. Noch beteiligten sich zu wenige Staaten an der Aufnahme. Es brauche vor allem für die Bootsflüchtlinge aus Krisengebieten eine schnelle kollektive Aufnahme und Verteilung auf alle EU-Länder. Zugleich müsse die Seenotrettung noch stärker ausgebaut werden und die Bekämpfung der Fluchtursachen müsse endlich ernsthaft betrieben werden. Sie dürfe nicht wie in den vorherigen Jahren und Jahrzehnten so oft binnen weniger Monaten wieder von der Agenda verschwinden.
Parallel zu diesem Sofortprogramm spricht sich der Sachverständigenrat für eine neue Struktur des Dublin-Verfahrens aus. Derzeit entzögen sich viele Flüchtlinge dem Antrag im Ersteinreiseland und die Länder ließen sie gewähren. Das bringe aber das System zum Erliegen, sagte Langenfeld. Der EU-Staat, in dem ein Flüchtling einreist, solle zwar weiterhin für die Aufnahme, das Asylverfahren und die Rückführung nicht anerkannter Flüchtlinge, zuständig sein. Ein anerkannter Flüchtling sollte jedoch die Möglichkeit erhalten, in das gewünschte EU-Land weiterzureisen. Voraussetzung seien finanzielle Hilfen für die EU-Länder, in denen die meisten Flüchtlinge ankämen, und ein EU-weites Einhalten der Standards bei der Unterbringung von Flüchtlingen.
Das Asyl-System greift jedoch nicht für den Wirtschaftsflüchtlinge aus Afrika oder dem Kosovo. «Hier sind andere Maßnahmen notwendig», sagt Langenfeld. Vor allem die Bekämpfung der Fluchtursachen stehe ganz weit oben.
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