Artikel Dienstag, 10.06.2014 |  Drucken

Gedenken zum 10. Jahrestag des NSU-Anschlages in Köln - Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck

Text aus: www.bundespraesident.de, ebenso Bildnachweis von Jesco Denzel
Es gilt das gesprochenen Wort


"Wir stehen zusammen in der Erinnerung an den Moment des Anschlages – heute vor zehn Jahren, mitten in einer deutschen Stadt, mitten unter uns.

Wir fühlen mit denen, die damals an Körper und Seele verwundet wurden, mit ihren Familien und Freunden, mit den Anwohnern dieser Straße.

Wir trauern um Menschen, die unter uns lebten, in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund, Kassel, Heilbronn – Opfer einer beispiellosen Mordserie.

Wir denken an alle, denen diese Attentate auch galten, die sich nach dem Willen der Täter nicht mehr sicher und nicht mehr zu Hause fühlen sollten in Deutschland.

Wir denken heute auch daran, wie viele Betroffene sich später allein gelassen oder sogar als Verdächtige behandelt fühlen mussten, wie viel Misstrauen damals gesät wurde.

Mehr als zehn Jahre lang haben die Mitglieder einer rechtsextremistischen Bande unerkannt rauben, morden und Anschläge wie den in der Keupstraße begehen können. Von Fremdenhass getrieben, haben sie zu zerstören versucht, was uns in Deutschland wertvoll ist: das selbstverständliche Miteinander der Verschiedenen, die offene und freiheitliche Gesellschaft.

Heute stehen wir zusammen, um dieses Miteinander, diese Offenheit und diese Freiheit zu stärken: in diesem Viertel – und überall in unserem Land.

Dass wir alle hier sind, ist auch eine Botschaft an die rechtsextremen Verächter unserer Demokratie. In meiner Antrittsrede als Bundespräsident habe ich ihnen zugerufen: Euer Hass ist unser Ansporn!

Und deshalb erfüllt es mich mit Freude zu sehen, wie zahlreich wir hier zusammengekommen sind, und wie viele zu diesem Fest beigetragen haben: Bürgerinnen und Bürger, kleine und große Unternehmen, politische und öffentliche Institutionen und – ich schaue mich um – eine große Zahl von Künstlern.

Wir sind die Vielen! Wir zeigen, wie wir in unserem Land leben wollen: respektvoll und friedlich. Wir sind verschieden. Aber wir gehören zusammen. Und wir stehen zusammen, um allen, die von fremdenfeindlicher Gewalt bedroht sind, zu sagen: Ihr seid nicht allein.

Vor einigen Monaten habe ich mit Betroffenen und Angehörigen von Opfern der Attentate gesprochen. Eben gerade bin ich mit Bürgerinnen und Bürgern zusammengetroffen, die sich miteinander für die Keupstraße engagieren. Sie alle haben viel zu erzählen und viele Fragen: Wie sicher kann ich mich fühlen in meinem eigenen Land? Warum ist es jahrelang nicht gelungen, die Täter zu fassen? Warum dauert die juristische und politische Aufarbeitung so lange?

Warum haben Polizei und Behörden ausländerfeindliche Tatmotive ausgeschlossen? Warum haben sie dem so wenig beigemessen, was die Betroffenen, die Angehörigen zu sagen hatten? Es sind Fragen, die uns aber auch alle angehen.

Auch ich zählte damals zu jenen Bürgern, die immer wieder in der Zeitung lasen, wie die Fahnder scheiterten. Auch ich glaubte nicht daran, dass in unserem Land eine rechtsextreme Terrorgruppe so lange unerkannt bleiben konnte. Auch ich musste erkennen, dass ein menschenfeindlicher Fanatismus umgeschlagen war in Mord – ein böses Erwachen war das!

Die Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt, angestoßen von meinem Vorgänger Christian Wulff, hat damals, kurze Zeit nach der Enttarnung der Täter, ein wichtiges Zeichen gesetzt: ein Zeichen der Trauer, des Entsetzens, aber auch des Zusammenstehens und der Entschlossenheit. Ich habe seinerzeit – als Kandidat für das Präsidentenamt – teilgenommen und in meinen Gesprächen mit Angehörigen gespürt, wie wichtig dieses Zeichen war.

Inzwischen sehen wir einiges klarer. In Untersuchungsausschüssen in den Ländern und im Bund, auch im laufenden Gerichtsverfahren wird um Aufklärung gerungen. Alle Fraktionen im Bundestag haben zu Beginn der neuen Legislaturperiode die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses noch einmal bekräftigt. Auch journalistische Recherchen haben einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung geleistet.

Es ist wichtig, dass unsere Institutionen dem gewalttätigen Extremismus mit geschärften Sinnen und den geschärften Waffen des Rechtsstaates begegnen. Und es ist wichtig, dass weiter aufgeklärt wird, wo Fragen bleiben.

Wir Demokraten stehen weiter zusammen und bekräftigen unser Versprechen: Wir schenken denen, die Hass und Gewalt verbreiten, nicht unsere Angst. Wir machen sie nicht größer, als sie sind. Aber wir reden sie auch nicht klein. Es sind nur wenige. Doch was sie zerstören wollen, ist uns unendlich wertvoll. Es ist das, was unser Land ausmacht – der Respekt vor der Würde des Menschen, das ""Ja"" zu den Menschenrechten, zur Achtung des Rechts und zu einem Leben in Pluralismus und Offenheit. Wer Menschen, die selbstverständlich hier leben, all dies abspricht oder ihnen gar Gewalt antut, spricht nicht für dieses, für unser Deutschland!

Ich danke allen Menschen, die für andere einstehen, wo extremistische Aggression sich zeigt. Im Alltag kann und muss jeder von uns etwas tun, damit Vorurteile und Hass das Miteinander der Vielen und der Verschiedenen nicht vergiften: nicht mitlachen über einen rassistischen Witz, nicht mitmachen bei übler Nachrede über die vermeintlich ""Fremden"", nicht mitschweigen, wenn alle dröhnend schweigen. Sondern: Aufstehen und Zähne auseinander!

Dieses Fest schafft etwas Großartiges: Es beantwortet den Hass der Wenigen mit dem Mitgefühl und der Solidarität der Vielen!

Das ist ein Geschenk – von der und für die Keupstraße, deren Anwohner sich nicht unterkriegen lassen. Ein Geschenk für diesen Stadtteil, Mülheim, für Köln, das immer schon weltoffen und tolerant war, und für unser Land, das wir uns auch nur so – weltoffen und tolerant – vorstellen mögen. Ein Land, in dem wir ohne Angst verschieden sein können. So wollen wir dieses Land. So gestalten wir es und so verteidigen wir es! "





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