Newsnational Sonntag, 09.03.2014 |  Drucken


Es ist Zeit für AIR-DROPPING

Die Not der Syrer kennt keine Grenzen - Rupert Neudeck war im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien für die Grünhelme unterwegs

Der Gründer der Hilfsorganisationen  «Grünhelme», Rupert Neudeck, fordert stärkere internationale Anstrengungen für die Menschen in Syrien. Angesichts des «wahnsinnigen Hungers» sprach er sich  dafür aus, die Bevölkerung aus der Luft mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Die Dramatik der Situation mache diese «letzte Möglichkeit der Ernährung einer Bevölkerung» notwendig. Die internationale Gemeinschaft habe Syrien mittlerweile fast vergessen, kritisierte Neudeck. Neun Millionen Syrer seien auf der Flucht, und viele würden ohne Hilfe verhungern. Die Angst der Menschen vor Bombenangriffen sei so groß, dass die Ernte nicht mehr funktioniere. «Und damit funktionieren die Basare auch nicht, die ja eigentlich das Herzmittel der Wirtschaft eines arabischen Landes sind.»

Hier sein "Bericht":

Ich komme von der türkisch-syrischen Grenze zurück mit einer schlimmer Nachricht und einer kleinen guten Nachricht. Die Not der Menschen in Syrien ist nicht mehr zu übertreffen. Die Flüchtlingswelle ist so groß wie bei keinem der vergangenen Konflikte aus der Zeit nach dem Fall der Mauer. Acht Millionen Menschen sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Sie sammeln sich, zumal diejenigen, die nicht privilegiert sind mit reichen Verwandten im Ausland oder guten Vermögen auf ausländischen Banken, in 38 (!) Lagern entlang der türkisch-syrischen Grenze. Es gibt in Syrien, in ganz Syrien mittlerweile wütenden Hunger. Die Felder können nicht mehr so wie noch 2011, 2012, 2013 bestellt werde. Die Bazare funktionieren nicht mehr. Die Brutalität der Luftangriffe der Flugzeuge des Regimes auf Aleppo und andere Städte erreicht ein Maß, das den mitleidenden Beobachter stumm macht. Es sind nun auch Autobomben. Ein Auto vollgestopft mit TNT stand vor zwei Wochen vor dem wichtigen Krankenhaus in Atmeh und ging dann in die Luft. Das Hospital war wegen seiner großen Chirurgie berühmt, drei funktionierende Operationssäle. Alles ist kaputt, es steht ein großer Teil des Gebäudes, das Innere ist ausgebrannt. Aber die Ärzte des Krankenhauses - einen Mediziner treffen wir in dem türkischen Reyhanli - bitten uns um neue Geräte, die teuersten und wichtigsten, auch alte, aus deutschen Krankenhäusern, Röntgengeräte, Ultraschall, Defibrillatoren, damit der Betrieb möglichst bald wieder aufgenommen werden kann.

Die kleine gute Nachricht. Man kann diese Geräte, auch Nahrung, auch Medikamente dorthin bringen, es ist schwierig und der türkische Zoll macht manchmal willkürlich die Schotten dicht, je nachdem an welcher Grenze man in die Türkei hineingeht, aber mit Geduld und Chuzpe geht immer doch alles. Da niemand gegenwärtig mit deutschem Pass von der türkischen Seite über die Grenze nach Syrien gelassen wird, ist man als Helfer auf die Kontakte in den türkischen Grenzorten angewiesen, Reyhanli, Antakya, Hacipasa. Die Syrer schicken aus jedem Dorf, aus jedem Hospital, aus jeder größeren Schule einen Vertreter, mit dem man das Umladen der Nahrungsmittel und Medizin an der Grenze besprechen und arrangieren kann.

Die Türkei ist weiter zu loben, dass sie die Syrer einfach hereinläßt. Schon jetzt sind neben den in Lagern aufgenommenen 450.000 Syrern mehr im Lande und zumal in dieser Grenzregion untergekommen. Jeden Tag kommen weitere Hunderte, wir erleben sie auf der Fahrt an der Grenze entlang, sie halten es in ihrem Land nicht mehr aus, wer einen Beruf gelernt hat nimmt sein Gepäck wie ein fahrender Geselle und geht in die Türkei. Städte wie Reyhanli und Antakya vibrieren mehr auf arabisch denn türkisch – oder jedenfalls gleich in beiden Sprachen.

Alle kleinen und großen Orte von jenseits der Grenze schicken ihren Vertreter nach Reyhanli, um dort mit den kleinen Initiativen und Organisationen die Hilfslieferungen und sogar den Bau von Schulen für syrische Flüchtlingskinder und Wassercontainer und Hospitäler abzumachen. Mittlerweile, erzählt mir der deutsche Syrer Dr. Marwan Khoury von der deutschen Organisation Barada e.V., dass es jenseits der Grenze 38 ‚wilde’, von niemandem organisierte oder unterstützte Flüchtlingslager mit zigtausenden von Menschen jenseits der türkischen Grenze, aber in Grenznähe gibt. Die Hochkommissarin des UNHCR, Nathalie Fustier sitzt in einem vornehmen Hotel in Antakya und beobachtet das, aber sie darf natürlich nur mit Genehmigung der Regierung in Damaskus etwas unternehmen, also tut sie nichts. In dem Land, in dem die Menschen nur noch Hunger, Angst, Drohung, Alpträume haben, gibt es nur noch einen letzten Rest von Sicherheit: die Nähe der türkischen Grenze. Das Lager Atmeh liegt auf der syrisch-türkischen Grenze. Die Menschen fühlen sich zu Recht etwas sicherer, weil sie erwarten, dass die Luftwaffe der Türkei bei einem etwaigen Luftangriff an der türkisch-syrischen Grenze zurückschlagen wird.

Dr. Marwan Khoury ist Arzt in Hof in Bayern, seit 30 Jahren in Deutschland, er hat aus der Not, dass die Helfer nicht mehr wegen der Entführungsgefahr nach Syrien gehen, eine Tugend gemacht. Er lässt Schulen bauen, in dem Flüchtlingslager Atmeh ist schon eine entstanden für 160 Kinder, die in drei Schulräumen unterrichtet werden von vier Lehrerinnen. Da es nichts anderes gibt, muss die Organisation den Unterhalt bezahlen, geringe Gehälter, für die man in Deutschland „peanuts“ sagen würde. Der Schulleiter kommt über die Grenze, bringt die Gehaltliste und die Einkäufe mit, die die Organisation bezahlt. So hat Marwan Khoury es geschafft, dass er Schulen baut, Transporte mit Nahrungsmitteln organisiert und immer alles fein säuberlich mit einem Quittungsblock der Organisation abgerechnet wird.

Den Erweiterungsbau der Schule, weil es mittlerweile 560 Kinder geworden sind, werden die Grünhelme in Zusammenarbeit mit Barada e.V. übernehmen. Und es sollen zwei weitere Schulen im Grenzgebiet gebaut werden. Der Schulleiter Wael (die ganzen Namen sollen nach Wunsch der Gesprächspartner nicht bekannt werden, man fürchtet auch in Antakya und Reyhanli noch Vertreter des syrischen Geheimdienstes) kann nicht über die Grenze legal, weil er keinen gültigen Pass mehr hat. Er muss in einem kleinen Boot in einem Fluss, der bei Hacipasa auf türkisches Gebiet kommt, nach Reyhanli kommen. Alles ist so, dass man das volle Vertrauen haben darf: Hier kommen die dringend notwendigen Hilfsgüter und Spenden und Nahrungsmittel an. Wir wollen auch jemanden dort von den Grünhelmen stationieren, weil Dr. Marwan Khoury eine gut gehende Praxis in Hof betreibt und nur wochenweise mal zusammen mit seiner Tochter Dunja Khoury dort aktiv werden kann.

Es ist Zeit für ein Air Dropping
Wir sitzen am 3. März in Reyhanli mit jemandem zusammen, der gerade aus Homs gekommen ist, dessen Familie ausgebombt ist und der auch ein medizinisches Problem mit einigen Splittern im angeschossenen Bein hat. Der junge Mann  im Lehrlingsalter berichtet uns davon, dass die UNO über den beschlossenen humanitären Korridor nicht genug zu essen gebracht hat. Man hat sich über die Lieferung gestritten. Hungrigen Menschen werden einander zu Wölfen, wenn sie für sich und ihre Familien nicht genug zu essen bekommen. Wir treffen Vertreter von Hama, 150 km von hier. Die Brutalität der Luftangriffe geht jetzt in die nächste Dimension. Statt der Fässer mit TNT, die auf Aleppo und andere Städte geworfen werden, gibt es jetzt Container, die mit Explosivstoffen gefüllt, aus Flugzeugen oder Helikoptern abgeworfen werden.

Einer berichtet uns, die Erschöpfung der Menschen sei so total, dass sie dem Regime sagen: Gebt uns nur Nahrung, damit wir überleben und wir verzichten auf alles, worauf wir gesetzt haben: Demokratie, Menschenrechte, Freiheit nach über fünfzig Jahren. Müssen wir diesen Menschen nicht, helfen, damit sie nicht mehr darauf verzichten müssen?



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