Artikel Mittwoch, 15.09.2010 |  Drucken

Deutsches Institut für Menschenrechte: Thilo Sarrazin benutzt rassistische Argumentationsmuster und stellt sich gegen das Grundgesetz - Hendrik Cremer

„Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ – so heißt der Titel eines „Sachbuchs“, das soeben im renommierten DVA-Verlag erschienen ist. Angesichts der Auf-merksamkeit, die Thilo Sarrazin mit diesem Buch erzielt, ist es nicht möglich, seine öffentlichen Aussagen in Interviews, Talkshows oder in seinem Buch und die daraus resultierende Debatte zu ignorieren. Mit diesem Beitrag sollen Aussagen von Sarrazin insbesondere einer menschenrechtlichen Betrachtung unterzogen werden. Zumal Sarrazin, als Mitglied im Vor-stand der Deutschen Bundesbank Inhaber eines hohen öffentlichen Amtes, das fortsetzt, was er bereits in der Vergangenheit getan hat.
Dazu zählen diffuse und polemische Ausführungen zur gegenwärtigen Einwanderungspolitik in Deutschland. Dabei zeichnet er ein Bild, als ob Zuwanderung nach Deutschland keiner Steuerung unterliege, so dass Menschen einfach nach Deutschland einwandern und hier Sozialleistungen beziehen könnten. Dies ist mitnichten der Fall.

Die Ausführungen Sarrazins sind nicht nur gekennzeichnet durch mangelnde Sachlichkeit. Sarrazin manipuliert. Dies etwa dann, wenn er Diskriminierung im Bildungssystem und im Bereich der Beschäftigung mit grotesken Thesen einfach leugnet. Außerdem greift er beliebig auf Statistiken zurück, die er so einsetzt, dass sie zu seiner Weltsicht passen. Andere Inter-pretationsmöglichkeiten bezieht er nicht mit ein. Datenerhebungen oder Ergebnisse wissen-schaftlicher Untersuchungen, die zu seiner eigenen Wirklichkeit nicht passen, finden keine Erwähnung.
Deutschland gehört zu den Staaten, die sich – wie die EU und zahlreiche Staaten weltweit – zu den Menschenrechten bekennen. Sarrazins Ausführungen unter der Rubrik „Zuwande-rung und Integration“ verkennen die Bedeutung von Menschenrechten und internationalem Flüchtlingsschutz. Sofern sie seinen Vorstellungen von Politik entgegenstehen, begreift er sie als lästiges Übel, das beliebig abzuschaffen sei. („In solchen grundsätzlichen politischen Fragen ist nichts alberner als der Hinweis, dieses oder jenes sei rechtlich nicht möglich. (…) Das Grundgesetz ist schon für weitaus unbedeutendere Fragen geändert worden.“) Sarrazin scheint nicht zu verstehen, dass Menschenrechte und internationaler Flüchtlingsschutz den Staat binden. Seine Vorschläge für Änderungen in der Zuwanderungspolitik sind weder mit international gültigen Menschenrechten vereinbar noch mit dem deutschen Grundgesetz. Sie bewegen sich außerhalb der verfassungsrechtlichen Ordnung.
Die Diskussion zu Aussagen von Thilo Sarrazin zeigt: Es wird Zeit, in Deutschland eine De-batte über das Verständnis von Rassismus im 21. Jahrhundert zu führen.
Denn wenngleich es mittlerweile viele Stimmen gibt, die Sarrazins öffentliche Aussagen in Interviews oder seinem Buch als rassistisch einordnen, scheint einigen Kommentatoren de-ren Bewertung immer noch Schwierigkeiten zu bereiten. Sind seine Aussagen nun rassis-tisch oder nicht? Antworten darauf werden teilweise bei ihm selbst gesucht: „Herr Sarrazin, sind Sie ein Rassist?“ Diese Fragestellung führt indes nicht weiter. Bei der Frage, ob Aussa-gen rassistisch sind, kann es grundsätzlich nicht darum gehen, ob derjenige, der sie äußert, sich selbst als Rassist bezeichnet. Diese Frage ist im Grunde unbedeutend. Insbesondere dann, wenn der Inhalt der Aussagen klar dokumentiert ist und nicht in Frage steht.

In Deutschland werden mit dem Begriff Rassismus oft die Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus assoziiert. Von Rassismus ist häufig nur dann die Rede, wenn es um poli
tisch organisierten Rechtsextremismus geht. Ein solch enges Verständnis von Rassismus wurde in den vergangenen Jahren von UN-Gremien wie auch der Europarats-Kommission gegen Rassismus kritisiert. Denn rassistische Argumentationsmuster der Gegenwart werden nicht erst dann zu solchen, wenn sie auf biologistischen Theorien von Abstammung und Ver-erbung basieren. Es ist erst recht nicht erforderlich, dass Menschen dabei begrifflich nach unterschiedlichen „Rassen“ eingeteilt werden.
Rassistische Argumentationsmuster der Gegenwart verlaufen – wenn man so will – versteck-ter. Typischerweise basieren sie auf Zuschreibungen aufgrund unterschiedlicher „Kulturen“, „Nationen“, „Ethnien“ oder Religionszugehörigkeit. Kennzeichnend für Rassismus ist die Konstruktion von Gruppen, nach der in „Wir“ und die „Anderen“ unterteilt wird. Es handelt sich um Konstruktionen, weil vermeintlich homogene Gruppen gebildet werden, deren indivi-duellen Mitgliedern pauschal bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Konse-quenz solcher Zuschreibungen ist damit auch, dass die jeweiligen Menschengruppen sozu-sagen in ihnen „gefangen“ gehalten und nicht mehr als Individuen wahrgenommen werden. Solche Kategorisierungen von Menschen erreichen jedenfalls dann rassistische Dimensio-nen, wenn sie mit Hierarchisierungen oder Abwertungen einzelner Gruppen einhergehen.
Legt man dieses zeitgemäße Verständnis von Rassismus zugrunde, ist es ein Leichtes, Aus-sagen von Sarrazin als rassistisch zu bewerten: Kennzeichnend für seine Äußerungen ist, dass er die Gesellschaft in Deutschland nach dem Muster „Wir“ und die „Anderen“ unterteilt. Innerhalb der „Anderen“ bildet er weitere Untergruppen wie „Türken“ „Araber“ oder wahlwei-se „muslimische Migranten“, deren Mitgliedern er in verallgemeinernder und herabwürdigen-der Weise bestimmte negative Eigenschaften zuschreibt.
Sarrazin weist den Vorwurf rassistischer Denkstrukturen von sich. Zugleich greift er zu einem Stilmittel, das bei der Verbreitung solchen Gedankenguts nicht unüblich ist. Er beklagt die Mauern der politischen Korrektheit, um gleichzeitig rassistische Verbalattacken vorzuneh-men.
Damit aber nicht genug. Die Thesen Sarrazins zur „genetischen Identität“ eines Volkes, in denen er die Vererbung von Eigenschaften – insbesondere von Intelligenz - mit der „Kultur“ von Menschen in einen Zusammenhang setzt oder Sätze formuliert wie „Alle Juden haben ein bestimmtes Gen“, erreichen eine Dimension, bei der es nicht ausreicht, sie als rassisti-sche Äußerungen modernen Zuschnitts zu klassifizieren. Sarrazin nimmt mit seinen biologis-tischen Thesen vielmehr Rückgriff auf ein Gedankengut, welches die geistige Grundlage des Nationalsozialismus bildete: Die Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschengrup-pen („Rassen“) nach pseudowissenschaftlichen Kriterien.
Dem Deutschen Grundgesetz und der Kodifizierung universell gültiger Menschenrechte nach 1945 liegt die Erkenntnis zugrunde, dass alle Menschen in ihren Rechten und in ihrer Würde gleich geboren sind. Diese Grundsätze, die das Fundament des Grundgesetzes und der uni-versell gültigen Menschenrechte bilden, werden in den rassistischen Ausführungen und Grundaussagen Sarrazins negiert.
Deutschland ist als Vertragsstaat der UN-Anti-Rassismus-Konvention Verpflichtungen einge-gangen, welche die staatliche Gewalt umfassend binden. Auch die Einführung des Allgemei-nen Gleichbehandlungsgesetzes im Jahre 2006, das ein rechtliches Instrument bietet, sich gegen rassistische Diskriminierungen zur Wehr zu setzen, war menschenrechtlich geboten und stellte nicht nur eine Umsetzung europarechtlicher Vorgaben dar. Zudem enthält die Konvention Verpflichtungen, Rassismus im politischen Raum und im öffentlichen Leben ent-gegenzutreten. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass einmalige Bekenntnisse zu den Men-schenrechten nicht ausreichen, diese müssen vielmehr gelebt, praktiziert und verteidigt wer-den. Welche Ausmaße Diskriminierung und Rassismus in einer Gesellschaft annehmen, ist letztendlich von den Überzeugungen und Einstellungen ihrer Mitglieder abhängig.

Dabei kommt der Politik, dem Staat und seinen Institutionen die wichtige Funktion zu, Maß-stäbe zu setzen. Dazu gehört auch, dass Politiker oder andere Repräsentanten des Staates Rassismus im öffentlichen Raum benennen und die Stirn bieten. Mehr noch: Die Reaktion auf Sarrazins Buch darf nicht dabei stehen bleiben, seine Äußerungen zurückzuweisen.

Nicht wenige Kommentatoren verurteilen seine Diffamierungen, kommen aber zu dem Schluss, Sarrazin spreche im Kern die eigentlichen Probleme an. Damit spielen sie der Dramaturgie von Sarrazins Auftritt direkt in die Hände: Sarrazin inszeniert sich als Provokateur, der Tabus bricht. Damit löst er vor allem Reaktionen aus, die sich gegen den Ton und die Schärfe sei-ner Äußerungen wenden. Wenn nach der Debatte dieser Wochen dann seine rassistischen Thesen und Behauptungen auf der Grundlage unwissenschaftlicher und willkürlicher Inter-pretation von Zahlen als im Kern richtig stehen bleiben, hat Sarrazin sein Ziel schon erreicht. Die gegenwärtige Debatte sollte deshalb zum Ausgangspunkt für eine sachliche Diskussion über das Verständnis von Rassismus und die Voraussetzungen einer inklusiven Gesellschaft in Deutschland genommen werden.

Dabei muss klar sein: In Sarrazins rassistischen Ausführungen und Grundaussagen werden fundamentale Prinzipien des nach 1945 geschaffenen Deutschen Grundgesetzes und der universell gültigen Menschenrechte negiert. Außerdem liegen wesentliche Forderungen Sar-razins nach Rechtsänderungen im Bereich der Zuwanderungspolitik jenseits des menschen-rechtlich Zulässigen und des unveränderbaren Kerns des Grundgesetzes. „Deutschland schafft sich ab“: So gesehen macht der Titel des Buches Sinn.

Autor: Dr. Hendrik Cremer, Wissenschaftlicher Referent am Deutschen Institut für Menschen-rechte Berlin





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