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Montag, 22.12.2014 | Drucken |
Staatskrise – nichts weniger: Zu einem Bericht über die Mordserie der NSU aus der Sicht der Opfer. Von Rupert Neudeck
„Warum hat der Staat sein Wächteramt nicht ausgeübt, obwohl der Schutz der Bürger vor Gewalt zu seinen zentralen Aufgaben gehört?“
Das Buch bringt mich als Leser zurecht, wie Immanuel Kant gesagt haben würde. Es ist ein Buch, das an Ernst nicht zu überbieten ist und das wir als Leitlinie für die Beschäftigung mit dem, was da zehn ganze Jahre in unserem Lande passiert ist, dringend brauchen werden. Die Sätze von Barbara John wirken noch Tage später nach und ich kann sie nicht vergessen, weil sie auch Ausdruck für eine zu schnelle politische Entschuldigungsmanie geworden sind.
Die Herausgeberin schreibt, dass in dem ungleich ausführlicheren Buch von Stefan Aust und Dirk Laabs mit dem Titel „Heimatschutz“ die Frage gestellt wurde, „welche Rolle der Staat bei der Mordserie des NSU gespielt hat“? Seit sie als Ombudsfrau für die Familien der Hinterbliebenen der zehn Mordopfer des NSU arbeite, beschäftige sie diese Frage aber in variierter Form: „Warum hat der Staat sein Wächteramt nicht ausgeübt, obwohl der Schutz der Bürger vor Gewalt zu seinen zentralen Aufgaben gehört?“ Und, ebenso wichtig, die klare Folgerung: Erst wenn wir das wissen, „könnten wir ähnliche Fehler zukünftig vermeiden“. Das, was die Öffentlichkeit, die organisierte und die offizielle, schon mit den Staatsakten abgefeiert gedacht hatten, bringt Barbara John jetzt mit allem Nachdruck noch mal zurück auf den Tisch und in die Debatte. Diese zehn Jahre der neun Morde der NSU waren nämlich nichts weniger als eine Staatskrise. Das Buch könnte auch heißen „Staatskrise“, in der wir uns befunden haben und wegen der nicht begonnenen Aufarbeitung weiter befinden. Und diese Staatskrise ist noch schlechter in uns zu bearbeiten, weil wir sie nicht wirklich bemerkt haben.
Obwohl schwerste Disziplinarvergehen vieler Mitarbeiter von Polizei und der Ämter festgestellt werden mussten, „die zumindest einen Anfangsverdacht auf Strafvereitelung begründen, „wurde bisher nicht in einem einzigen Fall ein Disziplinarvergehen eingeleitet“. Nicht einmal die Forderung danach wurde in der Politik laut. In der allgemeinen Ratlosigkeit, wie wir uns jetzt verhalten, hatte Barbara John, wie sie in ihrem langen wichtigen Eingangsessay schreibt, ein Gedankenexperiment gemacht. Sie hatte einmal den Fall von neun deutschen Gewerbetreibenden ohne Migrationsgeschichte durchgespielt, die nach diesem Muster ermordet wurden. „Immer mit derselben Waffe an wenig frequentierten Tatorten in sechs Städten, die in fünf verschiedenen Bundesländern liegen. Hätten, fragt sie, die Ermittler vom Beginn der Untersuchungen bis zum Abschluß darauf bestanden, dass jeder der Erschossenen und ihre Familien ganz sicher irgendwie mit dem Tätermilieu verbandelt wären? Hätten sie am Ende geschlußfolgert, solche brutalen Tötungen entsprächen dem kulturellen Milieu der Opfer? Und last not least: wären die Medien, wären wir alle einschließlich der politischen Eliten, den Deutungen der Ermittler in diesem Fall ebenso widerspruchslos gefolgt?
Das Buch macht uns noch mal klar, wie wenig wir begriffen haben, die wir jetzt schon wieder die Asylbewerber und Flüchtlinge als gefährliche Menschen aufnehmen, die bei den Asylunterkünften zuerst und vor allen Dingen einen Polizeischutz für die umliegende deutsche Bevölkerung ohne Migrationshintergrund braucht – oder eben einen Sicherheitsdienst. Die einzelnen Geschichten, die die Stimme der Opfer-Familien uns überbringen, die so furchtbar gelitten haben sind von bestürzender Eindringlichkeit. Das was sie vereint und zusammenstimmen läßt, ist der Verlust an Vertrauen, den deutsche Staatsbürger erlitten haben, die nicht nur das haben mitansehen müssen, sondern die selbst einbezogen wurden in den Verfolgungsprozeß als potentielle Täter und Brutalokiller, als Drogendealer und was sonst Türken und Kurden und Griechen usw. bei uns nur können.
Man kann dabei keines dieser Zeugnisse herausgreifen, sie sind alle von einer beschämenden Klarheit und Schlichtheit. Um Franz Kafka abzuwandeln. Es war nicht „jemand“, der diese Familien wie seinerzeit Josef K. verleumdet hatte. Der Staat musste diese neun Opfer verleumdet haben, denn ohne dass sie irgendetwas Böses getan hätten, wurden sie eines Morgens als potentielle Täter verhört. Der Staat hat diese Verleumdung vorgenommen. Franz Kafka wäre darauf noch gar nicht gekommen. Und bis heute ist es noch so, dass diese Nachkommen-Opfer, die Ehefrauen, Söhne, Töchter nicht in einer nur anständigen Weise rehabilitiert worden wären. Das kann nämlich weder mit einem Mammutprozess, der im anderen neutralen Sinne des Wortes als bei Stalins Gulag ein Schauprozeß geworden ist, oder mit Geld geleistet werden, auch nicht mir einzelnen Staatsakten, sondern in dem wir uns erst einmal dieser Staatskrise stellen. Dass wir das noch nicht tun, macht der Schlußbeitrag des Buches deutlich, der deshalb so bildhaft für diese Fragen ist, weil er von einem wirklichen Sympathisanten dieser Familien und den Angehörigen der Opfer geschrieben wurde, nämlich von dem Obmann der CDU im Untersuchungsausschuss „Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund“ des Bundestages, nämlich Clemens Binninger. Binninger besteht weiter darauf, dass wir die V-Männer natürlich brauchen, ohne die Staatskrise in den Blick zu nehmen, wie das Barbara John tut.
Um es an einem Buchbericht deutlich zu machen. Kerem Yasar wurde am 9. Juni 2005 in der Südstadt von Nürnberg hingerichtet an seinem Dönerspieß, hingerichtet ist das richtige Wort, denn zweimal haben Unbekannte auf den Kopf des Türken gezielt. Der Sohn Ismael Yasar beschreibt, wie er heimatlos geworden ist. Die Beschuldigungen waren so schlimm, dass „meine Mutter sogar Angst hatte, mit uns Kindern zur Beerdigung in die Türkei zu fliegen“. Die Beschuldigungen der Behörden haben veranlaßt, dass die Familie des Vaters die Mutter von Ismael Yasar verdächtigte, den Vater ermordet zu haben. Die Mutter wurde von der Polizei einbestellt ebenso wie der 15jährige Sohn, von dem DNA Proben und Fingerabdrücke genommen wurden, als wäre er der Täter. Der Mutter wurden richtige Fangfragen gestellt. „Irgendwann behaupteten sie, mein Vater hätte vom Imbiss aus Drogen an Jugendliche verkauft.“ Die Staatskrise hat eine Identitätskrise ausgelöst, die wir als Deutsche erst bereinigen müssen, bevor wir wieder Integrationsforderungen an unsere von weit herkommenden Mitbürger stellen. Sein Vater, so wurde Ismael Yasar klar, „ist allein deshalb umgebracht worden, weil er türkische Wurzeln hatte.“ Und Ismael fragt sich: „Wer bin ich eigentlich? Ich bin zwar hier geboren, aber ich bin türkisch erzogen worden. Ich habe deutsche Freunde, ich bin mit allen klar, ich habe den deutschen Pass. Aber wenn man mich fragt, was ich bin, sage ich heute eher: Ich bin Türke“,
Wir müssen das ernstnehmen, was in diesem Buch aus der Feder der Opferfamilien kommt. Viele können kein richtiges Vertrauen mehr in die Polizei und die Dienste entwickeln. “Viele Polizisten sind selbst richtige Rechte. Ich habe erlebt, wie die mich an der Ampel angehalten haben, weil ich ein bisschen zu schnell gefahren bin.“ Ein Beamter habe gleich seine Waffe gezogen, gerufen “Hände aufs Lenkrad“. Am helllichten Tag, „mitten auf der Hauptstraße hat er mich nach Drogen gefilzt.“
Der Prozeß kann denen auch nicht gefallen, denn der geschieht im schönsten Lichte einer blendenden Demokratie-Staatsordnung, die sich nichts vorzuwerfen hat. Ismael Yasar geht nicht zu dem Prozeß in München. Er will den Leuten nicht ins Gesicht schauen. Das deutsche Rechtssystem sei ja so. „Die Zschäpe kommt nach ein paar Jahren wieder heraus, läuft irgendwann wieder über die Straße und kann mit einer neuen Identität ein ruhiges Leben führen“.
So eindringlich steht es in jedem der neun Berichte. Diese Identitätssuche beginnt auch bei der Tochter des 2006 in Dortmund ermordeten Mehmet Kubasik, Gamze Kubasik. Die Geschichte dieser Familie ist in sich für uns Deutsche schon interessant: Die Tochter hadert mit sich: Der Mord hat alles in ihr verändert, es gäbe Tage, da sie sich verfluche und in die Türkei auswandern wollte. „Dieses Land will mich nicht. Es hat dir deinen Vater genommen“. Aber wenig später denkt sie kämpferisch ganz anders: „Hey dieses ist auch mein Land. Sie sei hier aufgewachsen, zur Schule gegangen, wenn ich mich als Deutsche fühle, kann mir das keiner wegnehmen. Ich bin Teil dieser deutschen Gesellschaft, aus der auch diese Rechtsradikalen gekommen sind.“
Es ist gut, dass eine so erfahrene Frau wie Barbara John die Vertretung der Opferfamilien übernommen hat. Sie beschreibt es ganz schlicht. Am 13. Dezember hatte Maria Böhmer angerufen und sie gefragt, ob sie die Aufgabe der „Ombudsfrau der Bundesregierung für die Opfer und Opferangehörigen der sog. Zwickauer Zelle“ übernehmen könne. Sie hat das getan, sie hatte eine ganz große Erfahrung als erste Integrationsbeauftragte im Berlin als Deutschland sich noch nicht Einwanderungsland nennen durfte. Sie hat die Aufgabe angenommen, schnell, persönlich, unbürokratisch, formularfrei. „Kein Büro wie in einer Verwaltung mit festen eingegrenzten Sprechstunden. Und Dienstzeiten inklusive Zuständigkeitsgehabe und Mitarbeitern.“ Über eine Aufwandsentschädigung musste nicht verhandelt werden auch nicht über ein Diensthandy, „denn ich wollte weder das eine noch das andere“. Voila une femme, Gott sei Dank haben wir in Deutschland noch Frauen, die diese Staatskrise benennen und ihr entgegenarbeiten.
Es ist schade, dass das Vorwort der Bundeskanzlerin den entscheidenden Punkt nicht trifft, der aber die Bundesregierung und die Kanzlerin heftig treffen muss: „Warum hat der Staat seine Wächterfunktion nicht ausgeübt, obwohl der Schutz der Bürger vor Gewalt zu seinen zentralen Aufgaben gehört?!“ Das hat Angela Merkel nicht aufgegriffen. Wenn sie das Buch gelesen hätte, würde sie es wohl getan haben. Der einzige, der die Staatskrise angemessen gesehen hatte, war wohl der damalige Bundespräsident Christian Wulff. Der hatte die Angehörigen der Opfer kurzerhand am 23. November 2011 in das Bundespräsidialamt eingeladen, nach dem der rechtsextremistische Hintergrund der Morde bekannt geworden war. Die Teilnehmer, so wird berichtet, saßen von 18.00 Uhr bis in die Nacht zusammen. „Endlich konnten sie dem Staat ihr Herz ausschütten. Nach Jahren totalen Schweigens und Mißtrauens der staatlichen Stellen bot sich dazu die erste Gelegenheit und was für eine hochrangige“. Anwesend waren auch die Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und die Staatsministerin für Migration und Integration Maria Böhmer. Aber Christan Wulff hatte sich auf Grund einer Medienverschwörung und eigener Torheiten leider viel zu schnell aus dem Amt gebracht.
Das Buch nimmt die Staatskrise wieder auf und führt sie in die öffentliche Diskussion, wir dürfen sie nicht beenden, ohne dass die Staatskrise dekuvriert wird und Konsequenzen gezogen werden. Unsere Volksvertreter sollten sich der Sache annehmen, unsere Medien, die öffentliche Meinung. Unsere Mitbürger – die sich in diesem Buch so bewegend äußern – haben alle ein volles Anrecht darauf.
Barbara John (Hg.): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet. Herder Verlag Freiburg 2014 176 Seiten
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