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Donnerstag, 11.10.2012 | Drucken |
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"Syrien das Vietnam unserer Zeit, eine ganze Bevölkerung ist in Not"
Rupert Neudeck geht dorthin, wo kein anderer hinwill, wo Krieg und Leid herrschen - Von Frank Nordhausen
Rupert Neudeck blinzelt schlaftrunken ins Neonlicht. Immer wieder fallen ihm die Augen zu. Um ihn herum sitzen ein Dutzend Männer, Syrer und Deutsche, auf dem Fußboden und horchen gespannt auf jedes Geräusch. Als die Bomben fallen und eine von ihnen detoniert, irgendwo da draußen, blicken sie sich einen Moment lang stumm an. Ido, der fromme Krankenpfleger mit dem schwarzen Vollbart, murmelt ein Gebet.Eine halbe Stunde werden sie heute Nacht hier ausharren, in diesem Keller des kleinen Krankenhauses, in der syrischen Kleinstadt Azaz, nahe der türkischen Grenze. Eine halbe Stunde, bis Anas al-Heraky, der einzige Arzt, der hiergeblieben ist, Entwarnung gibt. „Die Flugzeuge sind weg, ihr könnt wieder schlafen gehen.“„Uns mitten in der Nacht zu wecken, hätte ja nicht sein müssen. Aber es ist gut, dass sie auf die Sicherheit achten“, sagt Rupert Neudeck am nächsten Morgen. Der 73-jährige, hagere Mann mit dem weißen Vollbart hat vor über drei Jahrzehnten die deutsche Flüchtlingshilfsorganisation Cap Anamur gegründet. Das ist Geschichte, Neudeck hat Cap Anamur vor neun Jahren verlassen. Er wollte noch einmal neu anfangen, eine Organisation aufbauen, die kleiner, flexibler, wendiger ist. Sein neues Hilfswerk taufte er Grünhelme, grün wie der Islam. Es gehe darum, ein Zeichen für christlich-muslimische Zusammenarbeit zu setzen, erklärt Neudeck. Eine Organisation, die wieder aufbaut, was Kriege zerstören, vor allem Schulen und Krankenhäuser, zum Beispiel in Ruanda und Afghanistan. Zwei Vollzeitmitarbeiter haben die Grünhelme in Deutschland – und eine Menge freiwilliger Helfer. Neudeck sagt, es sei nur logisch gewesen, nach Syrien zu kommen, als die Nachrichten von Blutbädern und Zerstörungen, von Flüchtlingen und Verletzten gar nicht mehr aufhören wollten.
Grünhelme treffen auf unerschütterlichen Optimismus in ein tief erschüttertes Land
Jetzt steht er mit zwei seiner Freiwilligen, dem 62-jährigen Deutsch-Syrer Saru Murat und dem 32-jährigen deutschen Mechaniker Bernd Blechschmidt am Eingang des kleinen Krankenhauses, wo sich am frühen Morgen schon zwei Dutzend Patienten für die Behandlung anstellen, vor allem Frauen und ältere Männer. Ein junger Mann mit Kalaschnikow hält Wache. „Wenn man eine Aufgabe hat, kann man nicht aufhören damit“, sagt Neudeck. Das hört sich idealistisch an. Aber er ist kein Träumer. Er hat sich mit dem Außenministerium in Berlin abgesprochen, das in Syrien humanitär helfen will, aber nicht weiß, wo und wie. Tatsächlich ist es schwierig, in Syrien zu helfen. Staatliche Hilfswerke dürfen während des Bürgerkrieges nicht tätig werden. Aber es gibt auch keine Ansprechpartner für humanitäre Organisationen im Rebellengebiet. Die will Neudeck nun finden. Es gebe einen riesigen Bedarf an Hilfe, sagt er, aber Deutschland habe, wie die anderen europäischen Länder, bisher so gut wie keine Hand für die Opfer gerührt. „Dabei ist Syrien das Vietnam unserer Zeit, eine ganze Bevölkerung ist in Not.“ Deshalb sei er hier. Zunächst für ein paar Tage. „Und deshalb muss es endlich losgehen“, sagt er, als die Gastgeber im Krankenhaus das Frühstück servieren. Die Grünhelme wollen in Azaz allerdings nicht nur Ansprechpartner auftun und Gebäudeschäden reparieren, sondern auch herausfinden, was medizinisch benötigt wird. Eine Inventur, während nur 40 Kilometer entfernt in Aleppo der Krieg tobt. Ist das Risiko da nicht zu groß? Neudeck streicht sich über den Bart. „Wir sind keine Hasardeure. Aber wir gehen eben auch dahin, wo es keine totale Sicherheit gibt. Irgendjemand muss es ja tun.“
„Die Bomben werden völlig willkürlich abgeworfen“
Neudeck hat auch entschieden, im Krankenhaus zu bleiben, obwohl Anas al-Heraky, der Arzt, die Deutschen in einem Wohnhaus einquartieren wollte. „Wir wollen den Leuten doch zeigen, dass wir zu ihnen halten.“ Damit geht Neudeck ein Risiko ein. Mehrfach sind Krankenhäuser von der syrischen Luftwaffe bombardiert worden. Azaz ist zwar eine „befreite Stadt“, aber das garantiert keine Sicherheit, geschweige denn ein normales Leben. Fließendes Wasser gibt es schon lange nicht mehr, und immer wieder stellt das Regime der Region den Strom ab. Dann muss im Krankenhaus der aus einem alten Deutz-Lkw-Motor gebastelte Generator angeworfen werden. Den nötigen Treibstoff besorgt das Bürgerkomitee, das die Stadt verwaltet. Es ist gespenstisch still in Azaz. Die Hälfte der rund 70 000 Einwohner ist in die Türkei geflüchtet, und Benzin ist so teuer geworden, dass kaum ein Auto fährt. Azaz war die erste Ortschaft, die den Rebellen der Freien Syrischen Armee (FSA) nach wochenlangen Kämpfen Ende Juli dauerhaft in die Hände fiel. Etwa ein Viertel der Häuser liegt in Trümmern, und es gibt gewaltige Trichter von den Fliegerbomben. „Die Bomben werden völlig willkürlich abgeworfen“, sagt Anas al-Heraky. Der 33-jährige Arzt ist Vater von drei Kindern. Ein stämmiger, mittelgroßer Mann mit blassblauen Augen, der gerne lacht, ein Energiebündel. Doch als er von der Situation in der Stadt erzählt, ist jede Heiterkeit verschwunden. „Sie treffen hier ausschließlich Zivilisten. Frauen, Kinder, alte Männer. Denn die jungen Männer kämpfen ja an der Front in Aleppo.“ Bei einer Explosion Mitte August starben mehr als 80 Menschen, und über 150 wurden schwer verletzt. „Wir waren vollkommen hilflos. In wenigen Minuten wurden 50 Verwundete gebracht.“ Der Krieg, sagt der Arzt, sei viel zu groß ist für die kleine Klinik. An jenem Tag seien mehrere Menschen unter seinen Händen gestorben. Und täglich würden Verwundete eingeliefert. Vom Eingang her tönt ein Ruf: „Der Wagen ist da!“ Vor dem Krankenhaus hält ein weißer Kombi mit der roten Aufschrift „Ambulance“. Anas al-Heraky springt vom Frühstück auf. Gewimmel im Gang. Ein junger Mann wird auf einer Liege aus einem der Krankenzimmer geschoben. Er hängt am Tropf, hat eine Schusswunde in der Brust, die Lunge ist verletzt. Zwei Stunden zuvor wurde er aus Aleppo gerettet. Jetzt wird er im Laufschritt in den Krankenwagen verladen, ein Händedruck, dann ist der Transporter wieder auf dem Weg in die Türkei. „Wenn die Türken uns nicht helfen würden, wären wir verloren“, sagt al-Heraky. „Wenn operiert werden muss, bringen wir die Patienten nach Kilis über die Grenze, wo sie umsonst behandelt werden. Wir sind den Türken zutiefst dankbar dafür.“ Operationen führt Anas al-Heraky nie durch, denn streng genommen ist er kein richtiger Doktor, sondern Anästhesist. „Aber ich bin der einzige, der übrig ist, was soll ich tun?“, fragt er und reibt sich die Augen. Er hat nur vier Stunden geschlafen. Das sei normal, sagt er und kehrt zum Frühstück zurück.
Nur der Anästhesist ist noch da
Gegessen wird auf dem Fußboden, nicht auf Teppichen, sondern auf den blitzsauberen Kacheln mitten im Gang zwischen den Krankenzimmern. „Das gibt es wohl nur in Syrien – ein Krankenhaus, wo man vom Boden frühstücken kann“, sagt Rupert Neudeck. Anas al-Heraky lacht. Dann erzählt er, dass in der Nacht niemand verletzt worden sei. Der Sprengkörper sei exakt in der Mitte der Hauptstraße explodiert. „Viele Menschen sind trotzdem voller Panik in die Oliven gerannt.“ Hunderte, wenn nicht Tausende, schliefen seit Wochen schon in den Olivenhainen, die Azaz umschließen und von denen die Stadt lebt. Auch Menschen aus anderen Landesteilen irren umher, Flüchtlinge im eigenen Land. „Und es ist niemand hier, um zu helfen. Nicht einmal die Vereinten Nationen.“Tee und Zigaretten werden herumgereicht. Dann klatscht Anas al-Heraky in die Hände und springt auf. Er ist bereit für die Patienten. Die meisten plagen Alltagsbeschwerden: Durchfall, Erkältung, Knochenbrüche. Aber es kommen auch Verwundete zur Nachbehandlung. Und viele, die traumatisiert sind wegen der Kämpfe, der Toten, der Bomben. „Wir haben einen gewaltigen Verbrauch an Schlaftabletten“, sagt al-Heraky. Er legt einem kleinen Jungen, der sich das Bein gebrochen hat und leise weint, den Gips an. Redet mit ihm, bis der Kleine lachen muss. Dann versorgt er einen Kämpfer der Freien Syrischen Armee, der an einer Schusswunde im rechten Oberarm laboriert. Anschließend eine ältere Dame auf Krücken, die nach Beruhigungsmittel fragt.Er sei überrascht, sagt Neudeck, wie gut die medizinischen Apparate in der Klinik seien. Vieles habe man aus dem beschädigten staatlichen Kreiskrankenhaus geholt, erläutert Anas al-Heraky. Auch ein Röntgengerät. In den Kellerräumen sind Medikamente gestapelt, dazu Spenden aus der Türkei. Der gesamte Betrieb ist auf Spenden angewiesen. Vieles fehlt: Antibiotika, Beruhigungsmittel und Blutreserven. Auch Neudeck hat einen Koffer voller Medikamente mitgebracht. Bombenexplosionen haben die Gebäudedecken beschädigt, die meisten Fensterscheiben sind gesprungen. Die kleine private Klinik, 2003 gegründet, hatte ursprünglich acht Ärzte. Doch nur Anas al-Heraky ist geblieben. Unterstützt wird er von freiwilligen Helfern. Medizinstudenten und Krankenschwestern, Taxifahrern und Friseuren, oder Automechanikern wie Ido, der Bärtige, dessen Werkstatt einem Bombenangriff zum Opfer fiel. Ido hat für die Freiheit seiner Stadt gekämpft, wurde zweimal verwundet, in der Türkei operiert, ist genesen und jetzt die rechte Hand des Arztes. Er sorgt dafür, dass der Betrieb im selbstverwalteten Krankenhaus nie stockt. Ido teilt die Helfer ein und hat noch die Kraft, um zu Mitternacht Spottlieder auf den Präsidenten Baschar al-Assad zu singen. 150 Patienten betreut sein Chef und Freund al-Heraky am Tag. Wenn Bomben fallen, sind es weit mehr. „Was wir in Syrien brauchen?“, fragt al-Heraky. „Ärzte, Ärzte, Ärzte!“ Dem jungen Doktor, seiner Energie, seinem Optimismus ist es zu verdanken, dass das Krankenhaus zum sozialen Zentrum geworden ist. „Die Leute finden bei ihm Zuwendung und Hoffnung – das ist der Grund, warum so viele herkommen“, sagt Rupert Neudeck. „Wie so oft sind es die Krankenschwestern oder Pfleger, die den Laden schmeißen, wenn es eng wird.“ Er denkt kurz nach. Dann sagt er zu al-Heraky: „Wir brauchen also einen Chirurgen, einen Facharzt für Inneres, einen Kinderarzt, eine Frauenärztin. Und einen Krankenhaustechniker.“ Jede Hilfe sei hochwillkommen, erwidert der Syrer und umarmt Rupert Neudeck.
Gekommen, um zu bleiben
Die deutschen Helfer besichtigen an diesem Tag noch zwei zerstörte, geplünderte, völlig verdreckte Schulen und das staatliche Krankenhaus am Ortsausgang. Es diente der syrischen Armee als Hauptquartier. An die Wände haben Regimesoldaten Durchhaltegraffiti geschmiert: „Baschar oder Tod“. Trotz Plünderung sind acht Dialysegeräte für Nierenkranke, Spezialkühlschränke und Blutzentrifugen übrig geblieben. „Die Ausstattung ist fantastisch“, sagt Neudeck. „Guter Zustand. Alles reparabel.“ In einem Haus außerhalb der Stadt wartet dann der lokale FSA-Kommandeur, ein kräftiger, dunkelhäutiger Mann, auf die deutschen Gäste. Abu Ibrahim, wie ihn alle rufen, fungiert jetzt auch als Bürgermeister in Azaz. Was Rupert Neudeck ihm zu sagen hat, hört sich der frühere Einzelhändler aufmerksam an. Er schätze die Deutschen, sagt er, sie seien bekannt für ihre Zuverlässigkeit. „Es war schon mal eine andere Organisation da, aber sie sind wieder weggegangen.“ Neudeck guckt einen Moment verdutzt, dann lacht er und sagt: „Wir kommen, um zu bleiben.“Eine Woche später ist Neudeck zurück in Deutschland, um den Einsatz vorzubereiten. Seine Mitarbeiter hat er im Krankenhaus von Azaz zurückgelassen. Anas al-Heraky hat den Grünhelmen einen großen Raum als Basisstation zur Verfügung gestellt. Sie haben bereits mit dem Wiederaufbau der Kellergewölbe begonnen. Mittendrin steht ein Arbeiter. Er heißt Saru Murad und sieht erschöpft aus, aber er ist zufrieden. Es gehe voran, sagt er. Ein Glaser hilft mit den Fenstern, ein Händler liefert Baumaterial. Sogar ein syrischer Chirurg aus den USA ist da, hat Urlaub genommen, um hier zu sein. „Die Leute hier sind unendlich froh über jeden, der ihnen beisteht“, sagt Saru Murad „Wenn so viele fliehen, macht es ihnen Mut, wenn jemand freiwillig herkommt.“
Erstveröffentlichung in der Frankfurter Rundschau vom 09.10.12 un dmit freundlicher Unterstützung des Autors Frank Nordhausen
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