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Donnerstag, 13.05.2010 | Drucken |
Mohammed Khallouk bespricht : Muslimisch – Weiblich – Deutsch von Lamya Kaddor – Zeitgemäße Islamauslegung als Mittel zur Identifikation mit Deutschland?
Die Islamkundelehrerin und Autorin des Buches „Muslimisch – Weiblich – Deutsch – Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam“, Lamya Kaddor, erweist sich als Kennerin der Diskrepanzen zwischen den öffentlichen Statements einer medienerprobten Elite und den Sichtweisen sowie Konflikten aus der gewöhnlichen Konfrontation von Muslimen und Nichtmuslimen in Deutschland. Zugleich zeigt sie in ihrem Buch anhand konkreter Alltagserfahrungen auf, dass Eliten und Zivilgesellschaft gleichermaßen, Immigranten ebenso wie alteingesessene Deutsche und sowohl Muslime als auch Nichtmuslime für ein harmonisches Miteinander in einer demokratischen Gesellschaft noch einen entscheidenden Schritt vor sich haben. Zwar lässt sie bereits im Titel die Überzeugung anklingen, sie selbst habe zumindest hinsichtlich der zeit- und kontextgemäßen Islamauslegung diesen Schritt hinter sich, bis die Außenwelt sie in der Form wahrnimmt, wie sie mit Recht akzeptiert zu werden beansprucht, erweise sich jedoch als unabgeschlossener und mutmaßlich lebenslanger Prozess.
Das Buch ist eine gelungene Kombination aus eigener autobiographischer Erlebnisschilderung und Präsentation aktueller gesellschaftspolitischer Problemdiskussion. Gerade die permanenten Rückgriffe auf die eigene Biographie der Autorin als Kind syrisch-muslimischer Einwanderer in einer westfälischen Kleinstadt am Nordostrand des Ruhrgebiets verleihen den gesellschaftskritischen Stellungnahmen einen Alltagsbezug, der in soziologischen Debatten über die geeignete Form der Integration des Islam und der muslimischen Minorität in Deutschland häufig abhanden kommt. Weder bleibt sie im Elfenbeinturm des religionspädagogischen oder islamwissenschaftlichen Diskurses stehen, noch lässt sie Zweifel daran aufkommen, dass sie mit ihrem akademischen Hintergrund und langjährigem Erfahrungsschatz in der Lage ist, geschickter und selbstbewusster auf Konfliktsituationen zu reagieren als die Majorität durchschnittlich gebildeter Muslime und Nichtmuslime, die über die eigene Religion und Weltanschauung bisher noch kaum reflektiert haben und von anderen Kulturen und Wertvorstellungen so gut wie keine Kenntnisse besitzen.
Ungeachtet dessen führt das Buch dem Leser vor Augen, wie notwendig eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Gesellschaft und ihren Grundlagen ist – zu denen der Islam mit dem Erwachsen werden der dritten, hier aufgewachsenen „Einwanderergeneration“ als elementarer Bestandteil hinzugehört. Diese kritische Auseinandersetzung fordert Kaddor für die Muslime, die ihre religiösen Grundsätze nach ihrer heutigen Bedeutung hinterfragen sollten, in nicht geringerem Maße aber auch für die nichtmuslimische Mehrheitsgesellschaft, die ihre muslimischen Nachbarn als pars pro toto zu akzeptieren aufgerufen ist, allerdings mit spezifischen eigenen, ihrer Religion erwachsenen Ansprüchen.
Selbstverständlich sieht die Autorin ihre Biographie hierfür in gewisser Weise als Vorbild an, die Unterstellung, sie schreibe ihr eigenes Lebensmodell als Prototyp für den „erfolgreichen Integrationsprozess einer Muslimin in Deutschland“ fest, verkennt jedoch ihre grundsätzliche Liberalität und ihr Bewusstsein für Individualität – auch im Hinblick auf eine zeitgemäße Islamauslegung. Einigen Muslimverbänden wie z.B. DITIB wirft Kaddor vor, eine bundesweite Repräsentanz für sich alleine zu beanspruchen, obwohl deren Funktionäre von den übrigen Muslimen nie dafür bestimmt worden sind. Vielmehr schließt ihr modernes Islamverständnis religiös begründete Bevormundung, wie sie in einigen islamischen Staaten zum traurigen Alltag gehört, kategorisch aus.
Dekonstruktion eines ungerechtfertigten Immigrantenbildes
Eine Distanzierung von religiösen Grundsätzen oder gar eine Assimilation, verstanden als Nachahmung der Lebensweise der nichtmuslimischen säkularisierten Majorität in Deutschland geht damit ebenso wenig konform. Allzu oft hat Kaddor erfahren müssen, dass mit Religion, Herkunft oder schlichtweg dem äußeren Erscheinungsbild eines Individuums eine bestimmte Erwartungshaltung und ein Stigma verbunden sind, dem nur über den mühsamen konfrontativen Dialog entgegengetreten werden kann. Ihrem Verständnis von individueller Freiheit im Sinne des deutschen Grundgesetzes steht ein solches „Schubladendenken“ diametral entgegen und findet in ihrem „zeitgemäß“ ausgelegten Islam ebenso wenig seine Rechtfertigung wie in einem aufgeklärten Juden- oder Christentum.
Der Einordnung in eine von der Umwelt zugewiesene, zumeist unzutreffende Kategorie hatte sie sich bereits in der eigenen Schulzeit zur Wehr setzen müssen, wo sie anfangs fälschlicherweise für eine Türkin aus dem Gastarbeitermilieu mit dementsprechend mangelhaften Deutschkenntnissen gehalten wurde und in einen Förderunterricht geschickt wurde. Aber auch ihr Elternhaus zeigte sich nicht frei von unrealistischen Erwartungshaltungen, die sie weder zu erfüllen sich in der Lage noch bereit zeigte. Hier musste sie sich in besonderer Weise zu Syrien als „Heimat“ bekennen, obwohl sie das Herkunftsland ihrer elterlichen Familie nur aus Reisen und Schilderungen der anderen kannte.
Ein Anliegen dieses Buches ebenso wie Kaddors darin beschriebener Arbeit als islamischer Religionslehrerin an einer Hauptschule in einem Arbeiterviertel in Dinslaken bei Duisburg gilt der Vermittlung von Selbstwertgefühl, bestärkt durch das religiöse Bekenntnis, um sich der Ausgrenzung und Bevormundung durch die Umwelt entgegenstellen zu können und zugleich in den Wertedialog mit dieser Umwelt einzutreten.
Entscheidend erweist sich nach Auffassung der Autorin die Dekonstruktion eines auf bestimmte äußere Kriterien verengten Deutschland- und Islambildes, das sich nicht zuletzt durch die einseitige Ausrichtung der Islam- und Integrationsdebatte in Politik und Massenmedien in der Gesellschaft festgesetzt habe und den Jugendlichen die Suche nach einer autonomen Identität erschwere. Hierbei hat Kaddor offenbar ebenso Erfolge aufzuweisen wie bei ihrer eigenen Suche nach einem für zeitgemäß empfundenen Islam. Die Tatsache, dass sie sich sowohl von Islamverbänden als auch von sogenannten „Islamkritikern“ aus der Mehrheitsgesellschaft immer wieder Negativstigmatisierungen ausgesetzt sieht, scheint sie jedenfalls in ihrem beruflichen und gesellschaftlichen Engagement im Sinne des gleichberechtigten Miteinanders von Muslimen und Nichtmuslimen nicht zu entmutigen.
Besonders leidenschaftlich berichtet sie von der Erfahrung aus ihrem „islamischen“ Religionsunterricht, den sie aufgrund des unvorhergesehenen Ausfalls einer Kollegin zeitweise als überkonfessionellen Unterricht in einer 10. Klasse Muslimen und Christen gemeinsam erteilen musste, um hierbei von Schülern der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft ebenso wie deren Mitschüler mit Migrationshintergrund als „Ausländerin“ verunglimpft zu werden. Ihr sei es jedoch im konfrontativen Dialog mit der Klasse gelungen, die hier öffentlich zum Vorschein getretenen, im Unterbewusstsein festgesetzten Ressentiments langsam abzubauen.
Mag Kaddors der Öffentlichkeit präsentiertes Islambild dem einen als zu liberal gelten, anderer sich an ihrer Selbstbezogenheit reiben, niemand sieht sich gehindert, für sich selbst andere Wege zu finden. Den Muslimen in Deutschland, insbesondere jenen weiblichen Geschlechts, wird die Botschaft vermittelt, sie stehen in ihrem Engagement für die Gleichberechtigung ihrer Religion gegenüber Juden- und Christentum nicht allein. Darüber hinaus richtet sich an sie immer wieder die Aufforderung, mutig die dialogische Konfrontation mit der Mehrheitsgesellschaft auf sich zu nehmen und eigenständig ihre Freiheiten zu erkämpfen. Der nichtmuslimischen Majorität wird ebenso bedeutet, dass eine junge gebildete Generation von Muslimen in ihrem Land heranwächst, die mit dem Islam als Teil ihrer deutschen Identität als gesellschaftliches Vollmitglied Akzeptanz erwartet.
Als erreicht gelten kann diese gesellschaftliche Akzeptanz erst, wenn Musliminnen und Muslime ihre religiösen Verpflichtungen im deutschen Alltag ungehindert praktizieren können. In dieser Hinsicht steht die Mehrheitsgesellschaft noch vor einer entscheidenden Aufgabe. So lange deren tatsächliche oder vermeintliche Liberalitäts- und Ästhetikvorstellungen als Maßstab angesehen werden, in wie weit der Islam oder die Muslime sich mit der deutschen Kultur identifizieren, bleibt der seitens der Muslime angestrebten Integration eine Barriere vorgeschoben.
Staatlich garantierte Religionsfreiheit bewirkt eine Pluralität an Islamauslegungen?
Kaddors persönlicher als „zeitgemäß“ postulierter Islaminterpretation nach ist die Pflicht zum Kopftuch tragen mit der heutigen liberalen Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar. Sie tritt in Folge dessen in der Öffentlichkeit ohne Kopfbedeckung auf. Nichtsdestotrotz ist sie sich bewusst, dass viele Musliminnen ihre Auffassung nicht teilen und für die gesellschaftliche Gegenwart dem Kopftuch als Instrument des Schutzes der weiblichen Intimität nach wie vor Bedeutung beimessen. Den Versuch, mit legislativen Mitteln das Kopftuch aus der öffentlichen Sphäre hinauszudrängen, erkennt sie daher zu Recht als kontraproduktiv für die Integration der Muslime und zudem mit der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit inkompatibel an.
Religionsfreiheit bedeutet eben nicht ausschließlich, dass keine Konfession staatlich bevorzugt oder benachteiligt werden darf, sondern darüber hinaus die Freiheit, die jeweilige Religion in divergenter Weise auszulegen. Ein Grundsatz, der bezogen auf das in Deutschland majoritäre Christentum als Selbstverständlichkeit erachtet wird, erfordert auch seine Anwendung gegenüber dem minoritären Islam. Sobald christliche Kirchenfunktionäre die Forderung erheben, ihre Moralnormen im Bereich von Ehe und Familie staatlich zu sanktionieren und im geschriebenen Gesetz festzuschreiben, erfahren sie nicht nur von Anhängern anderer Konfessionen, sondern ebenso von Kirchenmitgliedern – sogar gelegentlich von anderen Kirchenfunktionären - Zurückweisung. Dieses couragierte Eintreten für religiöse Neutralität des Gemeinwesens verträgt sich nicht mit den Forderungen an die Muslime, sich einer „christlich-westlich-abendländisch“ proklamierten „Leitkultur“ unterzuordnen.
Die Tatsache, dass in einigen islamischen Staaten der Islam zur Bevormundung eines Kollektivs instrumentalisiert und einer bestimmten Praktizierungsform der Religion staatsrechtliche Gültigkeit zugemessen wird, stellt keinen Rechtfertigungsgrund dar, den Islam als „demokratieresistent“ einzustufen und Muslimen in Deutschland das elementare Menschenrecht auf freie Religionsausübung einzuschränken oder gar vorzuenthalten. Der Weg zu einem zeitgemäßen Islam kann nur als Individuum gefunden werden. Dies setzt voraus, dass die Route nicht von dritten – erst recht nicht von sogenannten Islamkritikern – vorgegeben ist.
Rechtliche Anerkennung des Islam als Voraussetzung für Integration der Muslime
Ungeachtet ihres besonderen Eintretens für die individuelle Religionsauslegung ist sich Kaddor durchaus bewusst, dass zur religiösen Gleichberechtigung des Islam gegenüber Juden– und Christentum auch die Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts gehört. Mag ihr Vorwurf an die Islamverbände, mit unrealistischen Forderungen und mangelnder Orientierung an den Anliegen der Mehrheit in Deutschland lebender Muslime bisher eher die Verweigerungshaltung deutscher Behörden zu unterstützen, nicht vollständig unberechtigt sein. Eine öffentliche Zuerkennung des Körperschaftsstatus würde es erheblich erleichtern, sich im Sinne von Kollektivansprüchen an Staat und Gesellschaft einzusetzen. Wenn islamischer Religionsunterricht immer noch nicht in allen Bundesländern gleichberechtigt neben katholischer und evangelischer Religion auf den Lehrplänen zu finden ist, liegt dies nicht zuletzt daran, dass hier keine anerkannte islamische Institution besteht, welche die Lehrerausbildung durchführen und die Lehrpläne erstellen kann.
Lamya Kaddor belegt jedoch anhand ihres eigenen Engagements als von muslimischen wie nichtmuslimischen Schülern akzeptierte Lehrerin, dass hierfür die personelle Basis in der deutschen Gesellschaft unter Muslimen vorhanden ist. Mit ihrem eigens verfassten Lehrbuch hat sie eine Basis gelegt, wie moderner Islam vermittelt werden kann, der ein demokratisches Bewusstsein mit religiösem Wertempfinden verbindet. Wenn Staat und Gesellschaft die Entfaltung der Muslime als freiheitlich denkende Individuen unter Beibehaltung ihrer religiösen Grundsätze zulassen, wird sich der Islam in Deutschland auch für die majoritären Nichtmuslime zum förderlichen Element entwickeln. Eine dortige Assoziierung dieser Religion mit Tendenzen zu Abnabelung und Parallelgesellschaften, die ihr insgesamt bereits gegenwärtig nicht gerecht wird, verliert endgültig ihre Grundlage. Die Integration als sowohl von der Majorität als auch der Minorität ausgehender Prozess kann als vollendet angesehen werden.
Lamya Kaddor - Muslimisch-Weiblich-Deutsch
Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam
C.H. Beck Verlag, München 2010
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