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Donnerstag, 31.03.2011
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Grenzenlose Flexibilität?

Murad Wilfried Hofmann über Tariq Ramadans neuestes Werk "Radical Reform: Islamic Ethics and Liberation"

Der jetzt in Oxford lehrende Schweizer Muslim Tariq Ramadan ist ein ungemein vielseitiger Autor mit zahlreichen Veröffentlichungen über Theologie, Geschichte, Politik, Philosophie, Psychologie, Soziologie, Mystik und - wie im vorliegenden Band - islamisches Recht. Seiner Überzeugung nach setzt die Erneuerung des Islam sowohl ausgeprägtere Spiritualität wie Rechtsreformen voraus.

Ramadan hatte bereits drei Bücher zur Reform des Rechtswesens veröffentlicht: To be a European Muslim (1999); Islam, the West, and the Challenge of Modernity (2001); und Western Muslims and the Future of Islam (2004). Darin verfolgt er - wie zuvor Muhammad Iqbal - eine Wiederbelebung des Islam durch Neuauslegung seiner Quellen.

Damit scheint es vorbei zu sein. Ramadan zielt neuerdings auf radikale Anpassung, indem er muslimischen Naturwissenschaftlern (´ulama al-waqi) mindestens so viel Gewicht zumisst wie den muslimischen Rechtsgelehrten (´ulama al-nusus). Dabei wiederholte er seinen 2005 veröffentlichten Appell für ein Strafrechtsmoratorium bezüglich der körperlichen und der Todesstrafen, also auch der Steinigung, nach der Schari´a. Dafür erhielt er viel Applaus, allerdings nur im Stillen (S. 356 ff.).

Das Buch ist von solcher Wortfülle und so viel Wiederholungen, daß es ohne Verlust an Substanz um die Hälfte gekürzt werden könnte. Das ist auch dem Autoren nicht entgangen, wie sich aus Sätzen wie auf S. 339 ergibt: „Wie wir bereits gesagt haben und hier wiederholen. “Allerdings könnte diese Wortfülle der Tarnung
der Radikalität des Autoren dienen, nämlich Relativierung der Shari´ah von al-Madina, hier „Text“ genannt, durch Hervorhebung des „Kontextes“: der „übergeordneten universellen Ziele der Schöpfung“.

"Ramadan offenbart stupende Belesenheit, literarisches Geschick, und eine visionäre Ethik" - Murad Hofmann

Nach Ramadan ist es lediglich Funktion des Qur`an, das Erste Buch Gottes, nämlich den Kosmos zu erläutern und beleuchten. Damit würde Ramadan sich in Übereinstimmung mit Immanuel Kant (1724-1804) befinden. Doch hätte er Kant mit seinem Bestreben überrascht, dass das Universum und die Naturwissenschaften nicht nur Rahmenbedingungen sind, sondern sogar als Quelle für die Rechtsordnung dienten (S. 148) Indem er so der Kosmologie eine Rechtsfunktion zuschreibt, erlaubt er ihr, die Schari´ah nicht nur zu vernachlässigen, sondern zu überlagern.

Anscheinend ist Ramadan entgangen, dass alle bisherigen Versuche scheiterten, aus bloßer Naturbetrachtung Völkerrecht zu gewinnen. Jedenfalls räumt er nicht ein, dass allenfalls al-Aqidah aus dem Sein deduziert werden könnte, keinesfalls aber al-´ibadah und al-mu´amalat.

Das Buch zerfällt in drei Teile:
1.Kapitel zu radikalen Reformvorhaben (1, 7-10, Schluss);
2.Untersuchung der klassischen muslimischen Jurisprudenz anhand der Hanafitischen und Schafi´itischen Rechtsschulen (3-6); dies dient zur Begründung des Vorzugs, den der Autor (wie al-Sha´tibi vor ihm) den übergeordneten Zielen des Rechts (al-maqasid) gibt und demonstriert Ramadans Kompetenz in der Rechtsquellenlehre (usul al-fiqh);
3.Anwendung des islamischen Rechts, wie hinsichtlich der modernen Medizin, des Rechts der Frauen, der Ökologie, Wirtschaft, Kunst und sufischen Mystik. Dabei wirft der Autor mehr Fragen auf als er Antworten gibt; auch äußert er sich recht abschätzig zum Konzept des „Islamic Banking“ (S. 154, 316).

Neue Geographie der islamischen Rechtsquellen

Insgesamt empfindet man, dass der Autor der Vernunft als Basis einer „Metaphysik aller Wissenschaften“ Vorrang vor der Offenbarung gibt. Ja, er behandelt den Islam als bloßen Partikularismus. So hat man den Eindruck, dass Ramadan einer Art Deismus mit islamischem Geschmack huldigt. Typischerweise zeigt er Verachtung für die Idealisierung der islamischen Frühgeschichte, die „Sakralisierung“ der Ulama, die „Immobilisierung“ der muslimischen Welt in sozialen und politischen Angelegenheiten und ihre Unfähigkeit, mit der komplexen Wissensexplosion unserer Zeit mitzuhalten (S. 150).

In diesem Zusammenhang unterstreicht er, dass die göttliche Offenbarung des Qur`ans ihn keineswegs seiner Kontextualisierung entzieht. Zugestanden! Doch das Buch Gottes enthält auch zeitlose Handlungsanweisungen. Wer wollte hier die Linie ziehen? Schlimmer noch ist die unhaltbare Behauptung des Autoren, dass der Qur`an im städtischen Mekka geoffenbart und im ruralen al-Madinah „lediglich angewandt“ worden ist (S. 121).

Ramadan lässt keinen Zweifel darüber offen, dass es nicht nur um Anpassung des Islam an die neuen Herausforderungen des Okzidents geht. Vielmehr sollen die Muslime die Welt verändern. Dafür weitet er die Kompetenzen aus, indem er auch „das Universum und das menschlich-soziale Gefüge“ als legitime Rechtsquellen akzeptiert. Möglicherweise sieht er dafür das Universum und den Qur`an nebeneinander, nicht das Universum gegen den Qur`an positioniert..

Wen wundert´s, dass der Qur`an in einem solchen Vorhaben von der Sunnah „befreit“ werden muss, weil sie „den Qur`an in eine spezifische, historisch bedingte, einzigartige Auslegung festnagele (S. 100). Stattdessen fordert Ramadan - hier mehr Moralist als Muslim - eine „Ethik der Lebewesen, des Herzens, und der Wissenschaften“ (S. 176).

Kurzum: Er fordert die Muslime nur dazu auf, an den großen Zielen ihrer Schriftquellen festzuhalten und das Universum als eine übergeordnete, autonome Rechtsquelle zu betrachten (S. 136, 404). Er nennt dies „neue Geographie der islamischen Rechtsquellen“. Genau das hatte al-Shafi´i befürchtet: Dass die Grundlagen des islamischen Rechts sich verflüchtigen, sobald Professoren sich Freiheiten im Umgang mit den Rechtsquellen nehmen (S. 105).

Das Buch endet wie von ungefähr mit der Sicht Ramadans auf den Sufismus. Er verurteilt zwar die Verehrung der für heilig, unfehlbar und ausschließlich kompetent gehaltenen Scheichs, verteidigt aber doch den orthodoxen Sufismus als solchen (S. 388 ff.).

Ob er es darauf anlegt oder nicht: Ramadan offenbart stupende Belesenheit, literarisches Geschick, und eine „visionäre Ethik“ (S. 156) mit der er Dogmatismus als die Illusion verurteilt, man sei auf Wahrheit abonniert (S. 400). Schließlich werde jede wissenschaftliche Entdeckung überholt. Nicht anders ergehe es auch dem islamischen Recht - und zwar so schnell, dass das Frühere aufhebende moralische Antworten erforderlich geworden seien. Grenzenlose Flexibilität?

Tariq Ramadan. Radical Reform: Islamic Ethics and Liberation. Oxford: Oxford University Press 2009. 368 S. ISBN 9780-1953-31714. Preis: £ 16.99.



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