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Mittwoch, 09.05.2012 | Drucken |
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Moderate Mehrheit, radikalisierte Minderheit
Über ProNRW, radikale Gruppen und die gegenseitige Abhängigkeit
Die Reaktionen muslimischer Organisationen und Gruppen auf gezielte Provokationen seitens Pro NRW belegen in anschaulicher Weise, dass eine muslimische Mehrheit im Lande es missbilligt, wenn Freiheitsrechte ausgenutzt werden, um Muslime pauschal zu diffamieren. Nahezu alle nehmen sie jedoch pragmatisch als Ausdrucksform einer gesellschaftlichen Randgruppe wahr und nicht als Beleg für die Islamfeindlichkeit einer ganzen Gesellschaft. Übergriffe auf Polizisten und aggressive Proteste werden von der muslimischen Bevölkerung in Deutschland abgelehnt. Dem gegenüber steht eine spezifische Form der Wahrnehmung und Deutung der Aktionen von ProNRW durch spezifische muslimische Gruppierungen, die sich in organisierten Gegenprotesten niederschlägt. Dass es sich um eine Minderheitenposition handelt, belegt die kleine Anzahl an Glaubensprotestler in Bonn, die wiederum einen verschwindend geringen Bruchteil der Bürger muslimischen Glaubens dieser Stadt ausmachen. Bedenkt man zusätzlich, dass viele unter ihnen aus anderen Städten speziell angereist sind und es eine Reihe solcher Muslime gab, die der Deeskalation wegen teilgenommen haben, so wird klar, dass die Minderheitengruppe als solche im bundesweiten Maßstab nominell kaum ins Gewicht fällt.
Islamische Verpflichtung zu maskulinen Protesten
Von dieser Minderheit wird die Aktion von ProNRW nicht nur als massive Beleidigung durch eine rechte Randgruppe angesehen. Vielmehr ist aus deren Warte die Zulassung dieser Kundgebungen und der Karikaturen sowie ihres Schutzes durch die Polizei ein deutlicher Beleg für eine Provokation der Muslime seitens des staatlichen Systems. Stellungnahmen von religiösen Wortführern der Bewegung, die auf Grundlage dieser Deutung zu Gegenprotesten aufrufen, nutzen dieses Beispiel, um Demokratie schlichtweg als Ermöglichung staatlich gestützter Diffamierung der Muslime zu entlarven. Eines ihrer Argumente lautet: Wenn ProNRWler mit beleidigenden Karikaturen Muslime kränken, dann erhielten sie dafür eine Genehmigung, wenn Muslime aber Koranexemplare verteilen wollten, würde ihnen keine erteilt, dann höre diese Demokratie auf (Stellungnahme von „Sheikh Abdellatif bzgl. Bonn vom 5.5.2012). Gegen diese gezielte Diffamie sei vorzugehen. Jeder sei verpflichtet, als Muslim „Allah zu verteidigen“ und zu den Gegenprotesten anzureisen mit einer festen Absicht, dies nicht aus reiner Wut, sondern zur Verteidigung seines Propheten zu tun. Frauen sollten übrigens zuhause bleiben, denn die Männer hätten bereits genug Probleme, so die Erklärung.
Muslimische Organisationen als Heuchler
Eine Internetplattform mit Stellungnahmen, Protestaufrufen und eigenen Interviews mit Bildern aus dem Ort des Geschehens im Format einer Kriegsberichterstattung lassen erahnen, dass diese verunglimpfenden Wahlkampfaktionen von ProNRW von so denkenden muslimischen Gruppierungen in Deutschland als Schlüsselereignis erlebt werden, die Handlungsweisen hervorrufen, welche vorher undenkbar gewesen wären. Die Plakate von ProNRW mit der Parole „Freiheit statt Islam“, vermag alle Muslime, denen der Glaube mehr oder weniger wichtig ist, brüskieren. Viele sind beim Anblick der Karikaturen entrüstet. Jene Gruppierungen aber, deren Weltdeutung einzig auf der Bipolarität von „Muslim“ und „Kafir“ (Nichtgläubigen), von der „absoluten Gerechtigkeit von Allah“ gegenüber dem „anderen Ungerechten“ basiert, gehen weiter. Sie nehmen diese als einen Nachweis für die in ihren Reihen kultivierte Impression von der systematischen Ungerechtigkeit und Demütigung durch die „kuffar“ (Ungläubigen). Der Gegenprotest wird als islamische Verpflichtung „zur Verteidigung von Allah und seinen Propheten“ markiert. (z.B. „Abu Talha Al Almani“ in seinem Aufruf zur Demo in Köln, 8.5.2012). Muslimische Organisationen, die zur Mäßigung mahnen, sind dieser Denkweise zufolge Heuchler und aus dieser Perspektive schlimmer als die „kuffar“. Die Provokationen durch ProNRW bieten diesen Gruppierungen wiederum eine Möglichkeit, sich mit jenen Muslimen zusammenzutun, die sich gegen die Verunglimpfung aktiv wehren wollen. Dadurch bekommen sie Zulauf von jenen, die ihre Ideologie eigentlich nicht teilen.
Kriegserklärung an die heiligen Pfeiler ihrer Existenz
Eine Bewegung, die sich maßgeblich auf Grundlage der gedanklichen Figur generiert, dass außerhalb ihrer spezifischen Koranauslegung und der unreflektierten Kopie des Habitus aus der Frühzeit des Islam im Alltagsleben alles als Ausgeburt des Verwerflichen zu markieren ist, sieht in den Karikaturenschildern einer populistischen Bewegung eine Kriegserklärung gegen die heiligen Pfeiler ihrer und der gesamten menschlichen Existenz. Das tun Muslime mit einem anderen Glaubensverständnis nicht. Ein hervorgehobenes Motiv für Gottesvertrauen und die gewissenhafte Glaubenspraxis bildet bei dieser muslimischen Minderheitengruppe der Zustand sozialer Ausgrenzung und der Hinweis auf die Schwäche der Muslime weltweit, der – so das stimulierende Leitargument – nur durch Standfestigkeit im Glauben zu beheben sei. Ihre Kernbotschaft lautet daher: Der Glaube gibt wahre Stärke, beugt Depressionen und sozialer Labilität vor. Er wirkt einer Ausnutzung durch andere Menschen entgegen und wird langfristig zum durchschlagenden Erfolg verhelfen und bestehende Machtverhältnisse ändern. Eine Diffamierung der verehrten und leitenden Prophetenfigur rüttelt daher besonders heftig an den einzigen Grundfesten, aus denen ultraorthodoxe Muslime Würde und Kraft schöpfen. Darauf ist mit einer Demonstration der Souveränität und der Immanenz des Islam zu antworten. Die Grundfesten und Vorbilder werden vehement und entschieden verteidigt. Dies erklärt den Grad der Emotionalität in den Stellungnahmen, Aufrufen und Berichten zu den Kundgebungen von ProNRW, die beinahe an einen Kriegszustand erinnern und darauf hindeuten, dass sich in Deutschland eine Wendung vollzieht, die niemand will außer die Protestler aus beiden Seiten.
Zwei Seiten derselben Medaille
Die beiden Lager, die sich in Kundgebungen und Gegendemonstrationen scheinbar kontrastierend gegenüberstehen, eint übrigens mehr als sie zugeben würden. Beide sind in den 1990er Jahren im Köln-Bonner Raum ins Leben gerufen worden, beide leben von der Polarisierung zwischen Gut und Böse, von dem „ihr“ und „wir“. Pro NRW versteht sich als Bewegung der „wahren Bürger“, die ihnen gegenüber stehenden muslimischen Gruppierungen als Bewegung der „wahren Muslime“. Pro NRW verteidigt die „christlich abendländische Leitkultur“ gegen den Islam, die muslimische Bewegung wacht über den „einzig wahren Glauben“ des Islam, der dem Unglauben gegenüber steht. Die „sozialistische Lenkungspolitik“ ist für ProNRWler der Feind im eigenen Lager, die mit staatlichen Stellen paktierenden islamischen Organisationen sind die Heuchler in den Augen der „wahren Muslime“. Die Gemeinsamkeiten zwischen extremen Gruppierungen sind offenkundig. Im Grunde sind sie aufeinander angewiesen. Sie brauchen sich, leben voneinander und düngen sich gegenseitig mit Hilfe solcher Aktionen. Für ihre Blüte sorgt schließlich die große mediale Öffentlichkeit. Polarisierung ist ihr Programm, klare Feindbilder das Erfolgsrezept und durch einfache Formeln erreichen sie eine breite Masse. (RC)
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Hintergrund/Debatte
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