Newsinternational |
Mittwoch, 01.02.2012 | Drucken |
Tunesien: Die neue Verfassung als Hoffnung für ein neues Zeitalter - Hassen Trabelsi
Nach der Flucht Ben Alis haben sich die Tunesier darauf geeinigt, eine neue Verfassung zu verabschieden. Am 23.10.2011 wurden die Vertreter der Verfassungsgebenden Versammlung gewählt, um eine neue Verfassung zu schreiben
München - Ein kurzer Rückblick in die Geschichte des Landes während der letzten zwei hundert Jahren zeigt uns, dass es in Tunesien zwei unterschiedliche Versuche gegeben hat, dem Land eine Verfassung zu geben um einen Reformprozess in Gang zu setzen.
Die erste Verfassung in der Geschichte Tunesiens der arabischen Länder fiel in die Regierungszeit von König Mahammed Sadok Bey (1859-1882). Doch der Prozess Tunesien eine neue Verfassung zu geben, begann mit Ahmed Bey (1837-1855), der stark beeinflusst von M. Ali in Ägypten war, und der Frankreich im Jahr 1846 bereiste. Mit dieser Reise war er der erste tunesische König überhaupt, der Frankreich besuchte. Geschichtsschreiber bezeichnen diesen Besuch als die erste Öffnung des Landes zur europäischen Moderne.
Diese erste Verfassung war von Frankreich inspiriert und stand unter dem Einfluss europäischer Diplomaten, insbesondere des französischen Konsuls. Die Verfassung beschränkt die Macht der Bey und versprach die Trennung zwischen der Legislative, der Exekutive und der Judikative. Sie gewährt europäischen Bürger, insbesondere Geschäftsleuten, die gleichen Rechte wie die Einheimischen, und den Erwerb von Grundbesitz. Der Liberale Aspekt dieser Verfassung war für das Volk nicht von Nutzen, weil die Verfassung die sozio-ökonömische Schwierigkeit und die geschichtliche Entwicklung des Landes nicht berücksichtigte. Daher war dieser Prozess zum Scheitern verurteilt und führte, verbunden mit noch anderen wirtschaftlichen und sozialen Problemen, zur Revolution von 1864.
Diese erste Verfassung war der „erste Schritt zum Modernisierungsprozess“, der auch nach Ahmed Bey weiterging.
Die zweite Verfassung war die Verfassung vom 1. Juni 1959. Diese Verfassung war auf die Person des Staatspräsidenten Bourguiba zugeschnitten und etablierte ein Präsidialsystem, das die absolute Machtkonzentration beim Staatspräsidenten versammelte (Art. 37-57). Schon vor der Verabschiedung dieser Verfassung nahm Bourguiba zahlreiche Maßnahmen vor, u.a. die Abschaffung der islamischen Gerichte und die Etablierung eines säkularen Justizsystems, die Verstaatlichung von Koran-schulen, die Auflösung der religiöse Stiftungen (Hobous), sowie die Einführung eines Personalstatuts in dem die Gleichberechtigung der Frau verankert wurde.
Trotz des Bekenntnisses zum Islam als Staatsreligion in der Präambel der Verfassung sowie in Artikel 1 und 2, zur Zugehörigkeit des Landes zum „Grand Maghreb“ und die Erhebung der arabischen Sprache zur offizielle Amtssprache, wurde der Säkularismus des System verankert. Es ist hier wichtig zu bemerken, dass Säkulrismus in diesem Kontext bedeutet (wie der Islamwissenschaftler Menno Preuschaft mit Recht sagt) „nicht die freiheitliche Ausübung von Rechten, den Schulterschluss mit demokratischen Strukturen und den Schutz des Bürgers vor herrschaftlicher Willkür und deckte sich nicht mit den Erfahrungen, welche die Bürger Europas genießen dürfen – schon gar nicht für die Anhänger islamistischer Gedanken des nordafrikanischen Landes.“
In der Folgezeit sind die Hauptziele nicht in Erfüllung gegangen. Die arabische Sprache wurde banalisiert, die Meinungsfreiheit begrenzt, Der Islam wurde nur formal während der islamischen Feiertage und teilweise im Ramadan gefeiert. Politisch führte Bourguiba das Land in ein Einparteiensystem, mit sich als Einzelführer (Oberster Unabhängigkeitskämpfer). Die Gesellschaft akzeptierte dieses System nicht so dass es im Laufe der 30 jährigen Regierungszeit von Bourguiba zu zahlreichen Volksunruhen kam, insbesondere dem „Schwarzen Donnerstag“ im Jahre 1978, den Brotunruhen (1984) und den Auseinandersetzungen von 1987, die zum Ende der Ära Bourguiba führten und Ben Ali nach einem sanften Putsch an die Macht brachten.
Für Ben Ali reimte sich Liberalismus auf Autoritarismus und Betrug, daher war die Folge seiner Politik polizeiliche Willkür, Jagd auf Oppositionelle und Geschäftemacherei, die zur Revolution vom 14.01.2011 und zum Ende seiner Macht führten.
Wie geht es weiter?
Die neue Verfassung wird, meiner Meinung nach, die Hoffnungen der Tunesier erfüllen, weil die Voraussetzungen zum Erfolg vorhanden sind. Diese Voraussetzungen kann ich wie folgt skizzieren:
1. Das Tunesische Volk ist heute nicht „erkrankt“ wie im 19. Jahrhundert und nicht wie in der Zeit nach der Unabhängigkeit, als das Volk den Aufbau Tunesiens in den Hände Bourguiba und die Eliten der Partei Neu-destourien (PND) abgab Heute sind die Tunesier wachsamer und Furcht und Angst sind verschwunden.
2. Die Zivilgesellschaft hat ihr Selbstvertrauen gewonnen und wird ihren Beitrag zur Kontrolle des Demokratisierungsprozesses leisten.
3. Die regierenden Parteien, insbesondere an-Nahdha, besitzen einen hohen Grad von Verantwortung und Sachverstand, daher werden sie gemeinsam die Zukunft gestalten.
4. Die Zeiten haben sich geändert, denn die Revolution hat nicht nur in Tunesien gewonnen, sondern auch in anderen arabische Ländern wie Ägypten und Libyen, andere kämpfen noch um ihre Freiheit wie Syrien und Jemen.
5. Die westlichen Länder und die Internationale Gemeinschaft betrachten den arabischen Frühling als einen Schritt zu Demokratisierung, Freiheit und Menschenrechten, daher werden sie sich der Errichtung neuer Demokratien auch unter Führung der gemäßigten Islamisten, nicht in den Weg stellen.
Aus den oben genannten Gründen sind die Tunesier der Überzeugung daß die Zeit gekommen ist, ein neues Tunesien zu Gestalten: ein Tunesien der Demokratie und der Freiheit, der Gleichberechtigung, der Menschenrechte, der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Versöhnung der Tunesischen Gesellschaft mit ihrer Geschichte und Identität.
Diese Grundwerte werden, meine Meinung nach, die Zukunft von Tunesien zu einem „neuen Zeitalter“ prägen. (Hassen Trabelsi)
|
|
Hintergrund/Debatte
𝐌𝐞𝐢𝐧 𝐀𝐮𝐬𝐭𝐫𝐢𝐭𝐭 𝐚𝐮𝐬 𝐝𝐞𝐫 𝐂𝐃𝐔: 𝐄𝐢𝐧𝐞 𝐄𝐧𝐭𝐬𝐜𝐡𝐞𝐢𝐝𝐮𝐧𝐠 𝐝𝐞𝐬 𝐆𝐞𝐰𝐢𝐬𝐬𝐞𝐧𝐬 - Aladdin Beiersdorf-El Schallah, Stv. Vorsitzender ZMD-NRW, Stadtverordneter Sankt Augustin und ehemlaige dortige Fraktionsvorsitzender erklärt detailliert seine Beweggründe ...mehr
Extreme bis extremistische Einstellungen in Deutschland auf dem Vormarsch mit Spiegelung in der Politik und Medien ...mehr
Langes KNA-Interview: Der neue Vorsitzende des Zentralrats der Muslime über sein Amt ...mehr
Bochum ehrt Ahmed Aweimer zum 70. Geburtstag ...mehr
Aiman Mazyek kommentiert das Verbot der Imam Ali Moschee: "Blaue Moschee - Islamisches Zentrum in Hamburg ...mehr
Der Koran – 1400 Jahre, aktuell und mitten im Leben
Marwa El-Sherbini: 1977 bis 2009
|