Artikel Samstag, 12.11.2011 |  Drucken

Islam als Basis für eine gemeinsame humane Zukunft von Orient und Okzident? Lahbabis vernunftbegründete Religionsphilosophie dringt in den deutschen Sprachraum ein - Eine Buchbesprechung von Mohammed Khallouk

Ein philosophischer Kontrapunkt zu Huntingtons Kulturkampfthese

Das vermeintliche prinzipielle Gegeneinander der westlichen und der islamischen Zivilisation wird von einigen populären westlichen Intellektuellen wie Samuel Huntington neben der Historie aus einem angeblich reduzierten Freiheitsbegriff im Islam herauszuinterpretieren versucht, der von den Gläubigen eine kritiklose Autoritätshörigkeit fordere, die dem Freiheitsgedanken der Aufklärung entgegenstehe. In der Tat dominierte die als taqlid bezeichnete kritiklose Übernahme der Positionen frühislamischer Lehrautoritäten über Generationen die islamische Gelehrsamkeit und war zweifellos eine der Ursachen für die im Verhältnis zur Islamischen Zivilisation unübersehbare neuzeitliche europäische Fortschrittlichkeit, mit der die Europäer den größten Teil der Arabischen Welt, aber auch zahlreiche andere, vor allem islamisch geprägte Nationen in Afrika und Asien bis Mitte des 20. Jahrhunderts kolonisieren und kulturpolitisch bevormunden konnten. Dass der muslimisch dominierte Orient dennoch bis in die Gegenwart hinein ein emanzipatorisches Menschenbild kennt, welches den Menschen als rational handelnde, kommunizierende und freiheitsorientierte Person definiert, ist in besonderer Weise dem marokkanischen Religionsphilosophen und Literaten Mohamed Aziz Lahbabi (1923-1993) zu verdanken.
Durch die Erfahrung im intellektuellen Widerstand gegen die französische Protektoratsherrschaft seines Landes ebenso geprägt wie vom christlich-westlichen Personalismus, den er während seiner zeitweiligen Emigration in Frankreich kennen lernte, vertrat Lahbabi einen progressiven muslimischen Personalismus, der ihm als Grundlage einer antikolonialen muslimischen „Befreiungsphilosophie“ diente und zugleich für die gleichberechtigte Begegnung von Orient und Okzident die Perspektive bietet. Als erster Lehrstuhlinhaber an der Philosophischen Fakultät der Mohammed V- Universität Rabat ist Lahbabi in seinem Heimatland und darüber hinaus im gesamten Maghreb ebenso ein hochgeschätzter Denker und Literat wie im französischen Sprachraum.

Östlich des Rheins sind seine auf arabisch oder französisch verfassten Werke und darin geäußerten Leitgedanken bislang jedoch nur den wenigsten bekannt. Die aktuelle, in Politik wie Kirchen in Deutschland geführte Debatte um einen Kulturdialog zwischen Westen und Islam veranlasste den Beauftragten für den christlich-islamischen Dialog des Erzbistums Paderborn, Markus Kneer, nun aber, für besonders bedeutsam erachtete philosophische Werke Lahbabis ins Deutsche zu übersetzen und anhand dieser seinen Landsleuten zu vermitteln, dass emanzipatorisches Denken und ein gehobener Stellenwert des Ich als Person erst im religiösen Glauben und hiervon ausgehend im gesellschaftspolitischen Agieren im Sinne der Gemeinschaft mit anderen seine volle Kraft entfaltet.

In der Einleitung der unter dem Titel „Der Mensch: Zeuge Gottes – Entwurf einer islamischen Anthropologie“, unterstützt von der Georges Anawati Stiftung, herausgebrachten Werkzusammenstellung erläutert der Übersetzer die Grundlage von Lahbabis im Islam verwurzeltem philosophischen Denken und stellt den historischen Kontext heraus, in dem der marokkanische Autor seine Ideen aufgenommen und publiziert hat. Das muslimische Glaubenszeugnis, die shahada, interpretierte Lahbabi dabei als intellektuelle und moralische Basis, von der aus er seine islamische Anthropologie ableitete.

Um möglichst nahe an Lahbabis Islamverständnis zu bleiben, hat Kneer die zur Untermauerung der philosophischen Ideen und Leitthesen verwandten Koranzitate nicht eigenständig aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzen lassen, sondern sich hierbei an der französischen Übersetzung von Lahbabi selbst orientiert. Vollständig auf Deutsch übersetzt liegen nun Lahbabis bedeutendstes Werk „Der muslimische Personalismus“ und drei weitere für das Verständnis seines Denkens zentrale Werke vor. Hierbei gelangt Lahbabis Auflösung des vermeintlichen Gegensatzes zwischen der Betonung des Ich als Person und der Orientierung an der Gemeinschaft mit anderen zum Ausdruck.

Lahbabi baute seine Philosophie auf zentralen Gedanken islamischer Philosophen sowohl des Mittelalters wie Avicenna, Averroes und Ibn Khaldun, als auch der Moderne wie Muhammed Iqbal, Jamal ad Din Al-Afghani und Rashid Rida auf, lehnte sich aber ebenso an die französischen Humanisten wie Henri-Louis Bergson und Emmanuel Mounier an. Hiervon ausgehend kritisierte der marokkanische Gelehrte depersonalisierende Strukturen, die er sowohl in der islamisch-orientalischen Gesellschaft wahrnahm als auch im christlich geprägten Europa der 1950er und 1960er Jahre. Diesem stellte er den von ihm entwickelten fortschrittsorientierten Personenbegriff gegenüber, der sowohl für die islamische als auch die westliche Zivilisation eine Befreiungsbewegung initiieren könne, die sich nicht mit der inneren Befreiung des Individuums zufrieden gebe, sondern darüber hinaus die äußeren Umstände für Freiheit herzustellen beanspruche.

Das Personenverständnis des Islam biete hierfür die Grundlage. Das Individuum trete als eigenständige Person aus dem Stammeskollektiv heraus und vollziehe in seiner Bezeugung des Glaubens an den einzigen Gott einen konstitutiven Akt der Personenwerdung. Weil es seinen Prozess der Personenwerdung zugleich in der Kommunikation mit anderen, die im Islam vor Gott als gleichrangig angesehen sind, erfahre, sei durch die Islamisierung die Basis für eine Überwindung der Sklaverei und die gesellschaftliche Gleichstellung verschiedener Stammeszugehörigkeiten, Rassen sowie der beiden Geschlechter gelegt worden. Auf diesem Fundament ließen sich, Lahbabi zufolge, auch gegenwärtige politisch-gesellschaftliche Ungerechtigkeiten wie die Abhängigkeit der Dritten Welt von westlichem Kapital überwinden und hiervon ausgehend die verschiedenen Zivilisationen als gleichberechtigte Partner im Sinne einer gemeinsamen globalen Zukunft zusammenführen.


Dass der muslimisch dominierte Orient dennoch bis in die Gegenwart hinein ein emanzipatorisches Menschenbild kennt, welches den Menschen als rational handelnde, kommunizierende und freiheitsorientierte Person definiert, ist in besonderer Weise dem marokkanischen Religionsphilosophen und Literaten Mohamed Aziz Lahbabi (1923-1993) zu verdanken

Rationalität als Markenzeichen einer islamisch begründeten Fortschrittsethik

Lahbabis Grundrespekt gegenüber der abendländischen Philosophie und ihres geistigen Gerüsts für die gegenwärtige Fortschrittlichkeit des Okzidents in ökonomisch-technologischer Hinsicht hat ihn nie dazu verleitet, seine eigene Gesellschaft zur unreflektierten Nachahmung westlicher Weltanschauungen aufzufordern. Vielmehr erkannte er im islamischen Menschenbild ein egalitäres Element, dass er im frankophonen katholischen Christentum vermisste. Anders als die römisch katholische Kirche kenne der Islam die Erbsünde nicht und treffe auch keine Unterscheidung zwischen Laie und Klerus in der Beziehung zu Gott. Jedes gläubige Individuum bekenne sich unabhängig von anderen zur Wahrheit und lege vor dem Schöpfer Himmels und der Erden eigenständig sein Zeugnis ab.

Diese Autonomie des einzelnen Muslims lege zudem die eigenständige Suche nach einem Zugang zum Wort Gottes nahe. Gott und seine Propheten sind diesem Verständnis nach die einzigen absoluten Autoritäten. Der Einzelne sieht sich dementsprechend aufgefordert, im rationalen, kontext- und gesellschaftsbezogenen Handeln den Willen des Schöpfers zur Geltung zu bringen. In Anlehnung an Mounier versteht Lahbabi die Person als schöpferischen Prozess mit dem Primat des Geistigen und erkennt gerade für die religiöse Person die Vernunft als zentralen Wert an. Mit der ijtihad, der zeit- und gesellschaftsbezogenen Neuauslegung von Koran und Sunna besitze der Muslim ein Instrument, seine religiösen Aufforderungen rational im Dienste seiner selbst als Person wie der Gemeinschaft mit Mitmenschen einzusetzen.

Lahbabi kritisiert die unter islamischen Gelehrten lange Zeit dominierende Auffassung, das Tor zur ijtihad sei geschlossen und die unreflektierte Nachahmung der Erkenntnisse von Lehrautoritäten aus der Vergangenheit das einzige Erfordernis des Muslimen. Diese Sichtweise habe in der muslimischen Gesellschaft eine Autoritätshörigkeit bewirkt, die dem eigentlichen islamischen Personenbegriff in keiner Weise gerecht werde. Hierfür weist Lahbabi der sufistischen Mystik eine wesentliche Verantwortung zu. Dieser stellt er die Salafiyya gegenüber, die zu den ursprünglichen islamischen Quellen zurückführe und das Tor des ijtihad wieder öffne. Das im Westen vielfach vorherrschende Bild der Salafiten mit Rückwärtsgewandtheit sucht Lahbabi zurecht zu rücken. Zudem begreift er die Philosophie als Schwester der Religion, die uns Menschen dazu bringe, die göttliche Wahrheit aus den verschiedensten Blickwinkeln zu erfahren.

Für Lahbabi steht die Vernunft auch im unmittelbaren Bezug zur Religion immer im Mittelpunkt. Sie ermögliche, Gottes Wort zu verstehen, indem die Rationalität innerhalb der islamischen Lehre erkannt und aufgezeigt werde. Die muslimische Person lasse andere durch eigenes islamkonformes Handeln den Islam verstehen. In diesem Sinne bilde die Religion ein verbindendes Element für eine menschliche Gemeinschaft und verhindere eine Erstarrung des gelebten Glaubens. Durch permanente ijtihad und rationale Reflexion überschreite sich die religiöse Person permanent selbst, entwickele ihren eigenen Glauben weiter und trage die ethische Grundlage für gemeinschaftlichen humanen Fortschritt in sich.

Die übersetzt vorliegenden Essays über den Menschen veranschaulichen die von Lahbabi favorisierte diskursive Koranauslegung im Sinne von Menschlichkeit. Sie stützen sich auf die göttliche Güte (rahma) und postulieren eine göttliche Garantie für die Menschenrechte. Trotz aller Erfahrungen des Bösen, der Schuld, der Angst und nicht zuletzt der Erniedrigung durch Dritte (z.B. im Kolonialismus, aber auch in den postkolonialen Regimen der Arabischen Welt) verheißt Lahbabis an den Salafiten orientierter islamischer Rationalismus eine Zukunft, in der Gottesliebe und Menschenliebe eine Einheit bilden. Die Aussicht auf diese Zukunft bedeutet demnach nicht nur für das einzelne Individuum eine hoffnungsvolle Perspektive, sondern darüber hinaus für die menschliche Gemeinschaft insgesamt. Lahbabi versteht sie als Grundlage einer freiheitlichen, jedoch nicht wertfreien Gesellschaft, die sich immer wieder im Sinne ihrer kollektiven Freiheit engagiere und die Basis einer humanen Weltordnung bilde, in der ein jeder den anderen als freies emanzipiertes gleichrangiges Mitglied achte.

Lahbabis Personalismus tritt an die westliche Zivilisation heran und fordert sie auf, sich von dem Superiorismus, der für den Kolonialismus die geistige Voraussetzung schuf, ebenso zu befreien wie von einer Unterwerfungsmentalität, die Diktaturen gleichermaßen den Aktionsradius erweitert wie menschenfeindlichen multinationalen Konzernen und Kapitalgesellschaften. Gerade in Deutschland, wo eine auf Superiorismus basierende Ideologie einhergehend mit der Deklarierung von Nichtdeutschen bzw. „Nichtarierern“ als „minderwertig“ in der Historie sich in einem Welteroberungs- und Weltbeherrschungswahn ausgedrückt hat und im institutionalisierten Massenmord ihren Höhepunkt fand, kann Lahbabis vernunftgeleiteter, an die gesamte Menschheit gerichteter Personalismus einen Denkprozess initiieren, der jeglichem kollektiven Überheblichkeitsbewusstsein entgegenwirkt.

Lahbabi, Mohamed Aziz (2011): Der Mensch: Zeuge Gottes – Entwurf einer islamischen Anthropologie, ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Markus Kneer, Herder Verlag, Freiburg, 220 S. ISBN 978-3-451-30346-3



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