Newsnational Montag, 01.08.2011 |  Drucken

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Islamfeindlicher "Christ" stiehlt Selbstmordattentätern die "Show" – Von Mohammed Khallouk

Pluralismus und Multikulturalität als Zielscheibe extremistischer Gewalt und Terror hüben wie drüben

Der 22.07.2011 markiert einen Einschnitt in der norwegischen wie der gesamten europäischen Geschichte und hat das Weltbild vieler Europäer nachhaltig erschüttert. Als sich am Nachmittag jenes Tages im Osloer Regierungsviertel eine Explosion ereignete, galt der gesamten Öffentlichkeit in In- und Ausland bereits als Gewissheit, dass es sich hier nicht um ein tragisches Unglück, sondern um einen lange geplanten Terroranschlag gehandelt habe. Die Blutspur Al Qaidas, die zehn Jahre zuvor in New York und Washington eingeschlagen hatte und hernach mit Madrid und London bereits an zwei europäischen Hauptstädten vorbeigezogen war, hatte offenbar auch die Stadt der Friedensnobelpreisverleihung nicht von ihrer Zielplanung ausgenommen.
Einige Medien spekulierten bereits, ob die seit dem 11.09.2001 in zahlreichen westlichen wie außerwestlichen Staaten verschärfte geheimdienstliche Beobachtung von mutmaßlichen und potentiellen muslimischen Extremisten nun auch im für seine Liberalität vielerorts beneideten Skandinavien einsetzen müsse, als der tatsächliche Täter, der 32-jährige bekennende Christ und blonde, hellhäutige norwegische Bürger Anders Behring Breivik auf der 40 km von Oslo entfernten Ferieninsel Utøya zum Höhepunkt seines grausamen Planes ansetzte und im Stile eines ferngesteuerten Roboters auf Feriengäste schoss. Nach seiner anschließenden Festnahme durch die Polizei gab Breivik an, seine Aktion hätte die norwegische Gesellschaft aufwecken sollen und sich gegen die angebliche Bedrohung des europäischen Abendlandes durch die „Islamisierung“ und den „Kulturmarxismus“ gerichtet.
Spätestens seit seiner Beschaffung des Sprengstoffes bei einem polnischen Chemieunternehmen war der ausgebildete Sportschütze dem norwegischen Geheimdienst zwar bekannt, seine besondere Überwachung hielt man dort angesichts eines angeblich „unglaublich gesetzestreuen Lebens“ jedoch nicht für notwendig. Man mag sich vorstellen, welche Maßnahmen wohl ergriffen worden wären, wenn Breivik dunkelhaarig, muslimischen Glaubens und regelmäßiger Moscheebesucher gewesen wäre.
Zumindest jene Moschee, die er besucht hätte, und der dortige Imam hätten sich mutmaßlich mit kritischen Nachfragen sowohl durch Sicherheitskräfte als auch durch Journalisten konfrontiert gesehen. Es passt offenbar nicht so recht ins Bewusstsein eines großen Teils der europäischen Elite, dass die Liberalität, die ihr Kontinent nach außen zu verkörpern beansprucht, von einheimischen Nichtmuslimen mit extremistischer Einstellung in gleichem Maße bedroht ist wie von radikalen Muslimen mit und ohne Migrationshintergrund.

Ein Terroranschlag und ein grausamer Massenmord zeigt der norwegischen Gesellschaft die Grenzen der Liberalität auf

Toleranz und Mitmenschlichkeit ist der gemeinsame Feind der Extremisten aus Orient und Oxident

Eine Gemeinsamkeit zwischen Breivik und vielen sogenannten „Schläfern von al Qaida“ ist auf jeden Fall nicht zu leugnen. Ein scheinbar tadelloses gesetzestreues Leben hält beide nicht von ihrem mörderischen Plan ab und ihre Hauptopfer sind jeweils Angehörige der gleichen Kultur und Religion, die diese toleranter und liberaler auslegen. Unbestreitbar sind seit dem Einmarsch westlicher Truppen in Irak und Afghanistan dort weit mehr Muslime Selbstmordattentaten zum Opfer gefallen als Soldaten der Besatzungsmächte und ebenso unbestreitbar war die Anzahl der Muslime unter den Opfern von Oslo und Utøya nicht höher als der muslimische Anteil an der norwegischen Einwohnerschaft.
Breivik zielte vor allem auf Mitglieder der regierenden Arbeiterpartei ab, deren Jugend sich auf Utøya zum Ferienlager aufhielt. Sie repräsentiert für ihn den neben dem Islam heraufbeschworenen „zweiten Feind“, den sogenannten „Kulturmarxismus“. Gemeint ist damit nichts anderes als ein Kultur- und Religionsverständnis, das auf einen Hegemonieanspruch verzichtet und die anderen Religionen und Kulturen als gleichrangig anerkennt. Dieser Pluralismus ist es, der Skandinavien generell und Norwegen im Besonderen seinen vorbildhaften Ruf als liberales und friedliebendes Land gebracht hat, das zurecht den Friedensnobelpreis verleihen und damit alljährlich ein Signal der Völkerverständigung und des gleichberechtigten Nebeneinanders verschiedener Religionen und Kulturen in die übrigen Erdregionen hinaus senden darf.

Kulturalismus und Freund-Feind-Denken sind die Gegner des zivilisatorischen Fortschritts weltweit

Jener Ruf ist in keiner Weise durch den Islam bedroht, ebenso wenig wie durch ein vom angelsächsischen Raum aus nach Skandinavien hinein dringendes charismatisches evangelikales Christentum, das durchaus an traditionellen ethischen Normen festzuhalten bestrebt und den Idealen der säkularistischen europäischen Moderne skeptisch gegenüber eingestellt ist. Die Bedrohung geht vielmehr von einem Kulturalismus aus, der im Geiste Samuel Huntingtons ein determiniertes Gegeneinander der Zivilisationen und ihrer Religionen heraufbeschwört.
Dementsprechend gilt der Islam als „ewiger Rivale des Westens“ und jene, die sich auf dieses Gegeneinander nicht einzulassen bereit sind, als „Agenten der jeweiligen Gegenseite“. Dieses Gedankengut ist es, das mutmaßliche muslimische Selbstmordattentäter von ihren Hasspredigern eingeflößt bekommen und das Breivik gleichermaßen von der islamfeindlichen Bloggerszene im Internet aufgenommen und verinnerlicht hat. Multikulturalismus wird hier als Steigbügelhalter der als Gefahr heraufbeschworenen „Islamisierung Europas“ gewertet und als „Kulturmarxismus“ oder „Gutmenschentum“ verfemt.
Wie verbreitet dieses Menschenbild in der norwegischen und darüber hinaus gesamteuropäischen Gesellschaft derzeit ist, zeigt sich nicht zuletzt am Verhalten der Medien wie des norwegischen Geheimdienstes vor und nach Beginn der Anschläge Breiviks, die in keiner Weise dazu beigetragen haben, die Eskalation der Gewalt und der Inhumanität zu verhindern. Jene Eliten, die Breivik nun als „wahnsinnigen Einzeltäter“ einstufen, belegen bereits, dass sie sich der realen Bedrohung für die norwegische Liberalität noch nicht bewusst sind.
Diese extremistische Gewalt kann nur bekämpft werden, wenn einer Denkweise entgegengetreten wird, die im Sinne Carl Schmitts auf die immer währende Bekämpfung eines Feindes konzentriert ist und Andersheit nicht als Bereicherung wahrzunehmen bereit ist. Erstrebenswerte Freiheit kann sich als „Freiheit des Anderen“ mit Rosa Luxemburg hingegen durchaus auf eine bekennende Marxistin berufen. Sie ist aber ebenso in den Religionen – im Islam, im Judentum wie im Christentum – beheimatet und die Wurzel des gesellschaftlichen Fortschritts in Orient wie Oxident.
Diese Art von Freiheit stellt auch die Basis der norwegischen Liberalität und Friedfertigkeit dar, die von Extremisten wie Breivik und seinen geistigen Vorbildern mit symbolischer und realer Gewalt zu zerstören versucht wird. Wenn sich die norwegische Gesellschaft auf ihr ursprüngliches Freiheitsverständnis zurückbesinnt, kann sie in Zukunft auch wieder Signale für Frieden und Mitmenschlichkeit auf den gesamten Globus aussenden.

Zum Autor: Dr. phil. Mohammed Khallouk ist Politologe und Islamwissenschaftler und lehrt sowohl an der Philipps-Universität Marburg als auch der Universität der Bundeswehr München



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