Artikel Montag, 26.10.2009 |  Drucken

Sarrazin - Ausspruch unbequemer Wahrheiten oder Verunglimpfung einer differenten Kultur? Von Mohammed Khallouk

Der von nach Deutschland eingewanderten Hugenotten abstammende Thilo Sarrazin ist seit Beginn seiner politischen und ökonomischen Karriere für öffentlichkeitswirksame, zu Widerspruch einladende Äußerungen bekannt. Sein Interview in der deutschen Ausgabe der Zeitschrift „Lettre International“, in dem er der überwiegenden Majorität der in der deutschen Hauptstadt lebenden Einwohner mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund ihre Integrationsbereitschaft in die Aufnahmegesellschaft bestreitet und ihnen attestiert, sich weder um die Ausbildung ihrer Kinder noch um das Erlernen der deutschen Sprache angemessen zu bemühen, hat zu einem Überbietungswettbewerb polemischer Kommentare mit teils zustimmendem und teils empörerischem Charakter geführt.
Preisen die einen seinen Mut, sich über das ungeschriebene Gesetz der Political Correctness hinwegzusetzen, rücken andere das Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank in die Nähe des nationalsozialistischen Rassendenkens. Bundesbank Präsident Axel Weber distanzierte sich vor diesem Hintergrund medienwirksam von den Aussagen des ehemaligen Berliner Finanzsenators und entzog ihm wesentliche Aufgabenbereiche innerhalb des höchsten deutschen Kreditinstituts, eine Entlassung erwies sich angesichts des Bundesbankgesetzes kaum durchführbar. Vor allem die Migrantenverbände wiesen Sarrazins Darstellung brüskiert zurück und fordern – bislang vergeblich - seinen Rücktritt als Bundesbankvorstand.

Besonders anstößig empfand man seine These, die muslimischen Immigranten wollten Deutschland auf demographischem Wege über höhere Geburtenraten „erobern“, wie dies den Albanern gegenüber den orthodox christlichen Serben im mittlerweile albanisch-muslimisch geprägten souveränen Staat Kosovo gelungen sei. Aber auch die Schlussfolgerungen, dass denjenigen, die dem deutschen Staat generell feindlich gegenüber eingestellt seien, zugleich jedoch dauerhaft von dessen Sozialsystemen profitierten, die Tür der Republik künftig geschlossen bleiben sollte und lediglich „jeder, der bei uns etwas kann und anzubieten hat“, willkommen sei, sorgten für rege Diskussionen. Dabei stellt sich die Frage, in wie weit Sarrazin nicht tatsächlich gesellschaftliche Probleme pointiert ausgesprochen hat, die in der Vergangenheit von politischer Seite aus Bequemlichkeitsgründen, aber auch aus Angst um das eigene tolerante Image immer wieder ausgeklammert wurden.

Dass die höchsten Geburtenraten in deutschen Großstädten Immigranten aus dem sogenannten „Gastarbeitermilieu“ aufweisen und bei diesen zugleich der Anteil derjenigen, die weiterführende Schulen oder gar Universitäten besucht, am niedrigsten ist, lässt sich dem Statistischen Jahrbuch entnehmen. Zu bestreiten ist ebenso wenig, dass Immigranten aus nichtmuslimischen Kulturkreisen wie z.B. Aussiedler und Juden aus der früheren UDSSR tendenziell höhere Bildungsabschlüsse und PISA-Werte erreichen als die Majorität mit türkischen und arabischen Wurzeln. Ein Verschweigen dieser Fakten aus opportunistischen Gründen wird sicherlich in keiner Weise dazu beitragen, bestehende Probleme im Bereich der Integration zu bewältigen.
Zweifellos sollte immer nach der Ursache geforscht werden, bevor Strategien zum Umgang mit den Folgen auf den Markt gelangen. In dieser Hinsicht ist Sarrazin in der Tat einiges vorzuwerfen. Schließlich war er als Finanzsenator mehrere Jahre für die Politik Berlins, einschließlich seines Immigrationsproblems (das eine unbestreitbar finanzielle Dimension besitzt) verantwortlich. In dieser Periode ist es ihm genauso wenig wie seinen Vorgängern und Nachfolgern gelungen, praktikable Konzepte zur Integration von Muslimen zu präsentieren, geschweige denn durchzusetzen. Nach dem Wechsel in ein nicht mehr unmittelbar parlamentarischer Kontrolle unterliegendes Amt bei der Bundesbank sich an die Öffentlichkeit zu begeben und diese Versäumnisse ausschließlich den Immigranten und ihrer kulturpolitischen Einstellung anzulasten, erscheint vor diesem Hintergrund eine Unverfrorenheit.

Auftakt einer ernsthaften Integrationsdebatte statt Suche nach Sündenböcken

Sowohl die Äußerungen Sarrazins als auch die emotionsgeladenen Reaktionen von Repräsentanten der verschiedensten Gesellschaftsbereiche hierauf demonstrieren, dass innerhalb der Eliten von Immigranten wie Aufnahmegesellschaft die Tendenz besteht, mit Pauschalurteilen über die jeweils andere Seite von eigenen Versäumnissen abzulenken. Auf diese Weise wird es nicht gelingen, die vorhandenen, von Sarrazin korrekt zu Ausdruck gebrachten Integrationsdefizite auszuräumen. Stattdessen werden in der Civil Society bestehende Zerrbilder verfestigt und eine vorhandene Tendenz zu Parallelgesellschaften verschärft.
Die Schlussfolgerung, der fremde kulturellreligiöse Hintergrund stelle für gesellschaftlichen Aufstieg und Integration auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt generell die entscheidende Hürde dar, kann gerade an Großstädten wie Berlin exemplarisch widerlegt werden. Darauf hat Sarrazin selbst hingewiesen, wenn er den Anteil auf ALG II angewiesener Personen dort im Vergleich zu anderen Regionen generell als überproportional charakterisiert und von einer „ständig wachsenden Unterschicht“ spricht, die alteingesessene Berliner ebenso erfasse wie Immigranten aus dem Vorderen Orient. Mag dies zum Teil an einer spezifischen „Berliner Subventionsmentalität“ liegen, nicht bestreiten lässt sich jedoch ebenso, dass die deutsche Hauptstadt in den letzten Jahren stärker von strukturellen Problemen ergriffen war als andere europäische Metropolen wie Wien und Paris, aber auch andere deutsche Großstädte wie München und Stuttgart. Von diesen strukturellen Problemen sind Migranten tendenziell in noch höherem Maße betroffen als alteingesessene Stadtbewohner.
Aufgabe der Politik im Sinne einer erfolgreichen gesellschaftlichen wie sozioökonomischen Integration sollte darin liegen, die deutsche Civil Society über die hineinimmigrierte Kultur aufzuklären und den Neueinwanderern die Wertvorstellungen der Aufnahmegesellschaft zu vermitteln. Selbstverständlich beinhaltet Bildung immer auch eine Verantwortung an das Elternhaus, die - worauf Sarrazin zu Recht hingewiesen hat - in der Vergangenheit vielfach nur unzureichend wahrgenommen worden ist. Sie stellt allerdings ebenso eine Aufgabe der staatlichen Erziehungseinrichtungen dar, die bisher – wie die PISA-Studie belegt - in anderen Bundesländern erfolgreicher gemeistert wurde als in Berlin.
Sollten Sarrazins späten Erkenntnisse für die Zukunft Berlins wie anderer deutscher Städte mit hohem muslimischen Immigrantenanteil sich als förderlich erweisen, erfordert es anstatt einer Anprangerung deren tatsächlichen oder vermeintlichen Fehlverhaltens sie als Initial zu einer ernsthaften Integrationsdebatte zu begreifen. Hierzu gehört eine ehrliche Bestandsaufnahme und darauf aufbauend die Entwicklung eines erfolgversprechenden Integrationskonzepts, dass sowohl von den Immigranten als auch seitens der Aufnahmegesellschaft einen Beitrag einschließt.

Die Sprache ist das wichtigste Medium zur Teilhabe an der Gesellschaft, weshalb Deutschland zu Recht die Anstrengung seiner Immigranten um die Erwerbung von Deutschkenntnissen erwarten kann. Gleichzeitig können die Immigranten seitens der Aufnahmegesellschaft die Akzeptanz ihrer spezifischen kulturell – religiösen Eigenheiten verlangen. Aufgrund der divergenten Religion sind die Anforderungen der Araber und Türken an die Deutschen hierbei zweifellos größer als beispielsweise der Osteuropäer, die ebenso dem christlichen Kulturkreis entstammen. Über die schulische Vermittlung von Kenntnissen der anderen Religion lässt sich allerdings ein Verständnis für religiös bedingte divergente Verhaltensweisen erreichen, das es erlaubt, darin gleichermaßen Wertegebundenheit zu erkennen und diese als Bereicherung für die Gesamtgesellschaft zu erfahren.
Die Orientierung an Vorbildern weist den Weg für Immigranten und Aufnahmegesellschaft
Berlin ist nicht nur die „Hauptstadt der Empfänger von Sozialleistungen“, die Paradebeispiele für Parallelgesellschaften und moderne Ghettobildung bietet, sie stellt zugleich in der Historie wie in der Gegenwart einen Beleg für das Gelingen einer echten multikulturellen Gesellschaft, in der verschiedenste Lebensstile und Denkweisen zu einem sich permanent weiterentwickelnden Ganzen miteinander verschmelzen. Bereits im 19. Jahrhundert zog die Metropole an der Spree Immigranten vor allem aus Polen an, deren Nachfahren lediglich den Katholizismus und den slawisch klingenden Namen beibehalten haben und bis in die höchsten Stufen von Verwaltung und Wirtschaft gelangt sind. Später erreichten Vietnamesen, die Armut und Krieg ihrer Heimat den Rücken gekehrt hatten, hier universitäre Abschlüsse und tragen heutzutage über ihre Überweisungen an die daheim gebliebenen Angehörigen zur Kaufkraftsteigerung in ihrem Herkunftsland nicht unwesentlich bei.
Aber auch ein großer Teil der türkischen und arabischen Immigranten der sogenannten zweiten und dritten Einwanderergeneration hat es über Fleiß und Aufopferungsbereitschaft in Deutschland zu beträchtlichem Wohlstand gebracht. Nicht zuletzt im Obst- und Gemüsehandel, auf den Sarrazin Bezug nimmt, beweisen Immigranten aus muslimischen Herkunftsländern eine Eigeninitiative, die ihres gleichen unter alteingesessenen Deutschen sucht. Mag die soziale Bedürftigkeitsquote unter türkischen und arabischen Immigranten über dem Bundesdurchschnitt liegen, der Anteil an Selbstständigen in dieser Bevölkerungsgruppe ist ebenfalls signifikant höher.
Es gilt nicht immer nur die Negativbeispiele ins Auge zu fassen, sondern die unzähligen positiven Exempel einer gelungenen Integration ebenfalls herauszuheben, die den bisher Zurückstehenden als Ansporn dienen können. Die von Sarrazin korrekt festgestellte höhere Geburtenrate bei muslimischen Immigranten zeigt zudem, dass man hier Verantwortungsbewusstsein auch auf die nächste Generation gerichtet anerkennt. Ehepaare der Aufnahmegesellschaft, die nur ein oder vielfach sogar überhaupt kein Kind in ihrer Obhut wähnen, sehen sich naheliegenderweise kaum gefordert, sich für geeignete Bildung einzusetzen. Das Manko im deutschen Bildungswesen, unter dem die Immigranten vorrangig zu leiden haben, mag auch aus einem Desinteresse ihrer Aufnahmegesellschaft erwachsen sein, die mangels eigenem Betroffenheitsgefühl ihr Engagement verstärkt in Freizeitkonsum hineinsteckt.

Wenn man sich dort über demographische Verschiebungen zu Gunsten der Muslime beklagt, sollte man sich zuerst fragen, welchen Anteil man selbst zu dieser „bedauerten Tendenz“ beiträgt. Immigranten und Aufnahmegesellschaft können sich vielmehr gegenseitig als Vorbilder betrachten und voneinander lernen, wie ein wertgebundenes Leben unter den Bedingungen der Postmoderne gelingen kann. Muslimische Immigranten könnten von der deutschen Mittelschicht ebenso wie von anderen Immigranten sich abschauen, wie über verstärktes Engagement in Bildung unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen eine erfolgreiche berufliche Karriere erreichbar ist. Alteingesessene Deutsche wiederum könnten von ihren muslimischen Mitbürgern lernen, wie trotz eines Geschäftes, das von morgens bis abends körperlichen und geistigen Einsatz verlangt, ein Familienleben mit mehreren Kindern zum materiellen und ideellen Wohlbefinden aller gelingen kann.

Wenn man von Pauschalurteilen und Negativstigmatisierungen anderer Kulturen, wie sie Sarrazin mit seinen Aussagen zweifellos zum Ausdruck bringt, Abstand nimmt und sich ressentimentfrei mit ernsthaftem Interesse auf die fremde Kultur zu begibt, können gerade deutsche Großstädte den Pfad in eine gemeinsame Zukunft im pluralen Miteinander weisen. Das deutsche Grundgesetz lässt mit der garantierten freien Entfaltung der Persönlichkeit so zahlreiche Varianten an Lebensstilen zu, dass Muslime ebenso wie Christen und Atheisten darin ihren individuellen Weg finden und zugleich jeder auf seine Weise zum Gemeinwohl beizutragen vermag.



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