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Sonntag, 23.11.2003 | Drucken |
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Die Anschläge auf den Islam und gegen die Menschlichkeit - Kommentar
Nach Istanbul, Riad und Bagdad: Ist die Antiterrorstrategie gescheitert? – Tun die Muslime genug gegen Extremisten? – Wem schadet am Ende der Terror am meisten?
In den letzten Tagen haben viele Menschen nach den Motiven der Terroranschläge gefragt. Hängen vielleicht die Anschläge damit zusammen, dass die Türkei Truppen nach Irak entsenden will, war eine der Fragen oder liegt es gar in der Europa freundlichen Politik der islamisch-konservativen Regierung begründet?
Die Beteiligung an dem irakischen Feldzug kann es nicht sein, denn dies hatte Erdogan und seine Mannen vor Tagen nun endgültig abgelehnt. Auch kann es nicht die Liberalisierung des Landes sein. Denn die bringt schließlich nicht nur Erleichterungen für die Kirchen und Minderheiten wie die Kurden, sondern auch Muslime selber profitieren davon und beginnen im Lande wieder ein erträgliches Leben zu führen. Dagegen kann doch kein frommer Muslim etwas haben, oder?
Eine Frage bleibt meist dabei auf der Strecke
Und doch ist die Motivdiskussion vor diesem Hintergrund mehr als verständlich, bleiben doch die Attentäter immer wieder eine Antwort schuldig, gegen wen und was sie eigentlich sind. Nach solch verheerenden Anschlägen kursieren zwar irgendwelche Bekennerbriefe, deren Echtheitsgrad kaum hundertprozentig geklärt werden kann und die meist mit wüsten Beschimpfungen und Drohungen gegen den Westen bestückt sind.
Eine Frage bleibt meist dabei auf der Strecke: Wenn es denn muslimische Terroristen sind – die Begriffskombination verbietet sich eigentlich inhaltlich wie semantisch – welchen Nutzen bringen sie der muslimischen Gemeinschaft mit ihrer abscheulichen Tat?
Dieser Frage werden sich besonders die Tausenden von Verletzten in Istanbul, in Bali, Riad und Casablanca fragen: muslimische Opfer, die von nun an als Krüppel leben und für ihr restliches Leben durch die furchtbaren Bomben entstellt sind. Sie werden diese Frage als Anklage ständig auf ihren Gesichten tragen.
Darin werden weitere Fragen zu lesen sein: Welchen Sinn sehen die „Fundamentalisten“, ein Selbstmordattentat in Casablanca (Marokko Juli 2003) zu verüben? Einem Land, welches gerade im Begriff war, eine freie Opposition – auch mit gemäßigten muslimischen Parteien – zuzulassen?
Was für einen Sinn macht es, einen Anschlag in Riad (Saudi Arabien ebenfalls Juli 2003) zu verüben, just zu dem Zeitpunkt, als die USA bekannt gibt, Truppen aus den Land abzuziehen? Warum werden Dutzende muslimische Brüder und Schwestern in einem darauffolgenden Anschlag im heiligen Monat Ramadan in der Luft zerfetzt – und zwar wieder in Riad?
Welchen Dienst erweist man dem geschunden irakischen Volk, wenn ein Anschlag auf das UNO-Gebäude mit vielen Toten und Verletzten in Bagdad verübt wird? Jene Institution, die sich wehrhaft bis zu letzt gegen den Krieg im Irak gestellt hat und die für die Iraker in Bagdad bis vor dem Anschlag einer der größten „Arbeitgeber“ darstellte.
Welchen Sinn macht es, wenn man – wieder im heiligen Monat Ramadan – das Rote Kreuz in Bagdad nach Hause bombt? Jene Institution, die bis zuletzt mit wertvoller medizinischen Hilfe ein wenig Linderung für ein Volk schaffte, welches unter chronischem Mangel an Arzneimitteln und medizinischer Geräte seit Jahren leidet? Was für ein barbarischer Akt ist es, Anschläge auf unschuldige Menschen in Istanbul – noch dazu auf jüdische Gotteshäuser – zu verüben? Eine Stadt, in der die Muslime mit Stolz auf eine Jahrhunderte alte und bis heute gelebte Toleranztradition schauen?
Was ist das für ein Islam, den die Attentäter vorgeben zu leben?
Haben denn die Attentäter nicht gewusst, dass der Islam den Schutz von Synagogen, Kirchen und Moschee gebietet (Koran: Sure 22/Vers38 ff)?
Haben sie denn nicht gewusst, dass der ehrwürdige Prophet Muhammad ausdrücklich fordert, jene unbehelligt zu lassen und höchstpersönlich ankündigte, selbst Fürsprecher der ungerecht behandelten Christen und Juden am Jüngsten Tag zu sein (Hadith, bekannte Überlieferung)? Und des weiteren heißt es in einem bekannten Prophetenspruch.“.. der Gläubige ist derjenige, vor dem die Menschen in Sicherheit sind“.
Ist Ihnen in ihrer Ausbildung entgangen, dass der Koran den Selbstmord ohne Einschränkungen verbietet (Koran Sure 4 Vers 29)? Wut und Trauer erfassen vielen Menschen in diesen Tagen – und gerade Muslime – angesichts dieser Fragen.
Der Ruf nach Vergeltung darf nicht die Falschen treffen
Die berechtigte Entrüstung über die massiven Verbrechen lässt aber leider auch voreilig und hitzig nach Vergeltung rufen. Die Regierungen stehen demnach unter sehr großem innenpolitischen Druck.
Unverständnis und Angst haben dann auch viele angesichts derer, die trotz des Gebots der Differenziertheit nicht abwarten können nach Schwarz-Weiß-Manier – hier der gute Westen und dort die unbändige angsteinflößende islamische Welt – die Dinge einzuteilen und auf der Grundlage dieses verhängnisvollen falschen Bildes Gegenmaßnahmen fordern.
Da wir mal schnell die Stadt Istanbul zum Symbol des Westens erklärt und die noch tags zuvor als islamistisch beschimpfte türkische Regierung zum Symbol von Laizität und moderner Demokratie erheben.
So verständlich die Suche nach groben Erklärungsmustern für diese Taten auch sein mag, wir sollten dennoch nicht auf die von den Terroristen gewollte Verwechslung „Islam gleich Terror“ hereinfallen. Wenn wir das tun, und z.B. plötzlich in jedem Moscheegänger einen potentiellen Extremisten vermuten, haben die Terroristen bereits gesiegt. Wachsamkeit, Unaufgeregtheit und die Intensivierung des gesellschaftlich Dialogs ist jetzt mehr denn je gefragt.
Nicht die Opfer zu Täter werden lassen
Und so ist es richtig, wenn der Bundeskanzler den leicht durchschaubaren Aussagen der CDU/CSU, wonach der EU-Beitritt der Türkei angesichts der Anschläge noch einmal zu überdenken sein sollte, eine deutliche Absage erteilt und urteilt, dass die Union „menschliches Leid politisch zu instrumentalisieren" versucht. Dieses Vorgehen Einiger in der Union ist mehr als schäbig, unangemessen und übersieht sträflich die Opfer der Anschläge.
Stattdessen sollte jetzt gemeinsamer Tenor sein (wie auch vom Kanzler gefordert): Enge Kooperation mit der Türkei, Forcierung des EU-Beitritts und vor allem und nicht zuletzt angesichts des bevorstehenden Fastenbrechenfest ist jetzt unsere Solidarität mit den Opfern in Istanbul gefragt.
Ist die Antiterrorstrategie gescheitert?
Ein weiterer Punkt muss offen diskutiert werden: Ist die Strategie der militärischen Bekämpfung gegen den internationalen Terror heute noch so haltbar? Der gewünschte Erfolg ist offenkundig ausgeblieben. Ja schlimmer noch, der Terror nimmt zu und mit der gewaltsamen Invasion im Irak haben Terroristen neuen Zulauf und neues Leben gewonnen. Ein Umstand, auf den viele Menschenrechtsorganisationen, Regierungen und auch islamische Stellen (z.B. der Zentralrat der Muslime) vor dem Krieg gegen den Irak hingewiesen haben.
Diese insbesondere von den USA angestrengte Strategie scheint gescheitert zu sein. Und so erwarten die Völker der Erde jetzt mehr als nur Durchhalteparolen oder geistreiche Aussagen wie „der Kampf gegen den Terror muss jetzt weiter gehen“, wie sie beim Staatsbesuch von George W. Busch in Großbritannien zum Ausdruck gebracht worden sind. Der Kampf um die Köpfe der Menschen in der islamischen Welt ist jetzt gefragt, die Wiedergewinnung der Sympathien der Völker sollte als Hauptaufgabe, ja als Herausforderung erklärt werden. Fernab von weiteren Milliarden schweren Schuldenprogramme zwecks Finanzierung von Waffen und Soldaten, die gegen ein asymmetrisches Ziel „Terror“ gerichtet sind. Damit trocknet man nicht den Nährboden des Terrors aus. Denn dieser besteht nämlich vornehmlich aus Ungerechtigkeit, Armut und Perspektivlosigkeit.
Die Erwartungen an die muslimischen Führer
Und was erwartet man von den Moscheen und den islamischen Gesellschaften der Welt? Dort muss noch verstärkter und deutlicher der Terror und der Extremismus geächtet werden. Von den hochrangige islamischen Geistlichen und Gelehrten sollte die tiefe Abneigung gegenüber diesen Terrorgruppen zum Ausdruck kommen. Sie müssen mehr denn je den friedlichen, auf Koexistenz mit allen Gruppen und Religionen aufbauenden Ansatz des Islam predigen.
Diese Handlungsweise gebietet nicht nur der Respekt vor den Opfern der Anschläge, sondern auch der Respekt gegenüber der eigenen Religion.
Denn der Koran fordert auf, ausdrücklich gerecht zu handeln, auch wenn es gegen die vermeintlich eigenen Leuten gehen soll. „.. seid Wahrer der Gerechtigkeit, (...), auch wenn es gegen euch selbst oder die Eltern und nächsten Verwandten sein sollte!“ heißt es da. (Koranvers 135 Sura 4) (Aiman A. Mazyek)
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