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Montag, 08.12.2025

Zum Jahrestag der Befreiung Syriens: 160.000 Menschen, die seit Beginn des Aufstands gegen Baschar al-Assad im Jahr 2011 in Syrien spurlos verschwunden waren

Den Kern bildet ein gewaltiger Datensatz von mehr als 130.000 vertraulichen Dokumenten und Fotos aus den Archiven syrischer Geheimdienste, der dem NDR zugespielt wurde

DAMASKUS/FRANKFURT – Es ist ein zitterndes Blatt Papier, das eine 13-jährige Qual beendet. Thaer al-Najjar setzt seine Brille auf, sein Blick fällt auf die maschinengeschriebenen arabischen Zeilen, die das Schicksal seines älteren Bruders Imad besiegeln. Ein medizinischer Bericht aus dem Militärkrankenhaus Harasta, datiert auf den 14. August 2012. „Während der Behandlung des Häftlings Imad Said al-Najjar in der Notaufnahme reagierte dieser auf keine der Wiederbelebungsmaßnahmen“, steht da. Dann verlässt Thaer den Raum. Sein Schluchzen hallt durch den Flur. Minuten später kommt er zurück, gefasst, und sagt die Worte, die das Ende einer quälenden Ungewissheit markieren: „Das Herz ist gebrochen.“ Diese Szene, die sich erst kürzlich in Damaskus abspielte, ist keine Privatangelegenheit. Sie ist ein winziger Mosaikstein in einem unvorstellbar großen Bild der Grausamkeit und bürokratischen Kälte. Thaer al-Najjars Bruder Imad ist eines von schätzungsweise 160.000 Menschen, die seit Beginn des Aufstands gegen Baschar al-Assad im Jahr 2011 in Syrien spurlos verschwunden sind. Sie wurden von Sicherheitskräften von Checkpoints, aus ihren Häusern oder von der Straße weggezerrt und verschwanden in dem undurchdringlichen Labyrinth aus Geheimdienstgefängnissen und Folterkellern, das das Regime über Jahrzehnte errichtet hatte. Nun, nach dem überraschenden Sturz des Diktators im Dezember 2024 und der Öffnung der berüchtigten Kerker wie Saidnaja, sickert nicht nur die grausige Realität der Haftbedingungen an die Öffentlichkeit. Ein internationales Recherchekonsortium, das „Damascus Dossier“, hat erstmals Zugang zu einem gewaltigen Berg interner Regimedokumente erhalten und ausgewertet. Die Ergebnisse, die dieser Redaktion exklusiv vorliegen, liefern nicht nur schockierende Einblicke in die Systematik der Unterdrückung, sondern auch – endlich – handfeste Beweise und Gewissheit für Hunderte von Familien. Hinter dem „Damascus Dossier“ verbirgt sich eine kooperative Investigativ-Recherche von Journalistinnen und Journalisten der Süddeutschen Zeitung (SZ), des Norddeutschen Rundfunks (NDR) und des Westdeutschen Rundfunks (WDR), in Zusammenarbeit mit syrischen Rechercheuren vor Ort. Den Kern bildet ein gewaltiger Datensatz von mehr als 130.000 vertraulichen Dokumenten und Fotos aus den Archiven syrischer Geheimdienste, der dem NDR zugespielt wurde. Das Team, bestehend aus Hannah El-Hitami, Lena Kampf, Amir Musawy und Sulaiman Tadmory, sichtete und analysierte über Monate Tausende Seiten Akten, Todesberichte, Häftlingslisten und Telegramme.

Was sie fanden, ist die akribische Buchführung eines Unrechtsregimes. „Der Datensatz ist nur ein kleiner Einblick in Jahrzehnte der Unterdrückung, aber er vermittelt mehr als nur eine Ahnung von der Grausamkeit des Regimes“, so eine beteiligte Journalistin. Darin enthalten sind Belege für den Tod von mindestens 454 Gefangenen sowie die Namen von über 1.000 weiteren Verschwundenen, deren Wege nun teilweise rekonstruierbar sind. Die Dokumente reichen von förmlichen Todesmeldungen auf offiziellem Briefpapier bis hin zu schludrig handschriftlich ausgefüllten Zetteln – Zeugnisse davon, wie wenig ein Menschenleben in der Assad-Diktatur zählte. Die Geschichte von Imad al-Najjar und seinem Bruder Eyad ist typisch für das Jahr 2012. Beide hatten an friedlichen Protesten teilgenommen. Als bewaffnete Männer das Familienhaus stürmten, flehte die Mutter vergeblich um Gnade für den kranken Imad. Eyad kam nach einer Woche schwer gefoltert frei und starb kurz darauf. Von Imad fehlte 13 Jahre lang jede Spur. Erst das „Damascus Dossier“ lieferte den Todesbericht. Ein ähnliches Schicksal ereilte Munir al-Tahan, einen Milch- und Käselieferanten aus Damaskus und Familienvater. 2012 verschwand er auf dem Weg zur Arbeit. Seine Familie, darunter der damals 13-jährige Sohn Nizar, unternahm alles: Sie bestachen Beamte, durchsuchten Gefängnislisten, lebten in quälender Hoffnung. „Dieses Gefühl ist viel schlimmer, als zu wissen, dass er tot ist, und ein Grab zu haben, das man besuchen kann“, sagt Nizar al-Tahan heute, der mittlerweile in Deutschland lebt. Auch für ihn hielt das „Damascus Dossier“ die bittere Gewissheit bereit: Ein Bericht des Militärkrankenhauses Harasta vermerkt nüchtern, Munir al-Tahan sei am 22. Oktober 2012 mit einer Schussverletzung am Kopf eingeliefert worden und am 13. November an einem „plötzlichen Herz- und Atemstillstand“ gestorben. „Wir haben damals im Harasta-Militärkrankenhaus nach ihm gefragt“, erzählt Nizar. „Doch sie sagten: Er ist nicht bei uns. Niemand mit diesem Namen ist hier.“ Dass diese Ablehnung kein Zufall, sondern Teil einer gezielten Strategie war, belegen weitere Dokumente, die das Rechercheteam einsehen konnte. Ein Bericht der Commission for International Justice and Accountability (CIJA), einer unabhängigen Organisation, die Beweise für Kriegsverbrechen sammelt, zitiert aus einem internen Telegramm des Allgemeinen Geheimdienstes vom 27. Februar 2018. Darin heißt es unmissverständlich: „Es ist verboten, jegliche Details über den Verbleib oder den Zustand verstorbener Häftlinge an externe Stellen oder Familienmitglieder offenzulegen.“ Verstöße würden „strengstens geahndet“, unter anderem weil sie den Ruf des Geheimdienstes „negativ“ beeinflussen oder eine „Grundlage für rechtliche Schritte an internationalen Gerichten“ schaffen könnten. Hier offenbart sich die perverse Logik des Regimes: Während die Leichen der Gefolterten und Ermordeten fotografiert, seziert und aktenkundig gemacht wurden, um die Kontrolle zu wahren, wurden die Angehörigen gezielt in einer Hölle der Ungewissheit gehalten – als Teil des psychologischen Terrors. Die immer gleichen, nichtssagenden Todesursachen wie „Herz- und Atemstillstand“ in den Berichten waren dabei nur ein weiterer Akt der Verhöhnung. Sie sollten Folter, Exekutionen und den Tod durch Vernachlässigung vertuschen, wie durch unzählige Zeugenaussagen Überlebender und anderer geleakter Dokumente längst belegt ist.

Der Sturz Assads im Dezember 2024 weckte zunächst eine Welle der Hoffnung. Familien stürmten die geöffneten Gefängnisse, durchsuchten leere Zellen nach Graffiti oder persönlichen Gegenständen ihrer Angehörigen, wie Thaer al-Najjar, der nach Bildern seines malenden Bruders suchte. Doch die Euphorie wich schnell einer niederschmetternden Erkenntnis. Die allermeisten der seit 2011 Verschwundenen tauchten nicht auf. „Wer seit Dezember 2024 nicht wieder aufgetaucht ist, ist höchstwahrscheinlich tot“, lautet die düstere, aber realistische Einschätzung vieler. Das „Damascus Dossier“ gibt dieser Erkenntnis nun ein Gesicht und eine Aktennummer. Es verwandelt statistische Größen in individuelle Tragödien und ersetzt das quälende „Vielleicht“ durch ein endgültiges, wenn auch schmerzhaftes „Gewiss“. Für Nizar al-Tahan war selbst in der schrecklichen Gewissheit noch ein kleiner Trost: Sein Vater litt „nur“ drei Wochen. „Es tröstet mich zu wissen, dass er nicht lange gelitten hat.“ Die Arbeit des „Damascus Dossier“-Teams ist damit noch lange nicht abgeschlossen. Jedes identifizierte Schicksal wirft neue Fragen auf und öffnet neue Wunden. Doch sie leistet etwas Entscheidendes: Sie entreißt die Toten der anonymen Bürokratie des Terrors und gibt ihnen – und ihren Familien – einen Teil ihrer Würde zurück. Sie schafft eine Grundlage für Trauer und, möglicherweise, für zukünftige juristische Aufarbeitung. In einer Zeit, in der Syrien nach Jahren des Grauens einen ungewissen Neuanfang sucht, ist diese schonungslose Aufklärung der Vergangenheit der einzige Weg, auf dem eine Zukunft aufgebaut werden kann.

Quellen: Eigene Auswertung der Dokumente des „Damascus Dossier“-Projekts. Rechercheteam: Hannah El-Hitami, Lena Kampf, Amir Musawy, Sulaiman Tadmory (Süddeutsche Zeitung/NDR/WDR). Mitarbeit: Nicole Sadek, David Kenner. Commission for International Justice and Accountability (CIJA). Interviews mit Thaer al-Najjar (Damaszkus) und Nizar al-Tahan (Bad Homburg), geführt vom Damascus Dossier-Team.




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