Newsnational Montag, 03.03.2025 |  Drucken

Fernab der AfD-Migrationsdebatte: Syrien ohne Krieg - Ein Chance für Deutschland

Wir haben die historische Gelegenheit, Syrien zu einem guten Land zu machen. Von Aiman A. Mazyek

Ich bin in Aachen zur Welt gekommen, meine Mutter wuchs in Freiburg auf, eine echte und bis an ihr Lebensende überzeugte Schwarzwälderin. Mein Vater stammt aus Aleppo, der alten Handelsstadt in Syrien. Er kam 1958 nach Deutschland, zwecks Studiums der Elektrotechnik und wurde Ingenieur.  Er hat seiner neuen Heimat viel gegeben – und sie ihm.

Er gründete mit meiner Mutter unsere Familie und lebte ein gutes, deutsches Leben. Seine Heimat war unser Land, seine Wurzeln reichten tief in die Erde seiner deutschen Heimat – aber ein Teil seiner Existenz fand auch in Syrien statt. So wie meines, seines Sohnes. Syrien hat mein Vater in mich hineingepflanzt, es ist immer bei mir und ein Teil von mir. Es ist schön und es ist ein Privileg, diese beiden Kulturen, die deutsche und die syrische in sich zu haben. Nein, ich habe es nie als Konflikt empfunden, stets als Geschenk. Es beschäftigt mich Zeit meines Lebens, Brücken zu bauen, die Menschen zusammenzuführen, gleich welchem Glauben sie folgen oder welche Haar- oder Hautfarbe sie haben. Und Syrien hat mich so viele Jahre schon beschäftigt – mit großer Freude, als Kind und junger Mensch, wenn ich dort war, mit Traurigkeit die zurückliegenden Jahre von Folter, Unterdrückung, Krieg. Und jetzt wieder mit Freude, denn ich sehe die Chancen.


Viele sprechen heute über Syrien, welches wir helfen sollen. Ja sicher, das ist auch richtig. Aber ich möchte vielmehr über Deutschland reden. Deutschland muss das allergrößte Interesse daran haben, dass nicht ein erneuter „arabischer Frühling“ entsteht und das Land in einer neuen, nur anderen Form von Chaos und Dunkelheit versinkt. Niemand, der einigermaßen bei klarem Verstand ist, erwartet, dass in Syrien nun die Demokratie nach westlichem Vorbild entsteht, dass Frauenrechte en Passant installiert, werden der Volksislam säkularisiert wird. All das wird nicht passieren. Wir sollten aber ein einziges erstes Ziel ins Auge fassen – das weitere Schritte möglich werden lässt – Lasst uns nach über 54 Jahren Diktatur, Unterdrückung und einem grausamen Bürgerkrieg die historische Chance ergreifen, endlich dem Krieg in diesem geschundenen Land den Garaus zu machen. Das Ende von Krieg muss unser erstes Ziel sein - damit Frieden Wurzeln schlägt. Und warum ist dies so wichtig für unser Land, unser Deutschland? Warum sollten wir schon aus Eigennutz ein solches Interesse daran haben, dem Krieg seinen blutigen Nährboden zu entziehen? ‘Die Antwort ist nicht schwer: Weil alles, was in dieser Region dem alten Teufel Krieg als Futter diente, letztlich auch unsere Sicherheit, unsere Interessen und die unserer europäischen Nachbarn beeinflusst.

Ein Land von der Größe und der Bedeutung Syriens, wo dieser alte Teufel Krieg darben muss, ist ein Schlüssel für eine bessere Zukunft nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Europa und darüber hinaus. Und damit meine ich bei weitem nicht nur die Bewältigung von Folgen der Migration und Flucht. Es ist kein Geheimnis, dass wirtschaftliche Perspektiven der Schlüssel zu einem stabilen und friedlichen Staat sind. Syrien war einst ein Land mit einer stolzen Geschichte des Handels, der Kultur und der Wirtschaft. Die Aufgabe des Wiederaufbaus ist enorm, aber nicht unüberwindbar. Die Menschen brauchen eine Perspektive, schon aus unserem eigenen Interesse heraus. 1945 haben die USA und andere Deutschland genau diese Perspektive gegeben, aus gutem Grund. Daraus ist ein stabiler Friede über viele Jahrzehnte entstanden. Syrien wird einen sehr schweren Start haben. Und die Menschen dort dürfen nicht darauf warten, dass andere ihnen die Arbeit des Wiederaufbaus nehmen. Das müssen sie schon selbst schaffen. Aber sie brauchen dabei unsere Unterstützung. Deutschland kann dabei eine Schlüsselrolle spielen. Allein in Deutschland leben über eine Million Syrer, viele von ihnen bereits vor dem Bürgerkrieg Jahrzehnten. Ihre Kinder – Deutsche wie ich – haben hier Karrieren gemacht, sind integriert. Diese Verbindung zwischen unseren Ländern ist eine Brücke, eine große Chance, die wir nutzen sollten. Ich spreche da aus familiengeschichtlicher Erfahrung: Mein Vater gehörte zu den erste Bildungseinwanderer deutscher Nachkriegszeit, während Verwandte in Syrien z.b. Textilunternehmer waren. Viele von ihnen mussten während des Bürgerkriegs im letzten Jahrzehnt fliehen, einige fanden Zuflucht in der Türkei, andere in Deutschland, Schweden oder den Niederlanden und bauten ihre neue Existenz auf.

Es muss nicht erwähnt werden, aber es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass der Wiederaufbau gerade für die deutsche Wirtschaft Chancen bietet. Ja, ich spreche es deutlich aus: Am Wiederaufbau soll und muss auch die deutsche Wirtschaft teilhaben, und sie darf und soll dabei Geld verdienen und Arbeitsplätze auslasten. Das dient allen, und darum ist es gut! Deutsche, mit syrischen Wurzeln allzumal, können zu Schlüsseln des Brückenbaus sein, sie können entscheidend den Wiederaufbau mit ihrem Wissen, ihr Kapital und ihren Netzwerken vorantreiben. Die Grundlage eines neuen Syriens ohne Krieg ist die wirtschaftliche Prosperität. Syrerinnen und Syrer selbst haben ein existentielles Interesse, dass am Ende ein Staat herauskommt, wo genau solche Kernelemente die tragenden Säulen werden. Das heißt eben nicht Theokratie, d.h eben nicht eine durch Sektierertum behaftete Autokratie, all das hatten wir allzumal über 50 Jahre. Die Syrer haben davon – auf gut Deutsch mehr als die Schnauze voll. Strategisch hat also Deutschland hat ein erhebliches innen, wirtschafts- und außenpolitisches Interesse, diesen Prozess positiv zu begleiten Wir haben die historische Chance, Syrien zu einem guten Land zu machen. Und wir sollten diese Chance nicht ungenutzt vergehen lassen, schon aus Eigeninteresse. Es braucht dazu Menschen, die beide Kulturen kennen, deutsche wie syrische. Die gibt es. Es wäre gut, sie einzusetzen. 



Erstveröffentlichung Berliner Zeitung vom 06.02.2025 - Mit freundlicher Genehmigung des Autors


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