Leserbriefe Montag, 22.11.2004 |  Drucken

Leserbriefe



M.Belal El-Mogaddedi: "Auch dies ist Bestandteil von Demokratie und auch dies gilt es auszuhalten" zum Text "Aufstand der Anständigen" schrieb:



das Bild über die Muslime in Deutschland wird nicht nur durch Horrorvideos über verabscheuungswürdige Verbrechen gespeist, Gewaltakte wie jüngst in Beslan und durch sinnlose Attentate, aber auch durch eine Vielzahl von Äußerungen der politisch Verantwortlichen in diesem Land.

Öffentliche Stellungnahmen der politisch Führenden überraschen immer wieder mit einer eher unbedachten Wortwahl und einem Mangel an Ausgewogenheit in Sprache und Denken, wenn es um Muslime geht.

Vor einigen Monaten habe ich unterschiedliche Personen aus der Politik und der Kirche angeschrieben und mich als Person vom Terrorismus distanziert. Gleichzeitig habe ich meine Adressaten darum gebeten, mir einen konkreten Vorschlag zu unterbreiten, welche Aktivität sie von mir als Muslim erwarten, damit ich Ihnen meine Distanzierung vom Terror deutlicher machen kann. Bis heute warte ich auf eine entsprechende Antwort.

Der Appell an die Muslime in Deutschland sich von Terror zu distanzieren, ist bei den Muslimen nicht auf taube Ohren gestoßen.

Der Vorwurf des muslimischen Schweigens ist nicht haltbar, denn die Muslime in Deutschland, und nicht nur sie, haben sich konsequent vom Terrorismus distanziert.

Ein Blick auf die Webseite „www.muslime-gegen-terror.de“ sollte, auch bei größter Voreinnahme davon überzeugen, dass Muslime nicht mit Terror sympathisieren.

Bei nicht wenigen gesellschaftspolitisch bedeutsamen Personen ist im Bezug auf muslimische Anti-Terror Positionen in Deutschland eine Wahrnehmungsresistenz festzustellen, die unüberwindbar scheint.

Das der Terrorismus keine Grenzen kennt, ist nach dem Attentat auf van Gogh ebenso richtig wie die Feststellung, dass er auch keine Religion und Ideologie kennt, wie die Anschläge auf muslimische Einrichtungen zeigen.

Terror ist ein Verbrechen, unabhängig von der religiösen oder ideologischen Orientierung des Täters.

Die Sorgen der Mehrheitsbevölkerung und die damit verbundenen Erwartungen in Deutschland müssen selbstverständlich ernst genommen werden.

Dennoch können die Erwartungen dieser Mehrheit von einer Minderheit, in diesem Falle der Muslime, nicht einfach und erschöpfend erfüllt werden.

Die Reaktion einer gesellschaftlichen Mehrheit wie z.B. nach den fremdenfeindlichen Anschlägen in Hoyerswerda oder Solingen kann meines Erachtens in ihrer Grundüberlegung nicht auf eine Minderheit übertragen werden.

Seiner Zeit ging es darum, der Minderheit in diesem Land ein Zeichen zu geben, dass sie in Deutschland sicher ist.

Hinter den Lichterketten verbargen sich aber auch der Wunsch und der Appell an die Minderheit den Charakter der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland in differenzierter Weise wahrzunehmen.

Ja, es haben sich Deutsche (Christen?) in ihrem Angriff auf Nicht-Deutsche schuldig gemacht, aber der gesellschaftliche Frieden konnte gewahrt werden, weil es den Nichtdeutschen sehr wohl gelang, zu differenzieren.

Ja es haben sich auch Araber (Muslime?) mit ihren terroristischen Angriffen schuldig gemacht. Aber genauso wenig wie die deutsche Nationalität dazu führen durfte und darf, in der Form einer unzulässigen Generalisierung als „Nazi/Neonazi“ abgestempelt zu werden - dies gilt nach den erschreckendem Einzug rechtsradikaler Parteien in deutsche Landtage um so mehr - , darf in diesem Land das Bekenntnis zum Islam dazu führen in unzulässiger Weise zum Terrorsympathisanten abgestempelt zu werden.

Der an die Minderheiten gerichtete Appell der differenzierten Wahrnehmung hatte seine Berechtigung in der Vergangenheit und hat seine Berechtigung in der Gegenwart. Er gilt aber gleichermaßen auch für die Mehrheit in diesem Land, und er darf nicht zur Einbahnstraße verkommen.

Disqualifizierende Pauschalisierungen sind einem gesellschaftlichen Frieden nie zuträglich.

In der verworrenen Geisteswelt der Terroristen sind Muslime immer wieder Zielscheibe und damit auch Opfer. Nicht nur die jüngsten Ereignisse im Irak sind Beleg dafür, dass der von Muslimen betriebene Terror keine Rücksicht im Bezug auf Muslime kennt.

Der deutsche Bundespräsident Horst Köhler sagte in seiner Antrittsrede:

„Ich möchte Bundespräsident aller Deutschen sein, und ein Präsident für alle Menschen, die hier leben“.

Dieser Satz schließt selbstverständlich Muslime ein, aber im alltäglichen Leben ist es offensichtlich, dass die in Deutschland lebenden Muslime, immerhin gibt es mittlerweile 800.000 Muslime mit deutschen Pass, von großen Teilen der Mehrheitsgesellschaft immer noch als Vertreter einer Migrantenreligion oder „Türken/Orientreligion“ verstanden werden, und nicht als eine Bereicherung der kulturellen und religiösen Vielfalt in diesem Land und damit als integraler Bestandteil dieser Gesellschaft.

Damit einher geht auch die schon fast Gebetsmühlenartige Beschwörung der - exklusiv ? - auf dem Judentum und Christentum basierenden abendländischen/ europäischen Werte und Menschenrechte. Diese sollen im Gegensatz zu den vom Islam geprägten „die Anwendung von Gewalt bejahenden„ Wertekatalog stehen. Dies ist Ausdruck von Wissensmangel und Geschichtsklitterung, um es mild zu formulieren.

Die Aufforderung zur Distanzierung vom durch Muslime ausgeübten Terror ist nur solange berechtigt, wie Muslime in Deutschland nicht als 5. Kolonne und Vertreter fremder, ausländischer Interessen verstanden werden.

Die Unschuldsvermutung muss uneingeschränkt für die Gläubigen aller abrahimitischen Religionen gelten und darf nicht selektiv angewendet werden. Dies gilt gerade heute und ausdrücklich in der Haltung zum und der Behandlung von Terrorismus jeglicher Couleur.

Die Demonstration am kommenden Sonntag, den 21.11.2004 in Köln ist richtig und begrüßenswert, aber sie sollte nicht aus einem Gefühl der „Bringschuld“ durchgeführt werden. Muslime in Deutschland haben keine Kollektivschuld auf sich geladen, weil sich eine kleine Anzahl extremistischer Muslime in ihrem mörderischem Handeln strafbar gemacht haben.

Selbst wenn die avisierten 30.000 Muslime auf die Straße gehen, werden die Islamphoben Kritiker die Aufmerksamkeit auf diejenigen lenken, die nicht an der Demonstration teilgenommen haben, um ihre abstrusen Ideen über den Islam und die Muslime zu untermauern.

Aber auch dies ist Bestandteil von Demokratie und auch dies gilt es auszuhalten, sei es durch aktive Ignorierung derartiger Positionen, in dem man ihnen keine Aufmerksamkeit schenkt, denn der Provokateur lebt von der Beachtung, oder aber im argumentativen, sachlichen Wettstreit.

Provokationen werden nicht durch Anschläge und Attentate aus der Welt geschafft und auch eine Beschäftigung mit dem Begriff der Meinungsfreiheit kann dadurch nicht erreicht werden.

Muslimisches Leben in Deutschland und in Europa muss als ein Stück Normalität wahrgenommen werden, aber dafür müssen Muslime und Nicht-Muslime gleichermaßen arbeiten. Die Abschiebungsdiskussionen und Forderungen nach Aberkennung von Staatsangehörigkeiten - die bemerkenswerter Weise nur unter Bezugnahme auf Muslime Einzug in die Diskussion finden - sind in der Gesamtdiskussion populistisch und wenig hilfreich. In einer globalisierenden Welt kann man Problemfälle nicht mehr weg-, ab- oder dauerhaft aufschieben und wegsperren.

Die Demonstration am kommenden Wochenende sollte für die Muslime in Deutschland Triebfeder sein, sich als selbstverständlicher, selbstbewusster und verantwortungsbewusster Teil europäischer Gesellschaften zu verstehen. Dies bedeutet aber auch, dass Muslime in Deutschland begreifen, dass sie an allen gesellschaftlichen Prozessen und Diskussionen aktiv teilhaben müssen, und nicht nur an den für sie spezifischen Aspekten des gesellschaftlichen Lebens.

Die muslimische Minderheit darf sich nicht nur auf Einbringungen bezüglich Kopftuch und Terrorismus begrenzen, muslimisches Denken und Leben darf nicht monothematisch reduziert werden!

Abschließend sei noch folgender Gedanke erlaubt.

Eine vernünftige Anti-Terrorpolitik, eine vernünftige Innen- und Sicherheitspolitik macht sich nicht an religiösen Befindlichkeiten fest, sie muss GERECHT und sie muss EHRLICH sein.

Gerechtigkeit und Ehrlichkeit sind Elemente, die in unserer derzeitigen politischen Kultur leider nur eine untergeordnete Rolle spielen, aber nur mit diesem politischen bzw. moralischen Instrumenten können wir das Leben in diesem Land und auch jenseits unserer Grenzen sicherer machen.


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