Artikel Sonntag, 17.03.2013 |  Drucken

"Wenn Religion lediglich auf ihre Identitätsleistung reduziert wird, wird sie entkernt, ausgehöhlt" - Interveiw mit Mouhanad Khorchide

Vor einigen Wochen interviewte Mahmut Askar (Vorstand ZMD und Generalsekretär von ATIB) für die ATIB-Zeitschrift Prof. Mouhanad Khorchide – Wir lichten hier mit freundlicher Genehmigung das gesamte Interview ab:

Mahmut Askar: Herr Prof. Mouhanad Khorchide, in Ihrem Buch (Islam ist Barmherzigkeit) kritisieren Sie die Vorgehensweise der islamischen Theologie mit Menschen in folgendem Satz: „Ein islamische Theologie, die Gott ernst nimmt, muss den Menschen ernst nehmen.“ Was meinen Sie damit? Ich bin immer davon ausgegangen, dass der Mensch im Mittelpunkt unseren Glaubens steht. Welche Rolle spielte denn der Mensch in herkömmlicher Islamtheologie?

Mouhanad Khorchide:
In ihrer Geschichte hat sich die islamische Theologie mit vielen Fragestellungen auseinandergesetzt, die weit weg von der Lebenswirklichkeit der Menschen stehen. Wie zum Beispiel die Frage nach der Schau Gottes, also ob man Gott im Jenseits sehen wird oder nicht, die Frage nach dem Umgang mit koranischen anthropomorphen Bezeichnungen, wie das Gesicht Gottes, die Hand Gottes, das Sitzen Gottes auf seinen Thron usw., soll man solche koranischen Stellen wortwörtlich oder allegorisch verstehen? Es ging so weit, dass diese Fragen entscheidend dafür waren, ob man als Muslim galt oder nicht. So eine Theologie geht am Menschen vorbei. Gott sagt im Koran in Sure 3, Vers 164, dass er den Menschen einen Propheten entsandte, um ihnen seine Worte zu verkünden, um die Menschen zu läutern und ihnen das Buch und die Weisheit zu lehren. Es geht also um das Läutern des Herzens, um die innere Vervollkommnung des Menschen, um den Charakter des Menschen und sein Handeln hier und jetzt in der Welt. Das ist es, was einen frommen Menschen ausmacht, sein reines Herz und aufrichtiges Handeln. Darüber wird aber nicht in dem Ausmaß geredet, wie der Koran dies tut.       

Mahmut Askar: Ist Ihr Buch, Islam ist Barmherzigkeit, eine Antwort denjenigen, die den Islam als kriegerische und gewalttätige Religion betrachten, oder denjenigen, die, nach Ihrer Formulierung, aus Gott nur Buchhalter und Richter machen?

Mouhanad Khorchide:
Mein Buch ist ein Angebot an beide, die Gott-Mensch-Beziehung im Islam als Liebesbeziehung zu sehen. Gott sagt im Koran, dass er nach Mitliebenden sucht, nach Menschen, die er liebt und die ihn lieben (Koran, 5:54). Gott zu lieben verwirklicht sich allerdings nicht durch ein bloßes Lippenbekenntnis, sondern durch die Liebe zu seiner Schöpfung. Ein Hadith unseres Propheten bringt es auf den Punkt: „Im Jenseits wird Gott einen Mann fragen: ›Ich war krank und du hast mich nicht besucht, ich war hungrig und du hast mir nichts zu essen gegeben, und ich war durstig und du hast mir nichts zu trinken gegeben.‹ Der Mann wird daraufhin erstaunt fragen: ›Aber du bist Gott, wie kannst du krank, durstig oder hungrig sein?!‹ Da wird ihm Gott antworten: ›Am Tag soundso war ein Bekannter von dir krank und du hast ihn nicht besucht; hättest du ihn besucht, hättest du mich dort, bei ihm, gefunden. An einem Tag war ein Bekannter von dir hungrig und du hast ihm nichts zum Essen  gegeben, und an einem Tag war ein Bekannter von dir durstig und du hast ihm nichts zum Trinken gegeben.‹“ (überliefert nach Muslim, Nr. 2569)

Mahmut Askar: Herr Khorchide, Sie haben in einem Interview mit Die Zeit (Gott ist kein Diktator, 4.Okt. 2012) gesagt: „Wir brauchen keine Aufklärung, wie wir sie aus Europa kennen. Wohl aber eine Reform, die die Mündigkeit und die Vernunft des Menschen in den Mittelpunkt stellt.“ Sie wissen auch ganz genau, wenn es von „Reform im Islam“ die Rede ist, dann wird man spontan als „Reformist“ verteufelt. Die meisten Muslime haben davor Angst, dass, der Islam im Namen der Reformierung christianisiert wird. Deshalb würde ich Sie bitten, dass Sie das Thema  für unsere Leser etwas nahebringen.

Mouhanad Khorchide: Angst hat nur derjenige, der sich seiner Sache nicht sicher ist. Überlegen Sie, warum der Koran an mehreren Stellen sogar Selbstkritik an unseren Propheten Muhammad übt. Gott hätte ihn auch nur persönlich ansprechen können. Er will uns beibringen, dass Selbstkritik notwendig ist, um nach vorne zu kommen. Der Koran kritisiert eine unhinterfragte Hinnahme von Traditionen sehr stark „Jedes Mal, wenn wir einen Gesandten vor dir zu einer Stadt entsandten, sagten die Unbekümmerten: ›Wir fanden unsere Väter auf einem Weg und wir treten in ihre Fußstapfen.‹“ (Koran, 43:23). Unser Problem heute, ist dass wir uns kaum mit dem Islam in seiner Tiefe auseinandersetzen. Die Muslime, die im Mittelalter Europa bereichert haben, waren viel offener als wir heute. Sie hatten keine Berührungsängste mit anderen Philosophien und Theologien. Sie waren viel selbstbewusster als viele von uns heute. Wer mein Buch unvoreingenommen liest, wird nur gute Absichten darin finden, auch wenn er nicht mit allem einverstanden ist. Und auf die Absicht kommt es an.  

Mahmut Askar: Prof. Oliver Roy nennt die dritte Generation  der muslimischen Einwanderer in Europa als „Entwurzelte Generation“; die mit Heimatslandkultur der Eltern keine Verbindung mehr haben. Religion ist für sie zwar eine Identität aber nicht aus religiösen Gründen, sondern aus Protest, weil die Mehrheitsgesellschaft sie ausgrenzt. Blosse, nackte Religion ohne Kultur, ohne Tradition ist doch die bevorstehende Krise der Religiösen der dritten muslimischen Generationen hierzulande. Was ist Ihr Konzept?

Mouhanad Khorchide:
Ich habe schon vor mehreren Jahren in meiner Magisterarbeit auf dieses Problem, das ich „Aushöhlung der Religion“ bezeichne, hingewiesen. Wenn Religion lediglich auf ihre Identitätsleistung reduziert wird, wird sie entkernt, ausgehöhlt. Es geht dann nicht mehr um die Beziehung zu Gott, um das Läutern des Herzens, sondern nur um die Suche nach einem „Wir-Gefühl“. Ich bezeichne solche Identitäten als Schalenidentität. Religion wird lediglich zu einer Schale, die man um sich hat, um sich eine Identität zu geben. Es ist aber nur die Schale da. Sie ist dünn und zerbrechlich, daher ist sie unsicher. Wo aber bleibt der Kern? Das Eigentliche? Und genau hier knüpfe ich an und versuche den eigentlichen Kern des Islam zu betonen: eine aufrichtige Beziehung zu Gott zu haben, die Nähe Gottes anzustreben, die Liebe zu Gott, die sich im Charakter und im Handeln des Menschen widerspiegelt. Das ist der fast verlorene Kern, den ich versuche, wiederherzustellen. Ich begegne muslimischen Jugendlichen, die stark betonen, wie wichtig der Islam für sie ist, wie stolz sie sind, Muslime zu sein, die jedoch nicht einmal wissen, wie das Gebet geht, die nie im Stillen ein Gespräch mit Gott geführt haben, nie Gott im Herzen gespürt haben. Diese Spiritualität müssen wir immer stärker betonen.      

Mahmut Askar: Es gibt ein Islam, aber unterschiedliche Muslime, wie z.B. türkische, arabische oder deutsche Muslime.  Vor paar Jahren war der Begriff „Euro-Islam“ in aller Munde. Jetzt redet man von „Deutscher Islam“, den ich nicht nachvollziehen kann. Würden Sie bitte erklären, was damit gemeint sein sollte?

Mouhanad Khorchide:
Ich verwende diese Begriffe ungern, da sie bei vielen Muslimen den Eindruck entstehen lassen, es handle sich hierbei um einen aufgesetzten Staatsislam, was keineswegs stimmt. Der Islam hat statische Elemente, wie die Glaubenssätze und die fünf Säulen des Islam, sowie ethische Prinzipien, wie Gerechtigkeit, Güte, Verantwortlichkeit usw. Diese bleiben unverändert. Es gibt aber auch dynamische Elemente im Islam, die sich an die Bedürfnisse der Menschen und den gesellschaftlichen Wandel immer neu anpassen, jedoch ohne an den Grundsätze zu rütteln. Dazu gehören Diskussionen um die Stellung der Frau, oder juristische Regelungen, vor allem bezüglich Körperstrafen. Wir wissen, dass der große Gelehrte Aschafi’i, als er vom Irak nach Ägypten auswanderte, sein Buch über das islamische Recht verworfen und neugeschrieben hat, da er sah, dass der Kontext ein anderer war. Und gerade diese Dynamik im Islam macht es möglich, ein frommer Muslim in Jakarta, aber auch in Deutschland zu sein, ohne in Konflikt mit seiner Lebenswirklichkeit oder den Grundsätzen des Islam zu geraten. Wir wollen unseren Kindern in Deutschland nicht vor die Wahl stellen, entweder Muslime oder Deutsche zu sein, daher müssen wir ihnen ein theologisches Angebot machen, das sowohl den islamischen Grundsätzen als auch der Lebenswirklichkeit unserer Jugendlichen gerecht wird, ansonsten laufen wir Gefahr, dass immer mehr Jugendliche den Islam ablehnen, weil sie in ihm womöglich eine lebensfremde Religion sehen.      

Mahmut Askar:
Haben Sie als Hochschulprofessor gegen die salafistische Bewegung unter muslimischen Migranten in Deutschland einen Vorschlag, ein Konzept? Was erwarten Sie als Hilfeleistung von muslimischen und auch von einheimischen Seiten?

Mouhanad Khorchide:
Wenn sich junge Muslime von der Mehrheitsgesellschaft abgelehnt fühlen, wenn ihnen vermittelt wird, ihr seid die anderen, also „Wir Deutsche“ und „Ihr Muslime“, dann sind sie stärker anfällig für salafistische Angebote, die wiederum betonen, „Wir Muslime sind, weil wir Muslime sind, besser als ‚die Deutschen‘, weil sie ‚Kuffar‘ (im Sinne von Ungläubigen) sind“. Die Mehrheitsgesellschaft hat daher den Auftrag, Muslimen zu vermitteln, dass es ein großes „Wir“ gibt, zu dem auch Muslime gehören. Von muslimischer Seite sollten sowohl in den Moscheen als auch im islamischen Religionsunterricht verstärkt theologische Angebote gemacht werden, die den Kern des Islam betonen, die den Menschen einladen, Gottes Liebe und Barmherzigkeit anzunehmen, indem der Mensch als Medium der Verwirklichung von Gottes Liebe und Barmherzigkeit mit Gott kooperiert und dadurch seiner Bestimmung als „Khalif“, also als verantwortungsvoller Statthalter gerecht wird. Und genau das ist das Angebot, das ich in meinem Buch versuche darzulegen. Beunruhigend finde ich, dass wir heute salafistische Rhetorik auch bei Nichtsalafisten finden. Die unsachliche Kritik der Islamischen Zeitung zum Beispiel an meinen Positionen und der krampfhafte Versuch, mich als Häretiker darzustellen und die darin vor kurzem enthaltenen Äußerungen von Herrn Avni Altiner, dass eine Theologie, die auf die Barmherzigkeit Gottes basiert, meilenweit von der Basis der Muslime entfernt sei, sind äußerst beunruhigende Entwicklungen in Deutschland, Offensichtlich wird hier nicht gewollt, dass der Islam in Verbindung mit Barmherzigkeit gebracht wird. Solche und salafistische Strömungen, die nur polarisieren, wird es immer geben, ich denke aber, dass Muslime vernünftig genug sind, um sich ein differenziertes Bild zu machen und zwischen lebensfreundlichen und lebensfeindlichen religiösen Angeboten zu unterscheiden.         

Mahmut Askar:
Manche Wissenschaftler, wie Prof. W. Heitmeyer, voraussagen turbulente Zukunft für die muslimische Minderheit in Deutschland. Wie sehen Sie die Zukunft der Muslime hierzulande voraus?

Mouhanad Khorchide:
Die Muslime sind hauptsächlich als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Arbeitermigration bringt in der Regel einige soziale Herausforderungen mit sich. Das Problem, das wir heute haben, ist die Vermischung von sozialen und religiösen Kategorien. Soziale Probleme werden als religiöse gesehen. Sie werden „islamisiert“. Die Kategorie „Muslimsein“ wird als Erklärungsmuster für soziale Defizite gesehen. Dies geht allerdings an der Wirklichkeit vorbei. Soziale Probleme benötigen soziale Maßnahmen und keine theologischen. Wenn wir uns die empirischen Daten anschauen, dann sehen wir, dass Muslime es heute inzwischen in die Mittelschicht geschafft haben. Wir haben in Deutschland nicht nur muslimische Sportler und Künstler, es sind auch viele muslimische Akademiker, Anwälte, Ärzte, Ingenieure usw. unter uns, die die Gesellschaft stark bereichern. Und übrigens, es sind sogar mehr weibliche als männliche Muslime an den Hochschulen. Über diese positiven Entwicklungen wird leider kaum gesprochen. Durch diesen Aufstieg der Muslime kommen sie langsam raus aus dem Rechtsfertigungseck und fangen an, die Frage an sich zu stellen: Und wie können wir diese Gesellschaft bereichern, wie einst im neunten, zehnten elften und zwölften Jahrhundert?



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