Newsnational Mittwoch, 27.06.2012 |  Drucken

Islam ohne Seele oder alles nur PR?

Warum die Debatte zwischen "liberalen" und  "konservativen" Islam eine Scheindebatte ist - Ein Essay von Muhammad Sameer Murtaza

So mancher Muslim wird seine Religion seit geraumer Zeit in einem permanenten Belagerungszustand empfinden. Das Belagerungsgerät ist die Identitätsfrage. Stets muss er rechtfertigen, verteidigen, sich distanzieren. Das Ergebnis ist eine Selbstbeschreibung des Muslimsein, die sich anhand von negativen Abgrenzungen festmacht. Ein solches Selbstverständnis ist aber nur noch Schale ohne Kern. Wie ertastet man sich also einen Weg aus dem Nebel der abgrenzenden Identitätsfrage? Wie gelangen Muslime zu einer positiven Beschreibung des Muslimsein, gleichgültig vom Heil der öffentlichen Meinung?

Manche Muslime wähnen, dass es am besten wäre, sich erst gar nicht an der gesellschaftlichen Diskussion um den Islam und die Muslime in Deutschland zu beteiligen. Sie plädieren für einen Rückzug in eine Festung ohne zu erkennen, dass die Mauern Jerichos fallen werden, Europa verändert die hiesigen Muslime und das Verständnis vom Islam, wie auch die hiesigen Muslime Europa verändern. Die Debatten unserer Zeit und ihr Ausgang werden über das Morgen des Islam im Abendland entscheiden. Deshalb kann Festungsdenken keine Lösung sein.
Ebenso wenig dürfen Muslime nur Mitläufer dieses Diskurses sein. Schon gar nicht missionarische Zeloten, die jede auch noch so berechtigter Kritik abwehren und einen selbstgerechten, rechthaberischen, apologetischen Ton anklingen lassen. In den Diskursen, in denen es um die Muslime geht, müssen diese auch die wirklichen Steuermänner jener Debatten sein. In diesen stürmischen und sicherlich auch kräftezehrenden Diskussionen müssen sie darauf achten, dass sich ihr inhaltlicher Kurs an den Prinzipien der Wahrheit und Gerechtigkeit orientiert, damit sie nicht im Sturm medialer Aufmerksamkeit hinweg gespült werden. Fallen sie von Bord, werden sie zu merkwürdig anmutenden Alleinunterhaltern, die nur noch für sich sprechen, ohne Verbindung in die muslimische Community.

Wer mediale Selbstbestätigung sucht, gerät eines Tages bewusst-unbewusst in die selbstzerstörerische Situation, der Aufmerksamkeit willen entsprechend verzehrende Nachrichten und Pressemitteilungen zu fabrizieren, fernab jeglicher Realität. Und noch eines sollte beachtet werden, wo man mit Dummheit konfrontiert wird, ist auch maßvolle Härte im Diskurs notwendig. Mit diesen Vorgedanken möchte der Autor dieses Essays seine Kritik an dem Dualismus "konservativer" und "liberaler" Islam formulieren. Beides sind Kreidestriche, die jemand hin gemalt hat und die Muslime nun auffordert, sie als Realität zu akzeptieren. Dabei sollten Muslime, wenn sie Steuermänner solcher Debatte werden wollen, diese Manöver durchschauen, statt sie endlos fortzusetzen. Sie sollten sich die Freiheit nehmen, diese Kreidestriche wegzuwischen und Scheindebatten als solches zu benennen.

Inmitten des babylonischen Sprachgewirrs, wenn es um den Islam geht, fand nun eine schlichte und simple Unterteilung in liberal und konservativ statt. Sie funktioniert von ihrem Prinzip her genauso effizient wie jedes Schwarz-Weiß- oder Feindbild-Denken. Stereotypen wurden geschaffen, auf der einen Seite die "Liberalen", die sich durch eine liberal-theologische Herangehensweise an die islamischen Quellen auszeichnen[1], und auf der anderen Seite die "Konservativen", die geprägt sind von „einem diffusen, (…) theologischen Halbwissen gezeichneten Bild von Religion, das sich vorwiegend auf die Vorstellungen der eigenen Familien gründet und an die Traditionen aus deren Herkunftsländern anknüpft“[2], so z.B. Lamya Kaddor. Die "Konservativen" wurden mit einem Male zu einem gesellschaftlichen Problemfall, das nur von der freiheitlichen nichtmuslimischen Teilgesellschaft und den freiheitlichen "liberalen" Muslimen gemeinsam angegangen werden konnte. Damit war das Blockdenken etabliert und die muslimische Community vollends polarisiert. So äußerte die Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes Kaddor  ihre große Sorge, dass in dem achtköpfigen Beirat für den islamischen Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen zwar die vier großen Islamverbände vertreten seien, aber diese würden die „Gläubigen auch nicht auf den anstrengenden Weg der Veränderung und der Selbstkritik führen wollen.“[3] Damit setzte der Liberal-Islamische Bund seine politische Agenda in Kraft, einen eigenen Sitz im Beirat zu beanspruchen – woran man später scheiterte.

Das Medienecho war gross. Es war, als hätte man nur auf eine solche muslimische Stimme gewartet, die endlich das aussprach, was man sowieso schon über die hiesigen Muslime dachte. Man konnte also aufatmen. Niemand fiel dabei auf, dass Lamya Kaddor an keiner einzigen Stelle definierte, was eigentlich ein "liberaler" oder "konservativer" Islam ist. Was genau ein "liberaler" und was ist ein "konservativer" Muslim ist? Auf welchem Weg die Pädagogin das schwierige Unterfangen angehen möchte, die Muslime zu "liberalen" Muslimen zu erziehen? Wie die Realisierung eines "liberalen" Islam aussieht? Oder was die empirischen Grundlage von Frau Kaddors These ist, dass die jungen Muslime zunehmend einem "konservativen" Islamverständnis folgen? Niemandem fiel dies auf? Doch, einzig die Islamische Zeitung[4] stellte hartnäckig diese Fragen. So auch in Brühl, aber Antworten gab es keine. Dies berechtigt aber umso mehr Sulaiman Wilms Frage, ob ein Muslim liberal beten oder fasten könne. Der Bündnis 90/Die Grünen-Politiker Ali Baş hat in seinem Beitrag Liberal-Konservativ-Plakativ: Muslime à la Carte auf Migazin auf den Punkt genau beschrieben, dass in der muslimischen Community die wenigsten bereit sind, Lamya Kaddors politische Denkschablone auf sich zu übertragen.[5] Bis heute ist kein einziger Muslim aufgestanden, um einen "konservativen" Islam zu verteidigen oder sich zu einem solchen zu bekennen.

Solange z.B. der Liberal-Islamische Bund seine eigenen Grundbegriffe nicht definiert, bleiben sie imaginäre Bilder, unter denen sich jeder etwas anderes vorstellen kann. Da hilft es auch nicht, dass Frau Kaddor nun in Brühl offenbarte, das sie zu jenen in ihrem Verband gehörte, die den Begriff "liberal" ursprünglich nicht befürwortete. Allerdings war es aber gerade sie, die ihn so leidenschaftlich, so polarisierend einsetzte.

Dass es auch hätte anders geschehen können, nämlich geerdeter, zeigte die Journalistin und Mitglied des Liberal-Islamischen Bundes Hilal Sezgin in ihrem Artikel Muslime für die Homoehe als sie schrieb: „Wir sind nicht “die besseren" Muslime. Wir sind einfach noch mal eine in manchen Hinsichten andere Spielart, die sich mit demselben Recht zusammenschließen darf, wie die "bewahrenden" Muslime (…).“[6] Dies ist natürlich ein ganz anderer Ton, der viel eher zu einem vermittelnden Gespräch einlädt. Stattdessen schraubte Frau Kaddor ihre Kampfrhetorik nochmals hoch, indem sie "konservative" Muslime mit Fundamentalisten nahezu gleich setzte und alarmistische Töne anschlug als sie schrieb: „Insbesondere aus dem Kreis der Fundamentalisten und Konservativen treten nun einige dafür ein, ihr Verständnis von der Scharia zum allgemein gültigen in der und für die Gesellschaft zu machen. Diese Leute betreiben Islamismus. Sie wollen die Gesellschaft ihren Regeln unterwerfen. Einige agitieren in Wort und Schrift, andere greifen zur Gewalt.“[7]

Und wieder fragt sich der Leser, wen meint Frau Kaddor eigentlich? Welche Gewaltakte wurden in Deutschland begangen, um die Scharia durchzusetzen? Bisher dienen diese Begriffe lediglich der Abgrenzung, ohne eigene Inhalte oder Gegenentwürfe zu präsentieren. So verwundert es nicht, dass der Liberal-Islamische Bund bis zum 12. Mai davon abgesehen hatte, sich an einem innerislamischen Dialog zu beteiligen, sondern er blieb einem Dialog mit den Mainstream-Medien über die muslimische Community verhaftet.

In klaren Worten erklärte daher Aiman Mazyek, dass das reale muslimische Leben in den Moscheegemeinden stattfinde und nicht in den Feuilletons großer Zeitungen. Dafür erntete er vom Publikum viel Applaus. Und auch Sulaiman Wilms kritisierte, dass der Liberal-Islamische Bund seit seinem Bestehen keine Pressemitteilung oder Einladungen zu Veranstaltungen an die Community weitergegeben habe, um den Dialog mit der eigenen Glaubensgemeinschaft zu suchen. Ein Umstand, den bereits Sakine Subaşı-Piltz in ihrem Beitrag Intersections unter Muslimen beschrieben hatte: „Die Diskussionen bei Facebook drehen sich mittlerweile im Kreis, auch weil sich die Vorsitzende in diesem Fall nicht äußert und andere Mitglieder des LIB in den Kritiken sich lediglich persönlich gekränkt fühlen. Dabei wollte sie mit ihrem Verein laut ihrer Homepage sogar eine „innerislamische Diskussion“ anstoßen, die ihnen jetzt aber nicht zu passen scheint.“[8]





Heute liberal, morgen schon wieder zu konservativ ...

Ein weitere Schwierigkeit beim Agieren mit undefinierten Begriffen ist, dass, wer sich heute noch als liberal bezeichnet, morgen durch einen viel liberaleren Islam bereits schon wieder konservativ sein kann. In Brühl wurde dies bei einem vorangegangenen Themenblock deutlich, als ein Vertreter des liberalen Islam die Frage aufwarf, ob Muslime eigentlich Prachtmoscheen oder Verbandsmoscheen bräuchten, schließlich könnten Muslime doch überall beten und jeder mündige Muslim könne Imam sein. Soll dies ein "liberales" Plädoyer sein, dass Muslime eigentlich keine Moscheen, keine theologischen Lehrstühle und keine Religionsgelehrten brauchen? Dies hört jeder Islamophobe gerne.

Derweil gehen die Vorschläge hinsichtlich eines neuen Islam auf Facebook noch viel weiter. So postete kürzlich ein Mitgliedsanwärter des Liberal-Islamischen Bundes den Vorschlag, die "orthodoxe" Schahada (Glaubensbekenntnis) abzuändern, indem man den zweiten Teil des Bekenntnisses, dass Muhammad der Gesandte Gottes sei, wegfallen lässt. Das muslimische Glaubensbekenntnis würde dem Qur’an widersprechen, es würde Muhammad gegenüber den anderen qur’anischen Propheten bevorzugen und Schuld daran sein, dass man Muslime Mohammedaner nenne. Auch Lamya Kaddor sprach in Brühl beiläufig davon, dass man die ibadat (gottesdienstlichen Handlungen) erst einmal stehen lassen wolle. Erst auf hartnäckiges Nachfragen des Autors, ob der Liberal-Islamische Bund plane die Säulen des Islam einzureißen, relativierte deren Vorsitzende ihre vorherige Aussage, natürlich wolle man das Gebet und das Fasten nicht abschaffen. Der Liberal-Islamische Bund bekennt sich in seinem Positionspapier zur islamischen Spiritualität und Ethik.[11] Aber die prophetisch-semitischen Religionen bestehen auch aus Ritus und Normen.

Es ist auffällig, dass Vertreter des undefinierten "liberalen" Islam diese Dimension der Religion stets ausblenden oder zugunsten einer Verinnerlichung von Religion in seiner Bedeutung relativieren. Diese neue Lehre deutet auf eine pietistische Privatisierung des Islam hin. Dieser Islam bedarf keiner Moscheen, keiner Gemeinschaftsstrukturen, ersetzt den Ritus durch Innerlichkeit und relativiert oder hebt religiöse Normen wie z. B. die Ehe zugunsten der individuellen Freiheit auf. De facto wird damit aber der Archetyp Abraham ersetzt durch den neuzeitlichen Individualismus.



Die Antwort hermeneutischer Prinzipien einer neuen Qur’anauslegung des modernen liberalen islamisches Verständnis bleibt bei näherem Betrachten weiter offen

Wer islamische Theologie (kalam), Rechtswissenschaft (fiqh) oder Philosophie (falsafa) studiert, lernt anhand der Beispiele islamischer Schulen, Strömungen und Sekten, dass ein Gelehrter versuchen muss abzusehen, welche Tragweite und Folgeerscheinungen seine Entscheidungen für die Gemeinschaft haben werden. Der Liberal-Islamische Bund erklärt in seinem Positionspapier zu Diversität der Geschlechter, geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen im Zuge einer dogmatisch freieren Qur’anauslegung zu einem modernen liberalen islamischen Verständnis von Sexualität gelangen zu wollen.[12] Doch was die hermeneutischen Prinzipien einer solchen neuen Qur’anauslegung sind, bleibt im Dunkel. Und selbst in einem Papier, in dem man Position beziehen will, bleibt unklar, was ein modernes liberales islamisches Verständnis von Sexualität eigentlich sein soll. Hilal Sezgin fand in ihrem oben genannten Beitrag klarere Worte, wenn sie schreibt, dass damit nichteheliche und homosexuelle Partnerschaften gemeint seien.[13]

Auf Nachfrage des Autors in Brühl bestätigte Frau Kaddor, dass ihr Verein nichteheliche Partnerschaften als islamkonform betrachte. Damit begeben wir uns auf die Ebene der islamischen Rechtswissenschaft und es stellen sich die Fragen: Auf welcher religiösen Grundlage beruht diese Entscheidung? Wer im Liberal-Islamischen Bund ist qualifiziert, ein solches Rechtsgutachten für die Muslime zu verfassen? Immerhin darf man nicht vergessen: eine theologische Reflexion über religiöse Texte ist qualitativ etwas anderes als eine intellektuelle Beschäftigung mit ihnen. Wie sind also die Folgen einer Relativierung der Ehe zu verantworten? Sind eheliche Treue und sexuelle Promiskuität religiös im gleichen Maße zu rechtfertigen? Was berechtigt die Erosion des Fundamentes der muslimischen Familie? Welche Folgen hat dies für muslimische Kinder? Zu Ende gedacht, erklärt Frau Kaddor damit selbst den Swingerclub für halal (erlaubt). Die Grundlage für all dies ist aber nicht der Qur’an, sondern ein von jeglicher sozialen Verantwortung gelöstes Freiheitsverständnis. Dies lässt sich aber nicht mit dem Qur’an vereinbaren. Die Ehe im Islam ist, so schreibt sogar der christliche Theologe Hans Küng, „Lebensgemeinschaft zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern. Die Bindung von Mann und Frau ist ein Zeichen Gottes in seiner Schöpfung (…). Ein (…) [weiterer] Hauptzweck der Ehe ist angesichts der weitverbreiteten Promiskuität die Befriedigung, Institutionalisierung und Regulierung des Geschlechtsverkehrs.“[14]  

Ein Islamverständnis, das nur die individuelle Verantwortung des Gläubigen hervorhebt[15], betreibt die Auflösung des soziokulturellen Koordinatennetzes der muslimischen Gemeinschaft. All dies dient aber nur der sozialen Verwüstung. Wie kann es sein, dass Lamya Kaddor dieses übersieht? Weil der Liberal-Islamische Bund keine theologische Auseinandersetzung mit dem Islam betreibt. Weder Frau Kaddor noch Rabeya Müller haben kalam oder fiqh studiert. Dennoch treten beide gerne als Theologinnen auf ohne theologische Standards einzuhalten. Kaddor wie Müller sind ebenso wenig Theologen wie Metin Kaplan Kalif der Muslime war. Aktueller denn je, sind da die Worte Imam Malik ibn Anas, dass diese Religion eine Wissenschaft ist, und man also ein Auge auf jene haben soll, von der man sie hat. Gerade die Podiumsdiskussion in Brühl gab Einblick, was Frau Kaddor unter Qualifikation versteht, als sie äußerte, man könne Muslimen nicht zumuten, die arabische Sprache zu beherrschen, um die islamischen Quellen auszulegen.

Worauf Aiman Mazyek stringent erwiderte, dass jeder, der islamische Theologie betreibe – gleich von welchem Ansatz her – sich mit dem arabischen Qur’an und den Werken der Gelehrten, die nun einmal größtenteils auf Arabisch verfasst worden sind, auseinander setzen müsse. Das Erlernen der arabischen Sprache sei die mindeste, was man einem Theologen zumuten müsse. Dafür erhielt Mazyek schließlich donnernden Applaus von einem Publikum, das eben nicht als konservativ bezeichnet werden kann.   Während der Diskussion mit dem Publikum beim Zukunftsforum Islam gab der oben erwähnte Vertreter des liberalen Islam einen tiefgründigen Einblick, was es wohl bedeutet, ein "liberaler" Muslim zu sein. So unterschied er zwei Arten von Muslimsein, den Credo-Muslim und den Orthopraxie-Muslim. Als "liberaler" Muslim sei er dem Credo – im Übrigen ein christlicher Begriff – verpflichtet. Hier wird der Islam zerlegt in eine atomisierte Dualität von Glaube und Werk, was eine innere Säkularisierung des Muslims nach sich zieht. Aus diesem Denken heraus erklärt sich auch die Abwertung der muslimischen Gemeinschaftsstrukturen. Es ist eine gewollte Auflösung der muslimischen Gemeinde, die auf lange Sicht ein Verkümmern des gelebten Islam und schließlich auf ein Abschied nehmen von Gott hinausläuft.

Doch der Islam ist gerade die Synthese von Glaube und Werk, beides ist nicht voneinander zu trennen. Erst durch die Handlung geschieht das, wozu der Glaube auffordert. Durch die Tat, nicht durch das Theoretisieren, erfährt der Gläubige eine innere Gewissheit, dass es richtig war, dass Wagnis des Glaubens einzugehen. Die Propheten waren keine Theoretiker, sondern lebten den Glauben und machten ihn sichtbar. Imam Al-Ghazali definierte daher den Glauben (iman) als Bekenntnis mit der Zunge, Bestätigung im Herzen und Verhalten entsprechend den Grundsätzen.16] Während Imam Al-Hasan Al-Basri lehrte, dass Gott am Jüngsten Tag zu den Menschen sagen wird, sie sollen durch Seine Gnade in das Paradies eingehen und dieses dann gemäß ihrer Taten unter sich aufteilen.[17] Wer aber nach dem Paradies ohne rechtschaffenes Handeln strebe, der begehe eine Sünde.[18]

Wenn wir den Islam abstrahieren, dann begeben wir uns in das Land der Kimmerier, wo keine Sonne hinkommt, neben dem Land der Toten. Dort graben wir nur noch im Gedächtnis und glauben, dass ein blutleerer Islam Leben und Tiefe bedeute. Doch gelebter Glauben ist etwas anderes. Das, was Gott gebunden hat, kann der Mensch nicht lösen, um den jüdischen Gelehrten Moses Mendelssohn zu paraphrasieren.[19] Es ist die ganzheitliche Sicht des Islam, die ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zur platonisch-christlichen Zweiweltenlehre mitsamt der Zweiheit darstellt, die sie in den Glauben bringt. Kritisch muss daher gefragt werden, welche Art von Theologie der Liberal-Islamische Bund und der Verband Demokratisch-Europäischer Muslime betreiben wollen. Geht es hier vielleicht nur darum, besondere Lebensentwürfe zu rechtfertigen, indem man ihnen ein theologisches Label überstülpt? Oder haben wir es mit einer bewussten Verchristlichung des Islam zu tun?

Ist den Vertretern des "liberalen" Islam überhaupt bewusst, dass sie theologisch Monotheisten, aber philosophisch Dualisten sind? Dass dies intellektuelle Spielereien sind, fernab jeglichen wissenschaftlichen Niveaus, darüber sind sich die Mehrheit der Muslime vollends bewusst. Verwundert es daher, dass es derzeit keine Mehrheit für den undefinierten "liberalen" Islam gibt? Vertreter des Liberal-islamischen Bundes beanspruchen daher, die "schweigende Mehrheit" der Muslime zu vertreten. Abgesehen von dieser überzogenen Bevormundung leidet dieser imaginäre Geniestreich an einem schweren Geburtsfehler. Mit dem Liberal-Islamischen Bund ist für diese "schweigende Mehrheit" eine Organisation gegründet worden, doch die Mitgliederzahl beschränkt sich nach Medienberichten auf lediglich 100 Mitglieder, von denen nicht einmal alle Muslime sind. Folglich ist er überhaupt nicht in der muslimischen Community verankert und eignet sich daher nicht, um Moschee-Verbände zu delegitimieren und sich als alternative Interessensvertretung zu präsentieren. Was ist also die Existenzberechtigung dieser ganzen Debatte?

Solange der Liberal-Islamische Bund nicht in der Lage ist, Begriffe zu definieren, Inhalte zu formulieren und ein strukturelles Angebot herzustellen, ist auch keine weiterführende inhaltliche Debatte möglich. Dass ständige Aufwärmen von Schlagwörtern befeuert nur islamophobe Stereotypen, die Frau Kaddor teilweise selber übernimmt und auf die muslimische Community überträgt. Doch auf diese Weise verursacht sie eher ein Stirnrunzeln bei jenen, mit denen sie ursprünglich doch ins Gespräch kommen wollte. Aber ging es denn überhaupt jemals um einen solchen Dialog? Oder ging es eigentlich von Anfang an um den Religionsunterricht in Nordrhein-Westfalen? Für die neuen theologischen Lehrstühle und den islamischen Religionsunterricht werden in den nächsten Jahren finanzielle Ressourcen bereitgestellt. Es geht um Einfluss, Geld, Stellen und berufliche Perspektiven. Anscheinend rechtfertigt dies bei einigen, auf der Klaviatur des Alarmismus einige Töne mitzuspielen und unbedachte pseudo-theologische Schnellschüsse abzufeuern. In Debatten die Führung zu ergreifen, bedeutet auch, souverän Scheindebatten und Profilierungsversuche zu durchschauen, zu thematisieren und zur Seite zu schieben. Dies erfordert den Mut auch gegenüber der öffentlichen Meinung unzeitgemäß zu sein und stattdessen neue Diskurse anzustoßen.

Welchen Themen sollten Muslime sich aber zuwenden, wenn sie die Wolken der Identitätsfrage verlassen? Wir leben in einer Zeit der Krise. Wir sind konfrontiert mit einer Wirtschaftskrise, der Verknappung der Rohstoffe und der Klimaerwärmung. Diese Krisen bedrohen den Lebensstandart, an den sich die Menschen in Europa gewöhnt haben. Was Politik bisher nicht zu sagen wagt, ist die Tatsache, dass die Erfahrung früherer Generationen, dass es uns ständig besser gehen wird, kein Dauerzustand sein kann. Mit der Ausbeutung unserer Welt müssen wir auch akzeptieren lernen, dass der permanente Mangel eine Begleiterscheinung unseres Lebens sein wird. Diese Krise ist eine Herausforderung, denn es fordert eine neue Art des Wirtschaftens, des Miteinanders und des Selbstverständnisses. Bisher definierten sich zu viele Menschen zu sehr über den Konsum. Aber die Erfahrung von Mangel wird deutlich machen, dass hinter dem Menschsein mehr stecken muss, als nur viel zu haben und viel zu verbrauchen. Im Kern geht es hier um die Lebensqualität. Wie können wir nachhaltig wirtschaften? Wie können wir im Einklang mit der Schöpfung leben und zugleich ein beruhigendes Maß an wirtschaftlicher Sicherheit erlangen? Wie können wir ein Höchstmaß an Individualität leben, ohne die Bande der Gemeinschaft zu zerschneiden? Wie können wir unabhängig vom Wirtschaftswachstum zu einem inneren Wohlbefinden gelangen? Dies sind die relevanten Fragen für das Morgen. Hierbei geht es nicht um Schöngeisterei, sondern ganz konkret um die soziale gebende Seite der Religion.


Zum Autor: Muhammad Sameer Murtaza M.A. ist Islamwissenschaftler. Für den Zentralrat der Muslime leitet er das Projekt Das Grundgesetz im (Migrations)-Vordergrund. Kürzlich erschien sein Buch Islamische Philosophie und die Gegenwartsprobleme der Muslime. Reflexionen zu dem Philosophen Jamal Al-Din Al-Afghani.




Quellen





[1] Vgl. Liberal-Islamischer Bund (o. J.): Positionspapier des Liberal-Islamischen Bundes e.V. zum Thema „Was ist ein liberales Islamverständnis?“. Internet: http://www.lib-ev.de/pdf/Positionspapier_Liberaler_Islam.pdf (25.06.2012).



[2] Kaddor, Lamya (2011): Muslimisch, jung, konservativ. Internet: http://www.sueddeutsche.de/karriere/islamischer-religionsunterricht-in-nrw-muslimisch-jung-konservativ-1.1129037 (10.06.2012).



[3] Kaddor, Lamya (2011): Muslimisch, jung, konservativ. Internet: http://www.sueddeutsche.de/karriere/islamischer-religionsunterricht-in-nrw-muslimisch-jung-konservativ-1.1129037 (10.06.2012).



[4] Vgl. Wilms, Sulaiman (2011): Liberales Störfeuer – Lamya Kaddor beklagt mangelnde Freiheit, kann sie anderen aber nicht zugestehen. Einige notwendige Anmerkungen. Internet: http://www.islamische-zeitung.de/?id=14968 (10.06.2011)



[5] Vgl. Baş, Ali (2011): Liberal-Konservativ-Plakativ: Muslime à la Carte. Internet: http://www.migazin.de/2011/08/24/liberal-konservativ-plakativ-muslime-a-la-carte/ (10.06.2012).



[6] Sezgin, Hilal (2011): Muslime für die Homoehe. Internet: http://www.taz.de/!76794/ (10.06.2012).



[7] Kaddor, Lamya (2012): Und ewig schreckt die Scharia… Internet: http://www.migazin.de/2012/04/20/und-ewig-schreckt-die-scharia/ (24.06.2012).



[8] Subaşı-Piltz, Sakine (2011): Intersecions unter Muslimen. Internet: http://www.gazelle-magazin.de/2011/08/25/intersections-unter-muslimen/ (10.06.2012).



[11] Vgl. Liberal-Islamischer Bund (o. J.): Positionspapier des Liberal-Islamischen Bundes e.V. zum Thema „Was ist ein liberales Islamverständnis?“. Internet: http://www.lib-ev.de/pdf/Positionspapier_Liberaler_Islam.pdf (25.06.2012).



[12] Vgl. Liberal-Islamischer Bund (o. J.): Entwurf für das Positionspapier des Liberal-Islamischen Bundes e. V. zum Thema „Diversität der Geschlechter, geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen“. Internet: http://www.lib-ev.de/pdf/Positionspapier_Gender.pdf (25.06.2012).


[13] Sezgin, Hilal (2011): Muslime für die Homoehe. Internet: http://www.taz.de/!76794/ (10.06.2012).



[14] Küng, Hans (2007): Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. München: 203.


[15] Vgl. Liberal-Islamischer Bund (o. J.): Positionspapier des Liberal-Islamischen Bundes e.V. zum Thema „Was ist ein liberales Islamverständnis?“. Internet: http://www.lib-ev.de/pdf/Positionspapier_Liberaler_Islam.pdf (25.06.2012).



[16] Vgl. Mendelssohn, Moses (2005): Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Hamburg: 136.    


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