Leserbriefe Sonntag, 18.11.2001 |  Drucken

Leserbriefe



Jan schrieb:



Liebe Grit.

Du fragst nach Deinen Grundrechten, Deinen Menschenrechten. Und Du fragst danach, ob (und weshalb) andere Religionen eine panische Angst vor der Ausbreitung des Islam hätten.

Nun, für mich hängen beide Fragen zusammen. Ich gebe zu: Ja, ich habe Angst vor der Ausbreitung des Islam, wenngleich meine Angst weder panisch noch religiös motiviert ist. Diese Angst verführt mich nicht dazu, Religionsverbote aussprechen zu wollen oder die möglichst viele Muslime ausgewiesen sehen zu wollen. Dennoch ist sie vorhanden, und ich will - so kurz wie möglich - schildern, weshalb ich sie empfinde.

Ich kam vor einiger Zeit dazu, mich etwas näher mit dem islamischen Familien- und Erbrecht auseinander zu setzen, woraus auch eine gewisse Neugier entstand, mehr über den Islam zu erfahren, ihn näher kennenzulernen. Nach der Lektüre von einigen wissenschaftlichen Büchern lese ich im Moment den Koran - allerdings auf deutsch. Diese Auseinandersetzung habe ich stets mit akademischen Interesse geführt; ich war und bin nicht auf der Suche nach einer neuen Religion.

Für mich verband sich dieses - bescheidene - Studium des Islam mit der Erkenntnis, daß der Islam für viele Menschen ein Weg ist, glücklich zu werden. Ich schreibe dies voller Respekt für den Islam und ich bitte die Leser auch darum, dies im Hinterkopf zu behalten und meine gegebenenfalls unliebsamen Überlegungen, die gleich folgen werden, immer unter dem Aspekt zu lesen, daß wenn ich die "Andersartigkeit" des Islam betone, damit keinerlei Wertung verbinde.

1. Die Menschenrechte

islam.de sagt (in den FAQ), der Islam kenne Menschenrechte. Damit gemeint sind bestimmte Recht für bestimmte Gruppen wie Männer, Frauen, Andersgläubige, die von sämtlichst von Gott gegeben worden. Auch das steht auch islam.de. (Was dort nicht steht, ist der überaus interessante Unterschied zwischen Haq Allah und Haq adami. bzw. deren Verhältnis zueinander.)
"Menschenrechte" meint freilich ohnehin etwas anderes, und das Wort sagt es schon, nämlich daß alle Menschen aufgrund ihres Mensch-Seins gleiche Rechte innehaben. Nötig geworden sind sie durch die Erkenntnis, daß Gott als Begründung für menschliche Herrschaft und menschliche Rechte ausgedient hat.
Da ist weder Platz für Differenzierungen innerhalb der Menschen noch für Gott. (Ironischerweise darf die westliche Welt dem Islam dafür danken, hat er doch Europa mit seinem griechischen Erbe wieder vertraut gemacht.) Ich will, und ich möchte das nochmal betonen, damit keine Wertungen vornehmen, ich will nur darauf hinaus, daß selbst dann, wenn im Islam und im Westen bestimmte Werte materiell gleich sind, sie gleichwohl eine völlig andere Herleitung haben.

Eine gleichartige Asymmetrie besteht nun auch bei der Begründung der Religionsfreiheit. Die westliche Religionsfreiheit entstammt ursprünglich der Überzeugung, daß es eine einzige, allumfassend glücklich-machende Religion (bzw. Konfession) nicht gibt. Ihr zugrunde liegt die Hoffnung, Krieg und Streitereien - vor allem innerhalb des Christentums - zu beenden. Voraussetzung und Ergebnis einer solchen Religionsfreiheit ist die wesensmäßige Trennung von Religion und Gesellschaft. Die westliche Religionsfreiheit kann nicht ohne Säkularisation gedacht werden, und niemand wird dies ernstlich bestreiten wollen.

Die islamische Religionsfreiheit hingegen ist, wie alle islamischen Menschenrechte, ein religiöses Gebot. Sie ist zu denken in einer islamischen - und damit eben nicht säkularisierten - Gesellschaft. Nicht von ungefähr war der Islam deshalb auch in Zeiten der Dominanz immer am tolerantesten. Und nicht von ungefähr bieten sich in einer globalisierten Welt dadurch Anknüpfungspunkte für den islamischen Fundamentalismus, aber das soll hier nicht das Thema sein.

2. Selbstbild und Bild der Anderen

a. Religion des Friedens

Die Äußerungen hier im Forum zeigen es: Der Islam ist die friedlichste aller Religionen. Nun käme jedoch ein Nicht-Moslem niemals auf den Gedanken, derartiges zu behaupten. (Ich persönlich halte - wenn überhaupt - den Buddhismus für eine solche Bezeichnung geeignet, und weitgehend auch das heutige Christentum, ganz einfach weil ihm aufgrund der Säkularisation die Macht zum Führen von Kriegen fehlt.) Die entscheidende Frage aber ist: Woran liegt das? Bassam Tibi, ein gläubiger Moslem, begründet das - wie ich finde sehr einleuchtend - mit der unterschiedlichen Bedeutung von Begriffen. Einige Stimmen in diesem Forum begründen das in teilweise sehr unfriedlicher und kontraproduktiver Manier mit der "Ignoranz" der Ungläubigen, mit dem Nicht-Wissen und Nicht-Wissen-Wollen.

b. Die "Andersartigkeit"

Egal ob westlicher Mensch oder Moslem: Wir können feststellen, wann ein Mensch "anders" ist. Wir können es sogar sehr leicht feststellen. Unsere Augen, unsere Ohren, unser soziales Empfinden und vielleicht sogar unsere Finger sagen es uns. Vor einem halben Jahr war ich in Vietnam. Selbst erwachsene Männer stellten sich neben mich, um zu sehen, ob ich wirklich so groß bin (2 Meter), Kinder haben oft meine blonden Haaren an dem Armen angefaßt, natürlich habe ich mich anders als ein Vietnamese bewegt und verhalten. Ähnliches findet auch hier in Deutschland statt: Wenn ich einem türkischen Ehepaar beim Einkaufen begegne, erkenne ich automatisch und ohne es wollen zu müssen, daß dieses Ehepaar "anders" ist. Sollte ich jemals in ein islamisches Land reisen, werden die Leute dort mich auch leicht als "anders" erkennen. In diesem Erkennen verbirgt sich eine Gefahr: Während der "andere" als Einzelner, als vorüberziehende Erscheinung, die Neugier weckt, weckt das bleibende, das permanente und gehäufte "andere" die Angst. Angst ist ein Gefühl und als solches selbst dann berechtigt, wenn sie rational grundlos ist (Als Beispiel: Die Angst vor einem bellend auf Dich zurasenden, großen Hund entsteht auch dann, wenn der Hund in Wirklichkeit auf eine Katze hinter Dir zurast. Es reicht, daß Du glaubst, der Hund will Dich angreifen). U.a. daher ist auch das Kopftuch so ein Reizpunkt, weil sich an ihm eben diese Andersartigkeit kristalisiert. (Inwieweit das Kopftuch nicht vielleicht noch eine andere Symbolik enthält, ist wiederum ein anderes Thema. Aus westlicher bzw. deutscher Sicht ist es zumindest problematischer, als ein Moslem sich das vorstellen kann, ganz einfach weil er es - s.o. - anders empfindet.)

c. Kollision im Alltag

Es ist ein bedauerlicher Zustand, in dem viele moslemische Jugendliche in Deutschland aufwachsen müssen: Auf der einer Seite sind sie mit einer deutschen Gesellschaft konfrontiert, die außer Döner, Frauen mit Kopftüchern und bärtigen Männern mit Gewehren nichts von islamischer Kultur kenngelernt haben und von der sie mehr oder minder abgelehnt werden. Auf der anderen Seite bringen sie leider meistens nicht die Werkzeuge mit, um besser angenommen werden zu können. Aufgrund anderer Erziehung zeigen sie ein anderes Verhalten, was Mißtrauen und Angst (wiederum: s.o.) erweckt. Beide Seiten wissen es nicht besser.
Ich kenne auch viele andere, teilweise bewundernswerte, Beispiele. In Schule und Studium habe ich genug - gerade türkische - junge Männer und Frauen kennengelernt, die es "geschafft" haben, die etwas erreicht haben, was ich mir niemals zutrauen würde: Den Sprung in eine andere Kultur. Allerdings, und das sehe ich sehr kritisch, weil ich Angst um die Folgen habe, ohne eine gewisse "Verwestlichung" ging es dabei meistens nicht ab. (Ich kenne einen jungen Türken, der seinen Eltern vor kurzem erklärt hat, daß er Deutscher werden will und der zu seinen deutschen Freunden besonders dann gerne zum Essen geht, wenn er vorher weiß, daß es Schweinebraten oder Schnitzel gibt. Das war sicher nicht das, was seine Eltern bei seiner Geburt im Sinn hatten.)

3. Was bleibt?

Was bleibt, das sehen wir in der Realität. Wir haben in Deutschland eine islamische Parallel-Gesellschaft, da gibt es keine Frage. Wir haben ein Nebeneinander der Kulturen, von dem es schwer auf ein Miteinander zu kommen ist, weil ein wahrhaftes Miteinander einen Verzicht auf fundamentale Werte der eigenen Kultur bedeutete. Es stehen sich nicht nur auf der großen politschen Bühne, sondern auch im deutschen Alltag, zwei Systeme gegenüber, die beide die Universilalität und Dominanz für sich beanspruchen. Auch Deine Fragestellung, Grit, illustriert diese Zielrichtung.
Wer nach islamischen Kindergärten fragt, dem geht es nicht um ein Miteinander sondern um Trennung. Wer nach islamischer Ausbreitung fragt, dem geht es um Zurückdrängung des "anderen", des Westlichen, und damit um Dominanz. Solange es aber kein Miteinander gibt, werden sich (westliche) Deutsche und Moslems fremd bleiben.
Solange wird es Angst und Ablehnung auf beiden Seiten den Zauns geben. Solange werden Moscheen, Kopftücher, etc. diese Angst verstärken. Solange wird es Menschen geben, die bereit sind, sich dagegen zu wehren. Der Islam versteht sich selbst anders, als er verstanden wird. Ich hoffe, ich habe das ausreichend zum Ausdruck gebracht. Deshalb wird sich solange mit der Einforderung seiner Rechte schwer tun (bzw. es wird ihm schwer getan werden), wie der Eindruck vorherrscht, das in dem Moment, wo dem Islam diese Rechte eingeräumt werden, er sich an der Beseitung des Seienden, und mithin an der Beseitigung dieser Rechte selbst. zu schaffen macht.
Daher rührt meine Angst: Ich weiß nicht, wie Westen und Islam im Großen und Moslems und Deutsche im Kleinen zu einen notwendigen Miteinander finden sollen, ohne das eine Seite die andere dominiert. Ich würde es gerne wissen und wäre daher auch um Antworten sehr froh.

Liebe Grüße,
Jan


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