Newsnational Freitag, 25.02.2011 |  Drucken

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Versöhnung von Islam und Moderne

Tunesien nach der großen Revolution: Umgang mit dem sogenannten „politischen Islam“ und dem Anspruch eines „Islamischen Staates“

(Von Hassen Trabelsi/München) Das tunesische Volk hat Geschichte geschrieben, denn es hat mit seiner Yasmin-Revolution mit bloßen Händen den größten Tyrannen der arabischen und islamischen Welt gestürzt. Dieses Volk hat die Botschaft Bouazizis, der mit seiner Selbstverbrennung den Zündfunken für die Revolution auslöste, verstanden und in die richtige Richtung gelenkt, nämlich in einen Aufstand gegen Tyrannei und Korruption.

Ben Ali ist nun Vergangenheit und hat seinen Platz in der Geschichte neben Nero und Napoléon gesichert. Es ist daher Zeit sich die Frage zu stellen wie es jetzt weiter geht. Was ist die Botschaft dieser Revolution? Wird eine islamische Regierung unter Geltung der Scharia an die Macht kommen?
Die tunesische Revolution birgt, wie jede große Revolution, eine Botschaft in sich. Diese Botschaft möchte ich wie folgt zusammenfassen: Die Errichtung eines Staates für alle Tunesier, d.h, ein Land ohne Korruption und Vetternwirtschaft. Eine Regierung, die Arbeitsplätze schafft, freie Wahlen organisiert, Pressefreiheit gewährt, politische Aktivitäten ermöglicht und den Überwachungsstaat beendet. Mit anderen Worten, ein Tunesien für alle.

Die Botschaft dieser Revolution beinhaltet nicht die Errichtung eines islamischen Staates, es wird also keinen Staat unter Geltung der Scharia gebildet werden. Die Tunesier sind zwar zu 98% sunnitische und mālikiten (nach Mālik ibn Anas, gest. 795) Muslime, doch steht für die Tunesier diese Art von Staat nicht im Vordergrund.

Diese Feststellung wurde auch von vielen tunesischen „Islamisten“ in ihren Interviews zum Ausdruck gebracht und auch mir gegenüber in meinen Gesprächen mit zahlreichen Persönlichkeiten der an-Nahda (Wiedergeburt), der größten islamischen Partei in Tunesien, bestätigt.

Ich selbst sehe als Muslim und früherem Mitglied der an-Nahdha, es ebenfalls nicht als Ziel der Revolution, einen islamischen Staat zu errichten. Erfreulich ist, dass auch R. Ghannouchi, Präsident der an-Nahdha Bewegung, in mehrere Interviews bestätigt hat, dass seine Partei keinen islamischen Staat gründen will, sondern ein Tunesien für alle fordert. So sagte er einen Tag nach dem Sturz von Ben Ali am 14.01.2011 in al-Jazeera: „wir wollen Freiheit für alle“ und fügt hinzu: „wir versuchen nur der Demokratie eine Islamische Legitimation zu geben“. In einem anderen Interview, ebenfalls bei al-Jazeera am 22.01.2011 sagte er, dass eine konventionelle Demokratie, in der alle politische Parteien und Institutionen vertreten wären, für das sinnvollste Lösung für Tunesien halten würde. Auf die Frage welche Rolle er selber spielen wolle, sagte Ghannouchi, er habe keine politischen Ziele, er sei nicht der Khomeini von Tunesien, als der ihn viele Medien darstellen wollten, sondern wolle nur, dass das Land den Schritt zur Demokratisierung schaffen würde.

Es ist wichtig zu erkennen, dass diese Thesen bei Ghannouchi nicht neu sind. Vielmehr hat er diese schon seit langem vertreten, insbesondere in seinem Hauptwerk „Die Freiheit und ihre Erfüllung im islamischen Staat“ (arab.: al-Hurriyat al-Aamma wa tawfiruha fi al-Dawla islamiya), so dass A. Tamimi in Ghannouchi einen demokratischen Muslim sieht (Tamimi, S. Azzam: Rachid Ghannouchi, a Demokrat within Islamism, Oxford University Press, 2001)
Ghannouchi ist wie jeder andere muslimische Intellektuelle in Tunesien versucht eine Versöhnung zwischen dem Islam und der Moderne zu finden. Diese Entwicklung der islamische Intelligenzija in Tunesien, die eine Koexistenz und Versöhnung zwischen den Islam und der Moderne sucht, ist nicht eine Idee der letzten Jahren sondern tief in der Geschichte Tunesiens verwurzelt.

Tunesiens politische Geschichte

Tunesien weist eine sehr wichtige Besonderheit auf die darin besteht, dass das Land eine ethnische Einheit und eine frühe Integration in die Moderne aufweist.
Dies zeigt sich in folgenden Punkten:

1. die Bewohner sind bis zu 98% sunnitische und mālikitische Muslims, Araber oder arabisiert, die restlichen Einwohner sind kleine Minderheiten von Christen und Juden, die in Frieden mit den Muslimen Leben.

2. das Land ist seit langem zentralistisch regiert.

3. das Land ist überwiegend eben (ausgenommen Jabal Sha`anbi:1544 m), besitzt einen langen schönen Strand (1300 Km) und besteht im Innern aus Steppengebieten. Die Sahara (Wüste), die mit den Schotts (Salzebenen) beginnt, weitet sich nach Süden und bildet eine Kruste, die Meilenweit wie Kristalle glitzert. Die Oasen sind eine Exotische Sensation in der Wüste.

4. die tunesische Wirtschaft besteht aus Landwirtschaft, Fischerei (Sardinien, Tunfisch...), geringe Bodenschätze (Naturphosphat und Eisenerz...), wenig Erdöl und Handwerk, das sich überwiegend der Herstellung von Teppichen und Lederwaren widmet und in den letzten Jahren unter der großen Konkurrenz der chinesischen Produkte zu leiden hat.

Diese ethnische Einheit gründet auf einer tiefen kulturellen Basis weil Tunesien Dank seiner geographischen Lage im Mittelmeerraum einen Treffpunkt der Völker und Kulturen des Nahen Osten und des Mittelmeerraums darstelle. Daher haben diese Kulturen in Tunesien ihren Spuren nicht nur als Ruinen, die für die ca. 7 Millionen Touristen die Tunesien jährlich besuchen eine große Attraktion darstelle, sondern als „way of live“ hinterlassen.

Die Phönizier, die Römer, die Vandalen und die Byzantiner haben bis Ende der 7. Jahrhunderts eine Heimat in Tunesien gefunden. Nach dem 7. Jahrhundert kamen die Araber mit dem Islam und es gelang ihnen trotz der anfänglichen Schwierigkeiten, die Berber zum Islam zu bekehren, einen Ausgangspunkt in Kairouan zu gründen. Die Araber haben das Erbe der vorgefundenen Kulturen nicht zerstört. Auch nach der Gründung von az-Zeitouna-Moschee (Ölbaummoschee) im 736, die zum wichtigsten Kulturzentrum in Afrika geworden ist, behielten die Einwohner Tunesien ihre Tradition und ihre Berber-Sprache. Die Muslime haben die Einheit des Landes gefestigt. Seit der Zeit bedeutenden Rechtsgelehrten Imam Souhnoun (776-854), dem Begründer der mālikiti Rechtsschule in Tunesien, ist zu der ethnischen Einheit die religiöse Einheit hinzugekommen, die sich noch verstärkt hat, nachdem die al-Ascha`ria (genannt nach Abul-Hasan al-Ashari, gest. 935/36)) die offizielle Theologie der az-Zeitouna Moschee geworden ist, und sich über das gesamte Land verbreitet hat.
Die Tunesier, die ursprünglich Berber waren, behielten ihre Sprache bis ins 12. Jahrhundert hinein, als Banou Hilal Tunesien eroberten und das Land völlig verwüsteten aber auch indirekt arabisierten.

Diese Arabisierung durch Bani Hilal hat viele Früchte hervorgebracht, weil sie die ethnische Einheit des Landes um eine kulturelle Einheit bereichert hat.
Diese Einheit, die auf einer zentralen Gewalt zunächst in Kairouan dann in Tunis und kurze Zeit in Mahdia beruhte, hat sich bis in die moderne Zeit hinein bewahrt. Als die europäische Kolonisierung des Landes durch Frankreich begann, war die sozio-ökonomische und politische Lage sehr gespannt, so daß es zu der Revolution von 1864 kam, die leider scheiterte. Ihre Anführer Ali Ben Ghedhahem (1814-1867), der aus der gleichen Region wie Bouazizi stammte, wurde vom Bey hingerichtet. Man sagt, die Revolution von 1864 gescheitert ist, aber sie hat dennoch Spuren hinterlassen. Eine ihrer Früchte war der große Vesir (Minister) Kheirddin Pascha (1822-1890), der mit eine Delegation mehrere europäische Länder, darunter auch Deutschland besuchte, um neben diplomatischen Aufgaben die Ursachen des Erfolgs der europäischen Länder zu erkunden. Nach Abschluß seiner Reisen erarbeitete Kheirddin Pascha ein Projekt um Tunesien aus der Krise zu retten. Doch auch dieses Projekt scheiterte und endete mit der Entlassung von Kheirddin Pascha im 1877 und wenig Jahre später, im Jahr 1881 mit der Besatzung Tunesiens durch Frankreich.

Die Einheit des Landes hat Frankreich sehr geholfen, seine Hoheit über Tunesien zu sichern, daher löste Frankreich die traditionellen Institutionen wie z.B. die Stämme, die Gelehrte der az-Zeituna etc., die der sozialen Verteidigung dienten, allmählich auf.

Doch die Revolution von 1864 und der Versuch Kheireddin Paschas (1822-1890) sind nicht verloren gegangen. Sie blieben vielmehr als Ausgangspunkt und stellen Sozio-kulturelle und politische Zündkraft für Jede Revolution in Tunesien, sowohl gegen Frankreich während der Kolonialzeit, als auch gegen den Einparteienstaat von Bourguiba 1978 und 1884 und schließlich gegen die Überwachungsstaat in den letzten 23 Jahren.

Charakteristisch für alle Aufstände war immer der Zusammenhalt der Tunesier; denn immer wenn der Kampf gegen die herrschende Tyrannei oder Korruption im Land nur von einer Partei oder einer Gruppe geführt wurde, verlor diese den Kampf, weil die Zentralgewalt des Staates stärker war als die Einzelnen Gruppen aber Schwach, wenn das Volk zusammen hielt. Ein deutliches Beispiel hierfür waren die Aufstände, die An-Nahda nach der Fälschung der Wahl von 1989 gegen Ben Ali geführt hatte. Dieser Aufstand wurde von Ben Ali vernichtend niedergeschlagen, es kam zu zahlreichen Toten aufgrund von Folter, über 30000 Mitglieder der an-Nahda wurden inhaftiert, Tausende mußten ins Exil flüchten und im Ausland Schutz finden.

Parallel zu seiner inneren und kulturellen Einheit hat sich Tunesien sehr früh in der Modern geöffnet. Schon im 19. Jahrhundert macht der Reformprozess in Tunesien große Fortschritte. So gab es nicht nur den großen Reformator Kheireddin Pascha sondern darüber hinaus noch Persönlichkeiten wie z.B. Ibn Abi Dhiaf, Mohamed Snoussi, Salem Bouhageb, Mohamed Bayram V und viele mehr. Ergebnisse dieses Modernisierungsprozesses waren die Gründung des Collège Sadikia im Jahre 1875 und als wichtiges Produkt das Buch „Unsere Frau zwischen Religion und Gesellschaft“ (arab.: Imraatuna byana as-Sharia wal Mujtamaa) von Tahar al-Haddad (1899-1935) in dem er für mehr Rechte für die Frauen plädierte. Dieser Prozess wurde von Habib Bourguiba, dem ersten Tunesischen Präsidenten mit der Gründung des „Code de Statut personal“ 1956, einem sehr liberalen Personalstatus, der die Gleichberechtigung der Frau festschrieb und die Auflösung der traditionellen Institutionen, u.a. die Abschaffung der Religiösen islamische Gerichte (Sharia Gerichte), Auflösung der religiöse Stiftungen (Houbous) 1957 etc. vollendet. Gleichzeitig wurde eine säkulares System etabliert.
Die französische Sprache nahm einen immer breiteren Raum und wurde die Sprache der gebildeten und Reichen. So schreiben viele tunesische Intellektuelle auf französisch, auch der Anführer der Hizb Ad-Doustour, der im 1920 gegründet wurde.

Doch die Zurückdrängung der arabischen Sprache und die Abschaffung der religiöse Institutionen blieb nicht ohne Widerstand, vor allem von Seiten der neu gegründeten Islamischen Bewegung „islamische Gemeinschaft“ im Jahre 1969, die später ab 1981 in „Mouvement de la tendence islamique“ umbenannt wurde und ab 1989 „an-Nahda“ (Wiedergeburt) bekannt geworden ist.

Bei an-Nahda handelte es sich um eine Gruppierung, die keineswegs mit den militant fundamentalistischen Bewegungen in vielen arabischen Ländern gleichzusetzen ist, denn sie ist selbst als ein Produkt des Modernisierungsprozesses zu verstehen. Trotz der Schwierigkeit, die an-Nahda bis Ende der 70.er Jahre bei der Integration in die moderne Gesellschaft hatte, gelang es ihr ab 1981 einen eigenen und besonderen Weg mit des Modernisierungsprozesses im Land zu etablieren. Dies zeigte sich beim Ersten Politbüro der an-Nahda von 1981, wo Frauen mitarbeiteten und in der Bereitschaft auch anderen, nicht islamische Parteien das Recht zuzugestehen, im Lande aktiv zu sein und mit ihnen zusammenzuarbeiten, insbesondere mit der „Mouvement des démoccrates socialiste“ (MDS).

Islam und Zivilgesellschaft

Diese Kurze geschichtliche Exkursion zeigt uns folgendes:
1. der Staat als Zentralgewalt ist in Tunesien schon seit langem verwurzelt
2. die Versöhnung zwischen Islam und der Moderne hat große Fortschritte gemacht
3. Diese Versöhnung hat trotz mancher Konflikte zu einer Art Koexistenz bzw. einem Zusammenleben zwischen Islam und Moderne in Tunesien geführt
4. das Volk hat immer in den entscheidenden Momenten eine Rolle gespielt, sei es um einen Prozeß zu beschleunigen, so in den Reformationen nach 1864 und 1984 oder um eine Politik zu stoppen, so 1978, und auch 1864 und 1984.

In der Praxis ist diese Theorie der Koexistenz zwischen Tradition und Moderne in den Bildern der letzten Demonstrationen deutlich zu sehen. Die Medien zeigen uns Bilder in denen Frauen mit Kopftuch neben Frauen ohne Kopftuch demonstrieren. Alle rufen die selben Parolen wie „es ist aus, Ben Ali raus“ und haben die gleichen Ziele: Ein Leben in Gerechtigkeit, Arbeit und Menschenwürde. Wenn die Demonstration zu Ende ist, verabreden sie sich für die nächste Demonstration, dann gehen die einen zur Moschee und die anderen ihren weltlichen Verabredungen nach.
Ein wunderbares Bild, kaum glaubwürdig für deutsche Leser, die täglich mit einer Fülle von Informationen überhäuft werden, über islamische Terroristen, die alles in die Luft jagen und das Leben vieler Menschen vernichten.

Es war aber auch nicht vorstellbar für islamischer Denker wie z.B. Dschamal ad-din al-Afghani (1838-1897), als er die Grundlage der abendländischen Philosophie auseinandernahm und für eine islamische Liga plädierte oder von Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703-1792), der den Frauen nur wenig Rechte zugestand.

Ein zweites Bild dieser Toleranz der tunesischen Gesellschaft zeigen die Universitäten in Tunesien, wie ich sie selber in meiner Studienzeit dort vor 22 Jahre miterlebt habe, als nicht nur wir, die Philosophie Studenten, sondern auch Sharia-Studenten den Koran und das „Kapital“, Al-Buchārī (810-870) und Gramsci, al-Ghazali(1058-1111) und Descartes, Ibn Roschd (1126-1198) und Rousseau, Ibn Taymiya (1263 - 1328) und Montesquieu lasen.

Eine weiterer Aspekt, der die tunesische Revolution zu einer großen Revolution macht, ist das Selbstbewusstsein, die Wachsamkeit und Verantwortung des Volkes, weil sie nicht mehr an das Versprechen des Diktators glauben und sie keine Wiederwahl mit 99,99 % sehen wollen. Das Volk hat 23 Jahre nur Lügen gehört, denn Ben Ali hat in all diesen Jahren viel versprochen aber nichts getan. Daher konnte das Volk Ben Ali in seiner letzten Rede von 13.1.11 auch nicht trauen, als er für die nächsten regulären Wahlen für 2014 ankündigte nicht mehr kandidieren und die Gefangenen der Demonstrationen freilassen zu wollen. Für das Volk enthielt diese Rede daher nur leere Worte.

Dieses neue Selbstbewusstsein des Volkes, verbunden mit einem großen Verantwortungsgefühl sah man auch, als die Sicherheitskräfte, wenige Tage nach der der Flucht Ben Alis versuchten, das Land zu verwüsten und ins Chaos zu stürzten denn es bildeten sich sofort zivile Gruppen um die Viertel und ihre Bewohner, die Straßen und die gesamte Infrastruktur zu schützen und dem Militär bei der Wiederherstellung der Sicherheit zu helfen. Dieses Verhalten wurde von vielen Beobachtern gelobt.

Die Revolution hat aber noch einen weitere Aspekt, indem sie im Volk den Lebenswillen geweckt hat. Die Masse hat ihre Angst überwunden und die Wut hat die Angst verjagt. Die Angst war wie ein Gordischer Knoten, der unlösbar schien, und an dem viele Parteien, Islamisten, Linke, Demokraten scheiterten. Erst dem Volk gelang es durch seinen Zusammenhalt den knoten zu lösen, und den Diktator zu verjagen.

In den 20 Jahren, in denen ich im Exil leben mußte, habe ich viel darüber nachgedacht, wie der Knoten gelöst werden könnte. Dabei habe ich immer versucht zu zeigen, dass man nur durch eine Zusammenarbeit der Institutionen den tunesischen Knoten zerschlagen könnte. Doch obwohl ich zu diesem Problem viel geschrieben und gearbeitet habe merke ich jetzt, daß die Arbeit der Institutionen wichtig war aber ihre Aufgabe erst jetzt begonnen hat, nämlich die Revolution zu schützen und nicht nur über ihren Anteil an diesem Erfolg nachzudenken.
Das Volk, das seine Gegenwart wieder zurückgewonnen hat, will seine Zukunft selbst durch freie Wahlen bestimmen. Der Ex-Diktor 23 Jahre lang versucht, sowohl die Vergangenheit, als auch die Zukunft und Gegenwart des Landes in seine Gewalt zu bringen. Nachdem Ben Ali das politische und institutionelle Leben erstickt hatte, war der Ansicht, er hätte die Gegenwart Tunesien unter seiner Kontrolle. Danach versuchte er in einem zweiten Schritt auch über die Zukunft der Tunesier zu herrschen. Denn durch seine Eiserner Hand, die Bildung eines Überwachungsstaates, die Jagd auf Oppositionelle, Zensur der Presse und Vetternwirtschaft hatte er gedacht, alles kontrollieren zu können. Für einen Moment war Ben Ali von seiner vermeintliche Allmacht überzeugt, auch die Welt lobte die tunesische Wirtschaftswunder. Die Selbstgewissheit war auch aus seiner Rede von 28.12.2010 herauszuhören, als er die Demonstranten mit noch härterem Vorgehen bedrohte. Das Volk aber marschierte unbeeindruckt weiter friedlich Richtung Innenministerium und die Sicherheitskräfte schoßen, bis sie schließlich nicht mehr schießen konnten, weil auch das Böse schließlich tatenlos vor der Entschlossenheit des Guten zurückweicht. In diesem Moment merkte Ben Ali endlich, das er nicht mehr die Gegenwart des Landes herrschte und sogar um seine eigene Gegenwart fürchten mußte; daher mußte er fliehen um nun seine eigene Zukunft zu retten!
Er ist außerstande, die Revolution zu verstehen obwohl er in seiner letzte Rede gesagt hatte, dass er die Tunesier verstanden hätte, denn eine Revolution sprengt unsere Vorstellung, eben weil eine Revolution so viel Raum für Sozio-politische und kulturelle Fragen läßt. Daher haben viele Theoretiker sich mit der Frage, wie ein Revolution möglich ist und wer eine Revolution machen kann, auseinandergesetzt. K. Marx glaubte, daß das Proletariat die geeignete Klasse wäre um die frühe Industriegesellschaft zu führen.

Mitte der 60. Jahren war eine Revolution fast unmöglich, denn der Industriestaaten hatten sich sehr stark weiterentwickelt und auch das sogenannte Proletariat hatte durch die Gewerkschaften und verschiedenen Institutionen viele Rechte erlangt. Doch gelang es Marcuse, nach langen Überlegungen, in den Studenten eine Klasse zu finden, die eine Revolution tragen könnten. So entwickelte er seine Thesen und wurde zum Theoretiker der Studentenrevolution ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Im arabischen und islamischen Kontext sieht die Lage anders aus. Die Arabischen Intellektuellen haben keine Vorstellung von einer Revolution. Sie kennen zwar die Geschichte der Revolutionen, insbesonder die der französischen und russischen Revolutionen, doch waren sie nicht in der Lage eine Theorie für eine Revolution zu erarbeiten. Daher gab es viele Antworten auf die Frage, wie die muslimische Welt aus dem Zustand des Rückstands herauskommen könnte.
Von Rifa´a al-Tahtawi (1801-1873) bis Malek Bennabi (1905-1973) über Dschamal ad-din al-Afghani, Muhammad Abduh (1849-1905), Mohammad Rachid Ridha (1835-1935), Chakib Arslan (1869-1946), Hassan al-Banna (1906-1049) und vielen anderen versuchen die Intellektuellen auf die oben aufgeworfene Frage eine Antwort zu finden.
In Tunesien haben wir die Versuche tunesicher Intellektueller kurz zusammengefaßt. Ohne Zweifel gab es Persönlichkeit, die die tunesische Revolution inspiriert hat. Gemeint ist der tunesische Philosoph und Dichter Abu al-Qasim asch-Schabbi (1909-1934). Asch-Schabi hat den Tunesiern den Weg zur Erfolg in seiner Dichtung beschrieben.
Hier sind seine wichtigsten Verse, die fast jeder Tunesier bzw. jeder Araber kennt:

"Wenn eines Tages das Volk sich zum Leben entschließt, dann muss sich das Schicksal beugen"

Dieser Verse beinhalte eine Einfache Botschaft, nämlich daß das Wille zum Leben vom Volk selbst kommen muss. Das Volk muss agieren und aus seinem Letargie herauskommen und seine Angst überwinden, denn wie asch-Schabbi in seinen Versen ausführt

"Und wer das Klettern der Berge vermeidet, bleibt ewig im Abgrund gefangen."

Seine Gedichte waren ein Aufruf zum Leben, daher bezeichnet man Asch-Schabbi als „Dichter des Lebens“. Dieser Wille zum Leben ist eine Art ewige Rückkehr des Gleichen. Es ist anzumerken, dass dieser Rückkehr nicht die gleiche Rückkehr von Zarathustra entspricht, weil bei Nietzsche die Rückkehr durch einen Übermenschen bewirkt wurde. Einem Übermenschen, der die Geschichte ohne Moral schreiben will. Im Gegensatz dazu will Asch-Schabbi und somit sein Volk eine Geschichte voller Moral schreiben.
Ich bin daher der Überzeugung, daß Abu al-Qasim asch-Schabbi der wahre Anführer der tunesischer Revolution ist, weil er das tunesischer Volk und sich selber zum Leben erweckt hat.

Zusammenfasssung

– Die tunesische Revolution stellt die Verantwortung, das Selbstbewusstsein und die führende Rolle eines Volkes in den Vordergrund; ihre Botschaft ist Freiheit für alle, Sicherung der Würde der Menschen und Schaffung von Arbeit, sie ist daher eine große Bereicherung in der Geschichte der Revolution.

– Der Wille zu einem menschenwürdigen Leben ist nach wie vor der Schlüssel zum Erfolg.

– Die Tunesische Revolution birgt viele Überraschungen in sich. Die größte Überraschung ist meiner Meinung nach das Volk selbst, weil zum ersten Mal in der arabischen Welt ein Herrscher vom Volk selbst gestürzt wurde. Dieser Wille widerlegt die Theorien die besagen, daß ein Herrscher in der arabischen Welt nur durch Tod oder einen Militärputsch oder Einmarsch fremder Truppen beendet werden kann.

– Die Revolution zeigt die geographische und kulturelle Einheit des Landes und gleichzeitig die Versöhnung und Koexistenz zwischen dem Islam und der Moderne. Das Bild der friedlichen Revolution soll die Gegenwart Tunesien mit seiner Geschichte versöhnen und gleichzeitig auf der Basis von Frieden und Liebe anstrebe.
Liebe bedeutet Frieden, daher ist die tunesische Revolution eine Bereicherung für den Frieden und muss unterstützt werden, denn die Unterstützung der Revolution dient der Verbreitung des Friedens.


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