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Donnerstag, 26.07.2007
Hintergründe zur Frage der Befreiung muslimischer Schülerinnen vom Schwimmunterricht. Von Yasin Alder
Die Frage der Teilnahme am Sport- und vor allem am Schwimmunterricht für muslimische Schulkinder - de facto sind dies vor allem Mädchen - wird seit Jahren immer wieder diskutiert. Dabei wird in der Öffentlichkeit häufig der Eindruck erweckt, dass die Verweigerung der Teilnahme insbesondere am Schwimmunterricht ein weit verbreitetes, bedenkliches Phänomen sei. Unter anderem die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), hatte die Abmeldung muslimischer Kinder vom Sportunterricht durch deren Eltern kritisiert. Auch die Türkische Gemeinde in Deutschland, eine säkulare Migrantenorganisation, hatte sich gegen Befreiungen ausgesprochen. In einem längeren, sehr ausführlich recherchierten Artikel in der „Zeit“ (Nr. 50/2006 vom 07.12.2006), der im Internet nachgelesen werden kann (www.zeit.de), war der Journalist Martin Spiewak der Sache nachgegangen und musste feststellen, dass es sich um ein zahlenmäßig geringes und in der Praxis kaum problematisches Phänomen handelt. Spiewak hatte unter anderem an zahlreichen Schulen, auch solchen mit besonders hohem Migrantenanteil, recherchiert und Gespräche geführt. Sämtliche von Spiewak befragten Schulen und Schulbehörden in verschiedenen Bundesländern sahen die Befreiungen als kein größeres Problem an. In seiner Recherche konnte Spiewak zudem die Aussage der Islam-Kritikerin Necla Kelek, es gebe „erhebliche Verweigerungsquoten“ unter muslimischen Schülern gegenüber dem Sport- und Schwimmunterricht, die diese in einer Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erhoben hatte, widerlegen. Einige Schulen bieten Schwimmen als Wahlkurs an. Andere unterrichten nach Geschlechtern getrennt, wieder andere akzeptieren eine Bescheinigung von einem muslimischen Frauenschwimmen, das außerhalb der Schule stattfindet. In Bayern und Baden-Württemberg findet der Sportunterricht gar von der 5. beziehungsweise 7. Klasse an getrennt statt.
Grundsätzliches
Der Grund für die Befreiungswünsche liegt darin, dass beim Schwimmunterricht in der Regel keine ausreichende Bedeckung des Körpers gegeben ist, wie sie im Islam sowohl für Männer als auch für Frauen in der Öffentlichkeit jeweils in bestimmtem Maße vorgeschrieben ist. Grundsätzlich sind sportliche Aktivitäten im Islam erwünscht und empfohlen. Sportarten wie Schwimmen oder Reiten wurden vom Propheten Muhammad ausdrücklich erwähnt und sollen in der Erziehung gefördert werden. De facto stellt sich die Frage der Bedeckung jedoch erst ab dem Eintritt der Pubertät, also noch nicht auf der Grundschule. Beim Sportunterricht kann in den allermeisten Schulen Kopftuch getragen werden, sofern es auf eine Art gebunden wird, dass keine Verletzungsgefahr besteht, das heißt ohne Stecknadeln. Das schließt nicht aus, dass es immer wieder auch Fälle gibt, in denen Lehrer oder Lehrerinnen muslimische Schülerinnen unter Druck zu setzen versuchen, ihr Kopftuch beim Sportunterricht abzulegen.
Bei Befreiungen vom Sport- oder Schwimmunterricht wird bisher auf ein maßgebliches Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1993 Bezug genommen. Das Gericht entschied dabei, dass eine muslimische Schülerin Anspruch auf Befreiung vom Sportunterricht hat, solange der Unterricht nicht nach Geschlechtern getrennt durchgeführt wird. In der Entscheidung heißt es: „Führt ein vom Staat aufgrund seines Bildungs- und Erziehungsauftrags aus Art. 7 Abs. 2 GG im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht angebotener koedukativ erteilter Sportunterricht für eine zwölfjährige Schülerin islamischen Glaubens im Hinblick auf die Bekleidungsvorschriften des Korans, die sie als für sie verbindlich ansieht, zu einem Gewissenskonflikt, so folgt für sie aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ein Anspruch auf Befreiung vom Sportunterricht, solange dieser nicht nach Geschlechtern getrennt angeboten wird.“
Auf der Webseite des Verbands IGMG (www.igmg.de) heißt es dazu: „Zunächst ist die Schulverwaltung aber verpflichtet, alle ihr zu Gebote stehenden, zumutbaren organisatorischen Möglichkeiten auszuschöpfen, einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht einzurichten und anzubieten; dann aber, und nur dann, wenn die staatliche Schulverwaltung dieser Verpflichtung nicht nachkommt oder nicht nachkommen kann, ist der Konflikt in der Weise zu lösen, dass ein Anspruch auf Befreiung vom koedukativ erteilten Sportunterricht besteht. Dieser Grundsatz gilt auch für den Schwimmunterricht. Da die Teilnahme am koedukativ erteilten, der allgemeinen Schulpflicht unterliegenden Schwimmunterricht grundrechtlich geschützte Rechtspositionen des Kindes und/oder seiner Eltern verletzen würde, muss der staatliche Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG hinter das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG und das dieses Recht besonders prägende Recht der Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) zurücktreten und folglich die Schülerin vom Unterricht befreit werden.“ Islamische Organisationen boten seither sogar vorgedruckte Schreiben für die Befreiung an, auf denen auf dieses Urteil Bezug genommen wurde. In letzter Zeit lasse sich allerdings in der Rechtsprechung und Rechtswissenschaft eine neue Tendenz erkennen, meinen Experten. Habe man früher das Elternrecht und die Religionsfreiheit hervorgehoben, betone man nun stärker den Erziehungsauftrag des Staates. An vielen Schulen wird inzwischen verstärkt versucht, eine Teilnahme durchzusetzen.
Das Beispiel NRW
Die Schule betreffende Regelungen sind weitgehend Sache der Bundesländer. Im folgenden soll die Thematik schwerpunktmäßig anhand des Landes Nordrhein-Westfalen dargestellt werden, dem Bundesland mit dem größten muslimischen Bevölkerungsanteil.
In einer Antwort der NRW-Landesregierung vom 30.11.2006 auf die Anfrage einer SPD-Abgeordneten zu Abmeldungen vom Schwimmunterricht heißt es: „… bedeutet dies, dass grundsätzlich alle Schülerinnen und Schüler am Unterricht in sämtlichen Fächern teilnehmen müssen und es lediglich im Einzelfall eine durch Art. 4 GG (Glaubens- und Gewissensfreiheit) begründete Ausnahme beim gemeinsamen Schwimm- und Sportunterricht geben kann. So müssen z. B. muslimische Schülerinnen (nicht: Schüler) nicht teilnehmen, wenn aufgrund des im Koran vorgeschriebenen Keuschheitsgebotes und den damit zusammenhängenden Bekleidungsvorschriften Glaubenskonflikt dargelegt und auf den Einzelfall bezogen nachvollziehbar begründet wird.“
Und: „Die Landesregierung respektiert die Rechtsprechung, die auf einer Abwägung zwischen dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag auf der einen Seite und der Glaubens- und Gewissensfreiheit bzw. dem elterlichen Erziehungsrecht auf der anderen Seite beruht. Zwischen beiden Grundrechtspositionen ist im jeweiligen Einzelfall ein „schonender Ausgleich" zu suchen. Und weiter heißt es zu den Befreiungen generell: „Gravierende, über Einzelfälle hinausgehende Probleme sind nicht bekannt.“
Die Frauenbeauftragte des Zentralrats der Muslime, Brigitte Weiß, die auch Lehrerin an einer nordrhein-westfälischen Hauptschule ist, schätzt ebenfalls die tatsächliche Problemlage beim Sport- und Schwimmunterricht als sehr gering ein. „Wir haben im Laufe der Jahre immer weniger Wünsche nach Befreiung gehabt, und wenn, dann wird dies zumindest an meiner Schule sehr flexibel gehandhabt, im Sinne der reflexiven Koedukation, wobei von Fall zu Fall und im Interesse der Schüler, aber auch in Abwägung mit dem Erziehungsauftrag der Schule gehandelt wird.“ Beispielsweise habe an ihrer Schule früher Schwimmunterricht in den Klassen 5, 7 und 9 stattgefunden. Da aber in der 9. Klasse die meisten Abmeldungen vorgekommen seien, und der Unterricht nicht nur für muslimische Schüler, sondern auch für andere problematisch gewesen sei, etwa durch die Menstruationsperiode der Mädchen, habe ihre Schule ganz pragmatisch auf den Schwimmunterricht in dieser Jahrgangsstufe verzichtet. Falls Wünsche auf Befreiung vom Schwimmunterricht in der 7. Klasse aufträten, werde je nach Einzelfall entschieden. Es kämen erstaunlicherweise nie Anfragen von muslimischen Jungen, wundert sich Brigitte Weiß. Es hänge vieles von der an der jeweiligen Schule vorhandenen Sensibilität ab. Manchmal gebe es aber auch einfach räumliche oder sachliche Gründe, wenn etwas nicht machbar sei.
Der Zentralrat der Muslime unterstütze voll und ganz das deutsche Schulsystem und sei auch nicht gegen den koedukativen Sportunterricht. Man wünsche sich aber im Sinne des Gesetzes, wie es beispielsweise in NRW laute, dass der Schwimmunterricht monoedukativ, also nach Geschlechtern getrennt, durchgeführt wird. „Aus religiösen Gründen können wir gar nicht anders argumentieren“, sagt die ZMD-Frauenbeauftragte. Im neuen Schulgesetz von NRW heißt es in § 43: „Die Schulleiterin oder der Schulleiter kann Schülerinnen und Schüler auf Antrag der Eltern aus wichtigem Grund bis zur Dauer eines Schuljahres vom Unterricht beurlauben oder von der Teilnahme an einzelnen Unterrichts- oder Schulveranstaltungen befreien.“ Die für die Schulen verbindlichen Verwaltungsvorschriften dazu besagen weiter, dass eine Befreiung von einzelnen Unterrichtsveranstaltungen nur in Betracht kommen kann, „wenn eine bestimmte Unterrichtseinheit für die Schülerin oder den Schüler aus besonderen persönlichen Gründen unzumutbar ist.“ Weiter heißt es dazu in den Erläuterungen über den Sportunterricht: „Der allgemeine Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft reicht allein noch nicht aus. Es ist vielmehr glaubhaft darzulegen, dass eine Teilnahme am Sportunterricht in der vorgesehenen Form nicht möglich ist. Ein eigenes Bewertungsrecht, insbesondere bei der Auslegung religiöser Texte, sollte von der Schule und der Schulaufsicht nicht in Anspruch genommen werden.“
Zum Schwimmunterricht heißt es bemerkenswerterweise: „Die Schule ist gehalten, insbesondere im Schwimmunterricht den Unterricht nach Geschlechtern getrennt durchzuführen.“
Eine Befreiung ist demnach weiterhin möglich. Die Schulen sind sogar gehalten, den Schwimmunterricht monoedukativ durchzuführen. De facto würden viele Schulen diese neue Gesetzesänderung zumindest in NRW aber kaum kennen, vermutet Weiß.
Das Prinzip der reflexiven Koedukation bedeutet, dass den Schulen ermöglicht wird, bezüglich Sport- und Schwimmunterricht oder auch Klassenfahrten flexible und pragmatische Lösungen zu finden und in bestimmten Fächern von der Koedukation, die seinerzeit ohnehin vor allem aus sachlichen und Kostengründen und weniger aus pädagogischen Gründen eingeführt wurde, abzuweichen. Auf der „learn-line“-Webseite des Schulministeriums NRW (http://learn-line.nrw.de) wird die reflexive Koedukation als „grundlegendes Gestaltungsprinzip im Sportunterricht“ vorgestellt.
Dort heißt es unter anderem: „Bestätigt wurde der Verdacht, dass koedukative Schulen die geschlechtsspezifische Differenzierung von Interessen verstärken und Mädchen den Zugang zu vielen gesellschaftlich wichtigen Lebensbereichen erschweren.“ Nicht nur beim Sportunterricht, auch etwa der naturwissenschaftliche Unterricht sollte nach diesen Erkenntnissen für Jungen und Mädchen unterschiedlich gestaltet werden, da sie unterschiedliche Zugänge zu diesen Fachbereichen hätten.
Die Einsicht, dass eine solche reflexive Koedukation Vorteile bietet, wird mittlerweile auf breiter Ebene geteilt. Sie hat nicht primär mit Muslimen zu tun, wird aber nur in diesem Kontext als Problem dargestellt. In kirchlicher Trägerschaft gibt es ohnehin ganze Schulen, die monoedukativ sind, was für die Entwicklung der Kinder auch kein Problem darstellt.
Sowohl Lehrkräften als auch Eltern ist zu raten, das Thema mit Gesprächsbereitschaft und lösungsorientiert anzugehen. Dabei sollte auch Verständnis für die Sicht der jeweils anderen Seite aufgebracht werden. Oft können im Gespräch Missverständnisse oder Ängste aufgedeckt und abgebaut werden. Das Motto „den Ball flach halten“ ist auch hierbei nicht verkehrt.
(Erstveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors in: IZ vom 11.07.07)