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Montag, 02.07.2007

Toleranzgebot in der demokratischen Einwanderungsgesellschaft - Integration und Leitkultur. Von Gari Pavkovic

Wann gelten EinwanderInnen in Deutschland als integriert? Es besteht zumindest ein breiter Konsens darüber, dass die zugewanderten Personen – mit und ohne deutschen Pass – dafür drei Voraussetzungen erfüllen müssen: die Anerkennung der Menschenrechte (die auch die Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Verfassung sind), das Einhalten von Recht und Gesetz im Alltag und gute Deutschkenntnisse. Im Gegenzug garantiert unsere Rechtsordnung die individuelle Gleichbehandlung aller hierzulande regulär lebenden Personen. Dies beinhaltet auch ihr Recht auf eine selbst gewählte kulturelle, religiöse oder sonstige Einstellung und Lebenspraxis, solange diese andere Personen in ihren Freiheiten und Rechten nicht beeinträchtigen. Rechtliche Gleichheit und kulturelle Verschiedenheit sind die Merkmale unserer freiheitlichen pluralistischen Gesellschaft. Alle BürgerInnen haben zu tolerieren, dass es Mitmenschen gibt, die eine andere Lebensweise haben als sie selbst, solange diese gute StaatsbürgerInnen sind. Gegenseitige Toleranz ist die Basis des Zusammenlebens, unabhängig davon, ob diese Toleranz sich als gegenseitiger Respekt, als herablassende Duldung oder gar als Ignoranz der Anderen ausdrückt. Leben und leben lassen, würden die Rheinländer sagen, Schaffen und schaffen lassen, die Schwaben. So weit, so gut.

Von der Kritik an Multikulti zur Einschränkung der Toleranz gegenüber Muslimen

In der aktuellen integrationspolitische Debatte wird dieser Toleranzbegriff in Frage gestellt, wie zuletzt von zahlreichen BedenkenträgerInnen im Falle des geplanten Moscheebaus in Köln-Ehrenfeld. Was ist dort passiert? Kölner Muslime wollen ihre Religion nicht wie in den Jahrzehnten zuvor in einer Hinterhofmoschee ausüben sondern in einem repräsentativen Gebäude. Das steht Ihnen laut unserer Verfassung im Rahmen der baurechtlichen Vorgaben auch zu. Die KritikerInnen sehen darin den Ausdruck einer falsch verstandenen Toleranz und begründen dies mit einer Vielzahl von „Argumenten“: der angeblichen Ausbreitung der Scharia durch ein solches Gebetshaus, dem grundsätzlichen Zweifel, ob Muslime die Menschenrechte und unsere Rechtsordnung akzeptieren, der Diskriminierung der Christen in muslimischen Ländern und dem Hinweis, dass eine Moschee nicht in unsere christlich geprägte deutsche bzw. europäische Kultur passe.

Die KritikerInnen der Einwanderungsgesellschaft (die von ihnen verstanden wird als ein ungewolltes Nebeneinander verschiedener Kulturen und Religionen), betonen, dass der Multikulturalismus letztendlich eine Art Kulturrelativismus ohne gemeinsame Wertebasis bedeute. Ein solcher Multikulturalismus gefährde den Zusammenhalt der Gesellschaft und fördere die Bildung von abgeschotteten Parallelgesellschaften. Die Folge sei eine gescheiterte Integration der Zugewanderten, in erster Linie der fremdkulturellen TürkInnen bzw. MuslimInnen.

Die Identitätsfalle: Vom Konstrukt zur Ausgrenzung anderer Kulturen

Diese BedenkenträgerInnen gehen bei ihrer Kritik von der Annahme aus, dass es in sich konsistente Kulturen und Religionen gäbe (z.B. den Islam an sich) und ebenso eine fest umrissene deutsche bzw. europäische (Leit-)Kultur, die keine Berührungspunkte und Schnittstellen zu den anderen Kulturen habe. An Stelle des Individuums mit seinem Bürgerrechten und –pflichten wird das ethnische Kollektiv mit seinen Ansprüchen zum Gegenstand des Diskurses. Somit argumentieren die KritikerInnen in denselben kulturalisierenden Denkkategorien wie die BefürworterInnen des Multikulturalismus, allerdings mit anderer Intention. Ihr Konstrukt von fest umrissenen Kulturen/Religionen, die sie einer bestimmten geografischen Region zuordnen, impliziert, dass beispielsweise die Kölner MuslimInnen nicht ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft seien (BürgerInnen der Stadt Köln und als solche ein integraler Bestandteil der Bevölkerung in Deutschland) sondern ein kollektiver kultureller Fremdkörper. Diese Einstellung kommt auch im bizarren Vorschlag von Henryk Broder zum Ausdruck: Türken dürfen nur dann eine Moschee in Köln bauen, wenn Christen in der Türkei eine Kirche bauen dürfen. Will heißen: Für Muslime in Deutschland gelten Recht und Gesetz nur eingeschränkt, solange in ihren Herkunftsländern Unrecht geschieht. Das auf den ersten Blick gerecht erscheinende Prinzip von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (bzw. „wie du mir so ich dir“) geht von der Prämisse aus, dass Kölner Muslime – mit und ohne deutschen Pass – TürkInnen sind und bleiben und als solche für die Ungleichbehandlung „unserer“ Christen in der Türkei verantwortlich sind (Sippenhaft). Gilt dies auch für Juden, Hindus und Buddhisten? Muss das Prinzip nicht dann auch für Christen mit Herkunft aus undemokratischen Staaten angewandt werden?

Kollektive Identitätskonstrukte und Repräsentanzanspüche der Migrantenverbände verstärken die Polarisierung in Wir und Andere

Viele Verbände der MigrantInnen gehen auch von einer fest umrissenen kollektiven Identität ihrer „Landsleute“ aus und leiten daraus das Recht ab, für diese als Ganzes zu sprechen. Dabei sind sie als Vereinsfunktionäre nur VertreterInnen einer begrenzten Anzahl von Vereinsmitgliedern. Das gilt auch für die islamischen Dachverbände. Sie leiten ihren Anspruch auf die Repräsentanz aller MuslimInnen in Deutschland vom Konstrukt ab, dass es eine einheitliche Glaubensgemeinschaft der Muslime und eine gemeinsame Übereinkunft über die Auslegung des „wahren Islam“ gäbe und dass sie autorisiert seien, diese zu vertreten. Der türkische Verband Ditib beansprucht für sich, für alle türkischen MuslimInnen zu sprechen. Beides trifft nicht zu. Trotzdem spricht nichts dagegen, dass Kölner Muslime, die beim Verband Ditib organisiert sind, ihre Hinterhofmoschee in ein repräsentatives Gebetshaus umwandeln. Den Gläubigen steht es frei, diese Moschee oder andere Moscheen zu besuchen. Auch für die Anerkennung des sunnitischen Islam als Religionsgemeinschaft auf Länderebene bedarf es nicht eines Alleinvertretungsanspruchs. Notwendig ist die Erfüllung anderer Kriterien, u.a. der freien Wahlentscheidung der Gläubigen, ohne Sanktionen aus einer solchen Religionsgemeinschaft wieder auszutreten zu können.

Leitkultur in der Einwanderungsgesellschaft – mehr als gemeinsame Sprache und Verfassungsloyalität?

Bleibt die Frage nach der Leitkultur. Was macht die deutsche Leitkultur jenseits der gemeinsamen Sprache und dem Befolgen von Recht und Gesetz aus? Lange Zeit konnte man Deutscher sein aber kaum Deutscher werden. Dank den Reformen des Staatsangehörigkeitsrechts haben wir immer mehr neue Deutsche, deren Sozialisation nicht nur von der christlich-jüdischen Tradition geprägt ist. Dies ist die Realität in allen europäischen Einwanderungsländern. Von den MigrantInnen, die dauerhaft unter uns leben wollen und dürfen, verlangt man zu Recht gute Deutschkenntnisse und Verfassungstreue. Letzteres ist schwer zu überprüfen, wenn ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis nicht als ausreichend angesehen wird. Woran will man die „innere Hinwendung“ zu Deutschland festmachen?

Willkommenskultur in der Einwanderungsgesellschaft: Alle gehören dazu, die Vielfalt der Lebensentwürfe und Identitätsentwürfe wird akzeptiert

Menschen entwickeln ein Zugehörigkeitsgefühl zu Gruppen, in denen sie willkommen sind und die ihnen Chancen eröffnen, sich mit ihren Potenzialen und Talenten zu entfalten. Dies beinhaltet auch die Akzeptanz der neuen Mitglieder in ihrem Sosein, in ihrer kulturellen Andersartigkeit, solange sie die Bereitschaft mitbringen, die gemeinsamen Grundwerte ohne Wenn und Aber mitzutragen.

Eingewanderte aus der Türkei und aus anderen Herkunftsländern sind willkommen, wenn sie gute Arbeitnehmer oder Arbeitgeber sind, sich bürgerschaftlich für das Allgemeinwohl engagieren, respektvoll mit anderen umgehen und niemandem schaden. Willkommenskultur heißt: sie gehören selbstverständlich und wenn sie wollen dauerhaft dazu, in Köln als KölnerInnen, in Stuttgart als StuttgarterInnen, als neue InländerInnen, egal wie sie ihr kulturelles Selbstverständnis definieren. Man hat neben der ethnischen Identität als TürkIn zugleich eine Identität als Mann oder Frau, als junger oder älterer Mensch, eine berufliche und familiäre Identität, man ist gläubig oder AtheistIn, HobbygärtnerIn oder MusikerIn, AnhängerIn des FC Köln oder von Galatasaray Istanbul. Wenn man ein Teil dieser Gesellschaft geworden ist, ist auch die eigene Religion – sofern vorhanden - ein Teil dieser Gesellschaft. Der Islam ist ein integraler Bestandteil der religiöser Vielfalt in unserem Land, auch wenn es – abgesehen von den Aleviten - noch keine anerkannte Religionsgemeinschaft der Muslime gibt.

Die Frage ist, wollen wir unsere künftige Integrationspolitik auf der Grundlage der rechtlichen Gleichheit und kulturellen Vielfalt fortsetzen und wenn nicht, was sind dann die Alternativen? Die Ängstlichen unter uns werden fragen: Was macht überhaupt noch die Einheit aus, wenn wir kulturelle Verschiedenheit zulassen? Die christlich-jüdische Tradition ist wie das antike griechisch-römische Erbe ein Bestandteil unserer Zivilisation. Die Richtschnur für das Zusammenleben im Alltag des 21. Jahrhunderts sind jedoch die universellen Menschenrechte und das Grundgesetz als Erbe der Aufklärung und als globaler Weltethos sowie die Verständigung in einer gemeinsamen Sprache.
Bildung in europäischen Einwanderungsgesellschaften ist mehr als Pflege historischer Traditionen – Umgang mit Vielfalt gehört dazu

Der Auftrag unserer Bildungseinrichtungen besteht darin, allen Mitgliedern der Gesellschaft diese Grundlagen zu vermitteln. Der gesellschaftliche Bildungsauftrag umfasst aber auch die Vermittlung von Fähigkeiten, die es uns ermöglichen, in einer pluralistischen Gesellschaft sowie im globalen Zusammenhängen erfolgreich zurechtzukommen. Deswegen sind Mehrsprachigkeit, interkulturelle Kompetenzen und Toleranz gegenüber der Verschiedenheit von Lebensentwürfen Bestandteile der Bildung in einer modernen europäischen Gesellschaft. Toleranz ist darüber hinaus auch ein wichtiger wirtschaftlicher Standortfaktor im globalen Wettbewerb um Märkte und um die besten Köpfe. Städte und Länder, die ein weltoffenes Klima gegenüber Minderheiten leben (seien es ethnische, religiöse oder sonstige Minderheiten) sind wirtschaftlich erfolgreicher und zukunftsfähiger als fremdenfeindliche Gesellschaften.

Grundlagen einer europäische Leitkultur: soziale Gerechtigkeit, kulturelle Vielfalt und Verantwortung der Bürgergesellschaft für eine bessere Welt heute und morgen

Leitende Werte moderner Gesellschaften sind soziale Gerechtigkeit, was die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und von Minderheiten mit einschließt, die Akzeptanz von kultureller Vielfalt, Verantwortung für die Umwelt (sorgsamer Umgang mit den Ressourcen, religiös gesprochen mit der Schöpfung), Verantwortung für die Nachwelt (Vorsorge für die nachwachsenden Generationen über Generationenverträge und eine maßvolle Haushaltspolitik), aber auch Verantwortung für die Wirkungen des eigenen Handelns außerhalb der Grenzen der eigenen Gesellschaft (globale Verantwortung). Man kann diese und andere Werte zu Bestandteilen der eigenen Leitkultur erklären. Warum nicht? Im Falle Deutschlands gehört auch die klare Verurteilung des Antisemitismus, der nationalsozialistischen Ideologie und des Holocaust zum Wertekanon der eigenen Leitkultur. Die Kehrwoche gehört nicht mehr dazu, auch wenn sie viele StuttgarterInnen schwäbischer und türkischer Herkunft nach wie vor einhalten.

Der Islam ist ein integraler Teil unserer kulturellen Vielfalt

Die Ausgrenzung des Islam gehört auch nicht zum Wesen einer so verstandenen deutschen und europäischen Leitkultur, auch wenn kritische Auseinandersetzungen zum Moscheebau ein selbstverständliches Merkmal unserer demokratischen Streitkultur sind. Diese Diskussionen müssen jedoch auf der Grundlage der rechtlichen Gleichbehandlung und in Bezug auf konkrete Konflikte im jeweiligen Einzelfall geführt werden - und nicht in Form von pauschalen Verdächtigungen oder Unterstellungen. Es geht um den produktiven Streit mit dem Ziel, Interessen auszugleichen und rechtskonforme Lösungen im Konsens aller Beteiligten zu finden. Entscheidend sind der respektvolle Umgang mit dem Andersdenkenden und unsere Rechtsordnung. Die Toleranz hört dort auf, wo die Intoleranz des Anderen anfängt. Wenn wir Kirchen, Synagogen und Tempel zulassen, dann auch Moscheen. Religionsfreiheit gilt für alle. Aber es gibt keine Toleranz gegenüber Zwangsheirat und anderen Einschränkungen der Freiheitsrechte des Einzelnen, egal ob diese von einer Gruppe kulturell oder religiös begründet sind. Umgekehrt darf es keine Benachteiligung der Religionsausübung von Muslimen durch kulturell-religiöse Begründungen geben (christlich-jüdisches Erbrecht auf Meinungshoheit). Beides ist unserer aufgeklärten säkularen Gesellschaft und somit unserer Leitkultur wesensfremd. Kurzum: Es gibt keine Benachteiligung aber auch keine Sonderrechte für kulturelle oder religiöse Gruppen. Dies ist kein Kulturrelativismus, sondern das klare Eintreten für die Universalität der Menschenrechte und für die konsequente Gleichbehandlung unserer BürgerInnen und ihrer Lebensentwürfe in der freiheitlich-demokratischen „Integrationsgesellschaft“.

Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integrationspolitik

Die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft wird nicht in erster Linie von der Höhe der Minarette in Köln oder Berlin abhängen, sondern davon inwieweit es uns gelingen wird, die strukturelle Benachteiligung unserer BürgerInnen mit Migrationshintergrund im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt abzubauen. Und davon inwieweit wir als Deutsche ein reflektiertes Selbstbewusstsein in Bezug auf uns und unser historisches Erbe und ein starkes Selbstvertrauen im Umgang mit Anderen entwickeln. Beides ist notwendig, um unser Land in seiner neuen Vielfalt zu lieben und Menschen aus anderen Ländern für unser Gesellschaftsmodell und den damit verbundenen Wertekanon zu gewinnen. Nur dann werden wir zu längerfristig zu den Gewinnern der Globalisierung gehören, wirtschaftlich, aber auch als ein Kulturraum, der weltweit als lebenswert und attraktiv respektiert wird.

(Der Autor Gari Pavkovic ist Integrationsbeauftragter der Stadt Stuttgart und gilt als einer der erfolgreichsten in dieser Funktion hierzulande)