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Montag, 04.03.2002
Schmude (EKD): "Stoff für die Diskussion mit den Moslems über ihre Haltung zum Grundgesetz und zu anderen Religionen gibt es also in Fülle. Die Islamische Charta regt zum Nachdenken an und macht Lust auf das Gespräch."
Dr. Murat Hofmann, einer der "Väter" der "Islamische Charta", meinte dazu gegenüber islam.de: "Diese Charta hat die Qualität einer Absichtserklärung mit Selbstbindungswirkung; denn für eine vertragliche Gestaltung bedarf es immer zwei Partner. Nun ist Politik und Gesellschaft gefragt
Die Reaktionen aus Politik und Gesellschaft "übertreffen alle Erwartungen des Zentralrates", wie der Vorsitzende Dr. Elyas gegenüber islam.de zugibt. Alle wichtigen Tageszeitungen widmeten diesem Thema zahlreiche Berichte und Kommentare über mehrere Tage. Ebenso hat die ausländische Presse die Charta entscheidend gewürdigt. Die wichtigsten türkischen und arabischen Stellen berichteten darüber. islam.de gibt nun ein erstes Zwischenergebnis:
Die "Islamische Charta" haben Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU), die Berliner Ausländerbeauftragten Barbara John (CDU) und die Grünen-Kirchenexpertin Christa Nickels ausdrücklich als einen wichtigen Beitrag für einen offenen interreligiösen Dialog begrüßt.
Die FDP spricht von einem "mutigen Schritt in die richtige Richtung". "Die deutschen Muslime bekennen sich mit der "Islamischen Charta" zu ihrem Land. Nun ist die deutsche Gesellschaft gefordert, sich auch zu ihren Muslimen zu bekennen," heißt es in einer Presseerklärung der kirchenpolitischen Sprecherin Sehn der FDP-Bundesfraktion noch am selben Tag nach Bekanntgabe der Charta durch den ZMD.
"Er war längst überfällig", sagt Christa Nickels. "Erstmals gibt es eine Grundlage für eine Diskussion." Sie ist sicher, dass die Charta viel "an Mutmaßungen und Gerüchten" über den Islam widerlegt. "Der Dialog, der erst jetzt beginnt, wird nicht einfach sein." Sie erkennt großen "Debattenbedarf". Vor allem aber möchte sie von den islamischen Repräsentanten wissen: "Ist die Charta mit ihrem Ja zum Grundgesetz eine moslemische Diaspora-Erklärung, oder ist dieses Bekenntnis das Produkt eigener, tiefer Überzeugung?" fragt sie weiter.
Reaktionen der muslimischen und türkischen Verbände
In diesem Zusammenhang begrüßten islamische Organisationen offiziell die "Islamische Charta". Doch darf man gespannt sein, wie sich inner-islamisch die "Charta" bewährt. Ganz wesentlich wird sein, wie manche Organisationen mit ihren "Hardlinern" umzugehen gedenken. IGMG beispielsweise drückt es mit diesen Worten aus: Als "Schritt in die richtige Richtung" bezeichnete der Generalsekretär der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs, Oguz Ücüncü, die vom Zentralrat der Muslime in der vergangenen Woche veröffentlichte Islamische Charta, indem er in einer Art Grundsatzerklärung die Positionen zur Beziehung der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft sehr gelungen zusammengefasst hat. Der Spiegel meint dazu: "Nadeem Elyas erkennt durchaus, dass die Aussagen der Charta in islamischen Kreisen auf Kritik stoßen werden: "Die Religionsfreiheit anzuerkennen, ist nicht für alle Muslime selbstverständlich.". Trotzdem geht Elyas davon aus, dass die Muslime in Deutschland den Grundsätzen folgen werden. "Ansonsten werden wir auch Mitglieder aus unserer Organisation ausschließen," zeigte er sich entschlossen.
Auch das Hamburger Abendblatt meint: Die 21 für die etwa 600 000 Anhänger des Zentralrates verbindlich aufgelisteten Punkte gelten bei vielen Moslems nicht als Selbstverständlichkeit. "Das Gebot des islamischen Rechts, die jeweilige Rechtsordnung anzuerkennen, schließt die Anerkennung des deutschen Ehe-, Erb- und Prozessrechtes ein", heißt es etwa darin.
Die Türkische Gemeinde in Deutschland kritisiert die kürzlich vorgestellte "Islamische Charta" des Zentralrates der Muslime als "Muster ohne Wert". Der Artikel 10, der dazu Stellung nimmt, ist eher eine Kuriosität. Denn dort heißt es nur, Muslime müssten sich deshalb an Vorschriften der Visa-Erteilung, der Aufenthaltsgenehmigungen und Einbürgerung halten. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit meint sein Sprecher. Leider hat er den Satz nicht weitergelesen, denn da spricht zum ersten Mal eine muslimische Repräsentanz von der islamisch-vertraglichen Grundhaltung dieser Verfassung, die eingehalten werden müsste. Ein juristischer Tatbestand, worüber z.Z. die Verfassungsrechtler und Juristen nach gesicherten Erkenntnissen von islam.de brüten und sich hochüberrascht zeigen.
Es scheint, dass nur die FAZ dies bemerkte, indem sie in einem Kommentar schreibt: "Die von dem Zentralrat der Muslime vorgestellte Islamische Charta ist zunächst ein Fortschritt. Sie will die Muslime in Deutschland "verpflichten", sich an das Grundgesetz und an die Rechtsordnung zu halten. Auch plädiert sie für die Herausbildung einer eigenen muslimischen Identität in Europa."
Dass die Türkische Gemeinde in Deutschland dann noch nachfasst und die Charta als Täuschung für die Öffentlichkeit bezeichnet, katapultiert sie sich damit vollends aus der intellektuellen Diskussion um die Gestaltung des muslimischen Lebens in Deutschland.
Reaktion der Kirchen
Der Präses der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands Jürgen Schmude meint in einem bemerkenswerten Kommentar in der "Welt":
"Die Islamische Charta bezieht Positionen, über die man reden kann, aber auch muss (...). Ob der Zentralrat dabei für viele oder für sehr viele Moslems spricht, ist zweitrangig. Die Diskussion mit ihm kann ein Kristallisationspunkt sein, der andere Gesprächsebenen einbindet oder folgen lässt. Weiter schreibt er: Dass "das Recht, die Religion zu wechseln, eine andere oder gar keine Religion zu haben", akzeptiert wird, hört man gern. Aber dürfen wir das auch erwarten, wenn dieses Recht von Moslems gestaltet und von Christen oder Nichtreligiösen beansprucht werden soll? Die Praxis in islamischen Staaten ist darin zwar unterschiedlich, aber selbst in der tolerantesten Form noch unakzeptabel."
Diese berechtigte Frage darf uns nicht wegschauen lassen, was in den muslimischen Ländern passiert, dennoch sei hier angemerkt, dass der ZMD sich vornehmlich um die Belange der in Deutschland lebenden Muslime sorgen muss, wie er das auch in dem Vorwort der "Charta" deutlich zum Ausdruck bringt. Der Adressat für diese Länder sind insbesondere die Botschaften; der ZMD sollte dennoch weiterhin klar die Einhaltung der Menschenrechte in diesen Ländern einklagen, was sicherlich nicht immer Freude bereiten und auf Zustimmung in diesen Länder treffen wird.
Weiter meint Schmude für die Zukunft des Papiers: "Stoff für die Diskussion mit den Moslems über ihre Haltung zum Grundgesetz und zu anderen Religionen gibt es also in Fülle. Die Islamische Charta regt zum Nachdenken an und macht Lust auf das Gespräch."
Weitere Reaktionen:
TAZ hob ein anderes wichtiges Thema der Charta hervor, nämlich das des Frauenbildes im Islam. Dieses Thema, so die TAZ, wurde bei der Präsentation der Charta gewürdigt und zitiert Ferya Banaz, die stellvertretende Vorsitzende des ZMD. Sie betonte, wie viele Rechte die Frauen im Islam hätten und beklagte die Diskriminierungen, denen gläubige Muslimas in Deutschland ausgesetzt seien. Ihr ganz persönliches Resümee lautet: "Unser Problem ist nicht die Frau im Islam, sondern die muslimische Frau und ihre Rechte in Deutschland." Weiter heißt es in der TAZ: "Die Islamische Charta ist allerdings nicht nur ein Schriftsatz, mit dem Muslime ihre Loyalität zum deutschen Rechtsstaat erklären. Sie ist gleichzeitig ein Dokument, wie weit der Weg zur rechtlichen Gleichstellung für den Islam in Deutschland noch ist, wie weit die Politik der Anerkennung noch hinter der Realität herhinkt: Einrichtung muslimischer Friedhöfe, islamischer Religionsunterricht, Genehmigungsverfahren zum Bau von Moscheen - für Juden und Christen selbstverständlich, ist für Muslime hierzulande noch lange nicht billig."
In der "Süddeutsche Zeitung", "Berliner Zeitung", "Tagesspiegel" und über 30 Tageszeitungen fanden sich umfangreiche Artikel und Kommentare über die "Charta". Die "Frankfurter Rundschau" berichtet mehrmals auf den ersten Seiten und lichtete die gesamte Charta ab. Die meisten Berichte verwiesen in diesem Zusammenhang auf islam.de, wo die "Islamische Charta" abrufbar ist. Sicherlich auch ein Grund, warum sie z.Z. der meistgelesene Artikel innerhalb von islam.de darstellt.
Wir dürfen gespannt sein, wie sich die weitere Diskussion entwickeln wird. Insbesondere werden aus der Wissenschaft und der Kirche sicherlich noch Reaktionen kommen. Prof. Rohe aus Erlangen z.B. zeigte sich "hochinteressiert, die Diskussion mit Verfassungs- und Staatsrechtlern weiterzuführen". Dr. Murat Hofmann, einer der wichtigsten Ideengeber und "Väter" der "Islamische Charta", meinte dazu gegenüber islam.de: "Diese Charta hat die Qualität einer Absichtserklärung mit Selbstbindungswirkung; denn für eine vertragliche Gestaltung bedarf es immer zwei Partner. Nun ist Politik und Gesellschaft gefragt".
Mit dieser "Islamischen Charta" hat sich der Zentralrat sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag zum kritischen Dialog in der islamischen Gemeinschaft in Deutschland und hat eine Handreichung für die Öffentlichkeit zur klaren Standortbestimmung für Muslime in diesem Land geschaffen, indem das Ja zum deutschem Recht und zur deutschen Gesellschaft deutlich formuliert, begründet und dokumentiert wird.