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Mittwoch, 01.11.2006
Wovor fürchten wir uns? - Um das Kopftuch geht es längst nicht mehr
Wir Muslime verdrängen unsere Missstände nur zu gern - Mohamed Laabdallaoui
Was soll man noch zur Kopftuchdebatte sagen, nachdem doch schon alle Argumente zur Genüge ausgetauscht worden sind? Die Pros und Contras sind ergiebig vorgetragen worden. Sie scheinen sich derart unversöhnlich gegenüberzustehen, dass ein Mittelweg nicht möglich erscheint. Sie schließen sich gegenseitig aus. Sogar die zuständigen Richter am Bundesverfassungsgericht – wir erinnern uns: das Kopftuchurteil – scheinen in dieser Situation nur deshalb einen Kompromiss haben finden können, weil sie mussten. Auch dieses Gremium spaltete sich in zwei Fraktionen und traf eine Mehrheitsentscheidung. Entsprechend gab das Urteil materiell weder dem einen noch dem anderen Lager Recht, auch wenn gerade die Muslime es gern als Sieg sehen wollten. Es fand genau genommen auch keinen Mittelweg. Es verlagerte sein Urteil vielmehr auf ein anderes Feld, nämlich das formaljuristische: Es urteilte weder pro noch kontra Kopftuch, sondern entschied lediglich, dass die Gesetze hierzu erst noch zu verabschieden seien. Sie vermerkten zwar ausführlich, dass dabei die Gleichberechtigung der Religionen zu beachten sei, was aber strenggenommen überflüssig und gar nicht angefragt war. Einige der Richter waren so sehr in der Denkweise des ersten Lagers gefangen, dass sie sich genötigt sahen, dies mit eigenen Stellungnahmen klarzustellen. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass die Spaltung zwischen den Lagern nicht etwa zwischen einer muslimischen, kopftuchtragenden Minderheit und der Mehrheitsgesellschaft verläuft, sondern mitten durch die gesamte Gesellschaft, ihre Minderheiten wie ihre Mehrheiten, bis hin in ihre höchste Urteilsinstanz.
Um die Leser weder mit den Argumenten der einen oder der anderen, noch mit einem fragwürdigen Versuch einer Synthese zwischen beiden Seiten zu langweilen, will ich lieber die Frage stellen nach den Thesen hinter den Thesen, nach den Beweggründen hinter den Meinungen. Denn es ist doch offensichtlich, dass es beiden Seiten nicht eigentlich um das besagte „Stück Tuch“ geht.
Um das Kopftuch geht es längst nicht mehr
Das Kopftuch steht in der Debatte vielmehr stellvertretend für mehr. Nicht um das Kopftuch wurde debattiert, sondern um das, wofür es zu diesem Zweck zum Symbol gemacht wurde, nämlich um die Lebensanschauung, die Lebenshaltung, die Lebensinhalte, die hinter dem Kopftuch vermutet wurden oder tatsächlich stehen. Dabei ist es völlig belanglos geworden, aus welchen Gründen das Kopftuch im konkreten Fall getragen wird.
Die vermuteten oder tatsächlichen Lebensinhalte werden in den beiden Lagern nicht einheitlich wahrgenommen. Auf der Seite der Kopftuchgegner werden sie derart geahnt, dass sie Ängste hervorrufen. Zum einen sind diese Lebensinhalte fremd und unbekannt und eben deshalb schon beängstigend. Zum anderen stellt diese Lebenshaltung liebgewonnene und bisher nicht angezweifelte Überzeugungen und Selbstverständnisse in Frage.
Da sind z.B. Feministen, die die Kopftuchträgerin befreien wollen, und die Beharrlichkeit, mit der die Kopftuchträgerin dieses Ansinnen ablehnt. Das Kopftuch zeugt hier offensichtlich von einem ganz anderen Freiheitsbild: kann es etwas geben, das noch schöner, wertvoller als die Freiheit ist, die die Feministinnen im Bilde haben? Die Festigkeit und Gelassenheit, mit der die Kopftuchträgerin diese Überzeugung lebt, die Gleichgültigkeit und Erhabenheit, mit der sie das Befreiungsangebot nicht erwidert, sind unbegreiflich, unvereinbar mit dem Bild, das die andere Seite von der Welt und dem Menschen hat.
Da sind z.B. fast schon als missionarische Eiferer zu bezeichnende Apologeten der „christlich-abendländischen“ Werte, die sehen, wie eine Frau mit Kopftuch erfüllt und zufrieden sein kann, obwohl Erfüllung und Zufriedenheit nach ihrem Weltbilde nicht mit dem vereinbar sind, was sie hinter dem Kopftuch ahnen.
Angst um eigene und vor fremden Weltbildern
Es ist also auch eine Angst um das eigene Weltbild, um für unumstößlich gehaltene Überzeugungen, die plötzlich vor der Bedrohung stehen, womöglich überdacht werden zu müssen, zumindest in ihrer Universalität: Zum Beispiel die Gleichberechtigung der Geschlechter: Ist sie etwa kein absoluter Wert? Kann es etwas besseres geben? Oder ist es gar noch viel einfacher, dann aber peinlicher: Eben doch Gleichberechtigung, aber nur ganz anders?
Zum Beispiel der Glaube an Offenbarung: Ist die tiefe Skepsis, mit der das humanistische Abendland Offenbarungstexten gegenübertritt, etwa doch nicht der Weisheit abschließender Stand? Kann es heute doch noch eine Berechtigung dafür geben, dass Menschen den Text der Offenbarung für bare Münze nehmen, ihr Leben danach ausrichten, auf seiner Grundlage sogar so etwas unzeitgemäßes wie das Kopftuch tragen? Ist die menschliche Vernunft dem Offenbarungsglauben etwa doch nicht überlegen? Oder ist es auch hier gar noch viel banaler, dann aber peinlicher: Gibt es zwischen Vernunft und Offenbarung vielleicht am Ende doch keinen Widerspruch, schließen sie sich zumindest gegenseitig nicht aus?
Neben die Angst vor dem Unbekannten und die Angst um die eigene Weltanschauung tritt noch eine tiefe Abscheu vor Phänomenen, die man in jenen Kulturen verortet, in denen das Kopftuch getragen wird. Da ist das Thema der Zwangsverheiratung, der Unterordnung und Entmündigung der Frau, der stiefmütterlichen Behandlung der Tochter bei gleichzeitiger Förderung des Sohnes, der oft beobachtete karikaturartige Abstand, in dem eine Frau mit Kopftuch ihrem vorangehenden Mann folgt.
Wir Muslime verdrängen unsere Missstände nur zu gern
Auf der Seite der Muslime, die das „Recht auf Kopftuch“ verteidigen, kann die Existenz solcher Missstände nicht geleugnet werden. Wir müssen einräumen, dass es Zwangsverheiratung, Entmündigung, Benachteiligung gibt. Auch wir beobachten die Frauen, die im Abstand von fünf Metern ihren Männern folgen, manchmal dabei auch noch die schwere Einkaufstüte tragend, während der Mann außer einem Rosenkranz oder einer Zigarette nichts trägt. Auch wir müssen zugeben, dass die Zustände im Afghanistan der Taliban voller Entwürdigung und Demütigung der Frauen war. Es stimmt, dass wir sagen, dass diese Verhältnisse uns Muslime zutiefst schmerzen, dass wir sie ablehnen, gerade weil wir Muslime sind. Und es stimmt, dass wir uns in einem ungleichen Kampf gegen die Macht der Medien und Vorurteile dagegen wehren, dass der Islam, den wir so lieben und verehren, oft gegen besseres Wissen mit diesen Zuständen gleichgesetzt wird. Es stimmt, dass die Berichterstattung oft sensationsfixiert übertreibt, aus Einzelfällen algemeingültige Bilder produziert, die Dinge einseitig darstellt und verzerrt. Aber der Islam ist zu anspruchsvoll, als dass wir alles damit abtun könnten. Wir machen es uns zu einfach, viel zu einfach, wenn wir behaupten, das eigentliche Problem bestehe in den Medien, nicht in unserer Wirklichkeit. Und doch neigen wir sehr oft genau hierzu.
Wir müssen uns vor allem vorhalten lassen, dass wir in diesem Zusammenhang meist reaktiv sind: Wir warten darauf, dass andere die Missstände aufdecken und in die Medien bringen und rufen dann erst laut, dies sei aber doch nicht der Islam und man solle doch bitte nicht pauschalisieren, vereinfachen, übertreiben.
Taliban und Zwangsehen – und pfiffige Karrieristen
Zum Beispiel die unselige Zeit der Taliban in Afghanistan: Wir Muslime waren nicht diejenigen, die sich die Widerherstellung der Menschenwürde der Frau – und auch des Mannes – auf die Fahnen geschrieben hätten. Hatten wir Angst, unseren Brüdern am Hindukusch in den Rücken zu fallen, wo sie sich noch wenige Jahre zuvor so vorbildlich gegen den russischen Imperialismus gestellt hatten? Oder hatten wir gar Angst, uns und der Welt einzugestehen, dass ein Volk, dass sich für den Islam entschieden hat, nicht gleich auch eine „beste Umma“ ist?
Zum Beispiel die Zwangsverheiratung türkischer Mädchen mit Männern, die sie nicht kennen und nicht wollen. Wir, ich meine damit die praktizierenden Muslime und seine Apologeten, die Moscheen, Prediger und islamischen Organisationen, wir waren es nicht, die das Problem aufgegriffen hätten, zum Beispiel in Freitagspredigten, wo wir es wahrscheinlich effektiver als Andere hätten bekämpfen können. Wir haben darauf gewartet, dass darüber von anderen Romane und Studien verfasst und Reportagen ausgestrahlt wurden. Erst dann riefen wir, der Islam kenne die Zwangsheirat nicht. Zu spät. Pfiffigere Leute waren da längst sogar mit erlogenen Autobiografien zu Helden im Kampf gegen den „archaischen Islam“ geworden.
Schließlich noch das Beispiel des Siebenmeterabstands: Wir haben zu diesem Thema keine Satiren verfasst, keine Theatersketche aufgeführt und keine statistischen Erhebungen gemacht. Wir warten darauf, dass das Thema im Kabarett des deutschen Fernsehens aufgegriffen wird, vielleicht so unsensibel, dass es uns verletzt und wir auch dazu aufgeregt Stellung beziehen und sogar demonstrieren. Diese Beispiele haben zwar nicht alle etwas mit dem Kopftuch zu tun, sind aber das, was andere in die Welt des Kopftuchs projizieren und was wir uns anrechnen lassen müssen, weil wir es so gern verdrängen.
Vielleicht haben auch wir Angst. Zwar nicht vor dem Unbekannten oder vor der Erschütterung unseres Glaubens. Vielleicht aber vor der Blöße, die wir uns und unserer Umma, der ach so holden, geben würden. Vielleicht irre ich mich auch einfach und wir haben nicht Angst, sondern meinen einfach, mit größeren Herausforderungen beschäftigt zu sein. Aber dann meine ich, sollten wir schleunigst unsere Prioritäten überdenken. Vielleicht wissen wir einfach nur nicht, wie wir diese Probleme angehen sollen. Denn es sind ja unsere eigenen Schmerzen, wir sind direkt betroffen und wären daher befangene, hilflose Selbsttherapeuten. Es wäre aber schade, wenn wir unsere Probleme nicht selbst zu lösen versuchen, vielleicht dann auch behutsam und ohne die Wunden noch weiter aufzureißen, ohne uns in eine dialektische Schleuderfahrt zu manövrieren. Es wäre schade, wir wären unglaubwürdig, die Vorwürfe könnten berechtigt sein, und wir müssten sie uns noch lange vorhalten lassen.
Der Islam kann positiv wirken
Das Gesagte trifft auch auf andere Bereiche zu, aber insbesondere auf die Situation der Frau, die übrigens auch die Situation des Mannes ist. Wir Männer können nicht glücklich sein, wenn unsere Schwestern unglücklich sind, und das umso mehr, je frommer, je verwurzelter wir im Glauben sind, nicht nur aus Mitempfinden mit unseren Schwestern, sondern weil wir Männer ja meist auch direkt unter solchen Zuständen leiden.
Damit kein falsches Bild entsteht: Es ist noch nichts gesagt worden über den Zusammenhang zwischen dem Phänomen des Kopftuchs und den Missständen in muslimischen Familien. Es ist mir auch keine statistische Erhebung bekannt, die untersucht hätte, ob eine Korrelation besteht zwischen bewusster Religiosität, meinetwegen festgemacht am Merkmal „kopftuchtragende Ehefrau“ und zum Beispiel Gewalt in der Ehe. Ich bin überzeugt, es gibt sie – und sie ist negativ: Je bewusster die Eheleute ihren Glauben leben, desto weniger Gewalt herrscht in den Familien, desto mehr beteiligen sich die Männer an der Bewältigung des Haushalts und an der Kindererziehung. Ich bin mir dessen sicher, weil für mich ein bewusstes Leben im Islam bedeutet, dass man sich am Beispiel des Propheten des Islam orientiert, und der hat ja in einer ganz berühmten Überlieferung gesagt: „Die besten unter euch sind die besten zu ihren Frauen.“ Oder „Nur ein Edler ist ihnen gegenüber edel, und nur ein Niederträchtiger wird sie demütigen.“ Und er hat seine Kleider gern selbst geflickt und war zuhause nach Aussage einer seiner Ehefrauen „im Dienst seiner Familie“. Und ich weiß, dass es diese Zitate sind, die in den Moscheen zu diesem Thema zu hören sind und nicht der berühmte Koranvers, der dem Mann nach landläufiger Meinung die Züchtigung seiner Frau erlaubt.
„Damit sie erkannt werden…“
Als Muslime und als Mitbürger in dieser Gesellschaft, als Teilhaber an unserer einen Welt sollten wir jedoch nicht nur unsere eigenen Probleme zu lösen in der Lage sein, wir sollten auch den Anspruch haben, eine Bereicherung der Menschengemeinde zu sein. Und das umso mehr, als wir doch so überzeugt sind von dem islamischen Lebensentwurf. Es ist ja nicht von ungefähr, dass wir nach dem Islam leben wollen, obwohl wir seit unserer frühen Sozialisierungsphase der Propaganda gegen ihn mehr ausgesetzt sind als der Predigt für ihn, dass wir uns nach den Regeln des Islam kleiden, obwohl das nicht nur selten „in“ ist, sondern damit ja auch mannigfache Nachteile in Schule, Ausbildung, Studium und Beruf verbunden sind.
Bereichern aber womit? Was hat es mit der Kleidung auf sich, wie sie der Islam empfiehlt? Allgemein dürfte gelten, dass wir unsere Kinder anziehen, weil wir sie beschützen wollen, etwa vor Kälte. Später ziehen wir uns auch an, um schön zu sein. Wir bekleiden uns. „Ihr Kinder Adams, Wir haben auf euch Kleidung hinabgeschickt, die eure Blöße bedeckt, und auch Federn. Und die Kleidung der Frömmigkeit, die ist besser.“ Zum Schönsein gehört die Bedeckung der Blöße, nicht jedoch zur erotischen Anzüglichkeit. Schönsein ist nicht sexy sein. Diese Verwechslung ist im Islam nicht möglich. Weder beim Mann noch bei der Frau.
Konkret zur Kleidung der Frau finden sich im Koran zwei Stellen, von denen eine hier zitiert werden soll: „O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Überwurf über sich herunterziehen. Das bewirkt eher dass sie erkannt werden und dass sie nicht belästigt werden.“ Die ratio legis wird hier nicht mit Unterordnung oder Fügsamkeit angegeben, sondern damit, dass die Frau erkannt werde. Ist sie denn nicht gerade erkennbarer, je weniger sie gekleidet ist? Vielleicht sieht man mehr von ihrem Körper, aber man erkennt sie deswegen nicht eher. Einer Frau, die sich nach islamischer Weise kleidet, schaut man wohl eher ins Gesicht als einer, die einem mit tiefem Ausschnitt, enger Bluse und bauchfrei gegenübertritt. Das Gesicht ist das Antlitz des Mannes und der Frau, es ist darüber hinaus in erster Linie schön, während der Körper in erster Linie erotisch sein will. Voraussetzung für das Gesagte ist natürlich, dass das Gesicht der Frau überhaupt sichtbar ist, was als theologische Auffassung seit mindestens 1300 Jahren leider nur von 99% der Muslime geteilt wird.
Europa hat uns kolonialisiert – und aufgeweckt
Aber bevor wir über das Bereichern unserer Umwelt nachdenken, sollten wir uns bewusst sein, in welcher Beziehung wir zu ihr stehen. Wenn wir Muslime unter uns sind, kann man sich manchmal des Eindrucks einer gewissen Selbstgefälligkeit nicht erwehren, nach dem Motto: Wir haben die Offenbarung, also sind wir besser. Wir sind vom Prinzip her eigentlich gesund, während unsere Umwelt vom Prinzip her eher problematisch ist. Es oft mehr als Selbstgefälligkeit, es ist manchmal sogar Hochmut und Chauvinismus. Wir sollten jedoch ehrlich sein – und ich will diesen Punkt noch mal an der Frage der Frau festmachen: auf viele edle Aspekte des Islam sind wir nicht von selbst gekommen, sondern erst die geistige Auseinandersetzung mit Europa hat uns darauf gebracht. Heute sehen wir so manche Punkte als urislamisch an ohne uns eingestehen zu wollen, dass der Westen uns zu dieser Haltung geradezu gezwungen hat. Erst im Argumentationszwang haben wir Überlieferungen des Propheten herausgekramt, die wir fast vergessen hätten: das Recht der Frau auf Scheidung, ihr Recht auf freie Partnerwahl, die Frau im öffentlichen Amt, die Bildungspflicht der Frau.
Hat uns etwa Europa erst gezwungen, die Offenbarung zu lesen? In gewisser Weise schon: Wir haben einige Jahrhunderte lang ein ziemlich unbewegtes, unlebendiges Dasein gefristet. Nun ist der Koran nach eigener Formulierung aber gekommen, um die „zu warnen, die lebendig sind“. Um den Koran zu verstehen, muss man also erst aufwachen. Europa ist mit seiner Waffengewalt und mit seinem Geist gekommen und hat uns aufgerüttelt. Es hat in uns also erst die Voraussetzung geschaffen, die Botschaft des Koran zu empfangen. Seither erst setzen wir uns mit dem Koran und mit dem Beispiel des Propheten wieder aktiv auseinander, statt sie nur passiv zu tradieren und zu katalogisieren.
Allerdings haben wir uns geistig seither mehr oder weniger analog zu unserer politischen Haltung verhalten: wir haben uns verteidigt. Wir haben Antworten gesucht auf Fragen, die uns gestellt wurden, waren passiv und reaktiv, statt aus uns heraus eigene Fragen zu stellen, sie so zu formulieren, dass sie von echter Relevanz wären. Deshalb sind so viele Schriften, die von uns zur „Frau im Islam“ verfasst wurden, theoretische und apologetische Schriften gewesen und waren weit davon entfernt, Antworten auf unsere eigenen Probleme in diesem Zusammenhang zu sein. Das wäre auch nicht möglich gewesen, denn unsere eigenen Probleme haben unsere Gelehrten nicht erkannt und die entsprechenden Fragen auch nicht gestellt. Es waren Denker wie Nawal el-Saadawi und Fatima Mernissi sind hingegen von den Problemen der muslimischen Frau ausgegangen, um dann Antworten zu formulieren, zugegebenermaßen oft ideologisch sehr befangen. Die Gelehrten waren sehr hellhörig, wenn sie dabei Thesen aufstellten, die in klarem Widerspruch zur islamischen Doktrin standen, und haben ihnen von dieser Warte aus widersprochen. Die realen Probleme der Frau, um die es doch ging, haben sie dabei nicht registriert oder nicht ernst genommen. Ihre Reaktion war reflexartig: Verteidigung gegen die „geistige Invasion“ des Westens. Es war dabei immer die Verteidigung eines Ideals. Die Missstände der Realität haben sie zwar anerkannt, gleichzeitig aber lapidar als „kulturelle Tradition“ disqualifiziert und damit von der eingehenderen Untersuchung ausgeschlossen. Wir hatten unser Alibi gefunden.
Statt auf die Probleme der sozialen und kulturellen Wirklichkeit authentische und damit sachdienliche Antworten zu finden, haben wir uns mit der theoretischen Beantwortung theoretischer Fragen abgefunden. Wir haben der heutigen Realität das historische Ideal entgegengesetzt und es dabei belassen. Es wird Zeit, in der Realität aufzuwachen. Noch mal.
(Der Autor ist islam.de-Redakteur und Projektleiter von
muhammad.islam.de)
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