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Montag, 10.07.2006

"Es fehlt der politische Wille"

Interview mit Aiman Mazyek über die Einführung des islamischen Religionsunterrichtes bei Bildung PLUS, 13.04.2006

Der Zentralrat der Muslime fordert eine bessere Integration von Migranten in deutsche Schulen, unter anderem durch die Einführung islamischen Religionsunterrichts. In Deutschland leben derzeit 3 Millionen Muslime. Rund 700.000 islamische Schülerinnen und Schüler besuchen deutsche Schulen. Religionsunterricht an staatlichen Schulen gibt es für sie bisher nur in Ausnahmefällen. So bleibt die religiöse Unterweisung weiterhin dem außerschulischen Bereich vorbehalten: Aktuell werden schätzungsweise 2.500 Korankurse in Deutschland angeboten und fast jedes muslimische Kulturzentrum unterrichtet auch Kinder und Jugendliche in der Auslegung des Koran. Cirka 15 Prozent der muslimischen Kinder werden zu diesem Unterricht geschickt, der meist unentgeltlich und in arabischer Sprache stattfindet.
Versuche, islamischen Religionsunterricht in das Unterrichtsangebot der allgemein bildenden Schulen zu integrieren, gibt es bereits in einigen Bundesländern z.B. Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Baden-Württemberg. In Nordrhein-Westfalen bieten rund hundert Schulen das Unterrichtsfach „Islam“ an. Hier soll sachlich und in Deutsch über den Islam informiert, jedoch kein glaubensorientierter Unterricht durchgeführt werden. Viele befürworten diese Art des Religionsunterrichts, versprechen sich ein informatives Gegengewicht zu islamistischen Strömungen und erwarten, dass so die Moscheen ihre Monopolstellung verlieren. Unter anderem wird im Schuljahr 2006/07 Baden-Württemberg ein Modellversuch mit glaubensorientierter Religionslehre an zwölf Grundschulen beginnen. Aiman Mazyek, Generalsekretär des Zentralrats der Muslime in Deutschland, betont den Religionsunterricht als Grundrecht sowie seine integrative und allgemein positive Wirkung auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund.

Bildung Plus: Nehmen Diskrimierungen von Muslimen an Schulen durch die aufgeheizte Stimmung der vergangenen Jahre oder auch den Karikaturenstreit stärkere Ausmaße an und wenn ja, wie äußern sie sich?

Aiman Mazyek: Wir beobachten seit dem 11. September stärkere Diskriminierungen, aber auch Handgreiflichkeiten bis hin zu Moscheebränden. Einzelne Entgleisungen oder Ausschreitungen wie der Karikaturenstreit verstärken diese Tendenz.

Bildung Plus: Was verspricht sich der Zentralrat der Muslime von der Einführung eines islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen?

Aiman Mazyek: Wir treten schon seit zwanzig Jahren für die Einführung eines Islamunterrichtes an Schulen ein. Wir versprechen uns die Möglichkeit für einen jungen heranwachsenden Bürger, gleichberechtigt mit seinen Mitschülern einen Religionsunterricht zu besuchen. Laut Grundgesetz zielt der Artikel 7.3 ausdrücklich darauf ab, dass dies ein verbrieftes Grundrecht in diesem Land ist. Darauf möchten wir Muslime nicht verzichten.

Bildung Plus: Schon seit den 80er Jahren fordert der Zentralrat der Muslime einen regulären Islamunterricht an öffentlichen Schulen. Der ehemalige Zentralratvorsitzende Nadeem Elyas sagte, die Politik erkenne nicht den Ernst der Lage, dass die Integration ganzer Generationen von Muslimen davon abhänge. Ist dies auch Ihre Meinung?

Aiman Mazyek: Ja, das ist auch meine Meinung. Wir sehen das jetzt am Beispiel der Berliner Schulen. Es gibt eine Verrohung von Sitten, Entgleisungen, einen Hang zur Gewalttätigkeit, die Kriminalisierung von Jugendlichen, auch bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Wir sind der Meinung, dass eine gute, ordentliche und auch religiöse Ausbildung gegen solche Phänomene vorbeugt oder sie auffangen kann. Manchmal habe ich den Eindruck, dass man lieber Jugendliche ohne Benehmen und Charakter haben möchte als vermeintlich islamisierte, die aber später zu steuerzahlenden, familiengründenden und ordentlichen Bürgern werden. Das ist unsere Beobachtung und das gibt großen Anlass zu Sorge.

Bildung Plus: Das heißt, die Religion gibt solchen Jugendlichen Identität und Halt?

Aiman Mazyek: Ja, sie gibt Identität, Sicherheit und Halt. Es wird landauf und landab beklagt, dass so etwas fehlt. Warum können Muslime dann nicht auch ihrerseits eine Identität schaffen? Das heißt ja nicht, Abgrenzung von der hiesigen Mehrheitsgesellschaft, sondern es geht hier um eine deutsch-islamische Identität.

Bildung Plus: Woran liegt es, dass viele Länder islamischen Religionsunterricht nicht oder noch nicht umsetzen?

Aiman Mazyek: Die drei Bundesländer, die es umsetzen, machen es halbherzig. Oft sind es nur vollmundige Ankündigungen. Über Jahre erleben wir, dass Politiker versprechen: „Wir brauchen islamischen Religionsunterricht“. Doch dann fehlt der politische Wille, dies auch umzusetzen. Wir haben keine Kirchenstruktur auf der muslimischen Seite, sondern eine dezentrale Situation. Aber das ist ja nichts Schlechtes - im Gegenteil, das kann ja auch etwas Gutes sein. In Niedersachsen sieht man, dass die Muslime an einem runden Tisch teilnehmen und gewillt sind mitzuarbeiten.

Bildung Plus: Ein Hindernis auf dem Wege zur Umsetzung des islamischen Religionsunterrichts ist wohl auch, dass weder der Zentralrat der Muslime noch der Islamrat eine repräsentative „Religionsgemeinschaft“ darstellen. Das Grundgesetz fordert für die Einrichtung eines regulären Religionsunterrichts eine Religionsgemeinschaft als Ansprechpartner. Da dieser fehle, könne kein islamischer Religionsunterricht an Schulen eingeführt werden. Warum gibt es keine übergeordnete Religionsgemeinschaft?

Aiman Mazek: Man sagt, „Ihr Muslime müsst erst mal eine einheitliche Organisation sein und Ihr müsst alle Muslime damit abdecken.“ So etwas gibt es nirgendwo in Deutschland. Auch die Christen haben unterschiedliche Religionsgemeinschaften. Es ist einfach eine rhetorische Ausrede, um davon abzulenken, dass die Umsetzung eines islamischen Unterrichtes sehr wohl organisierbar wäre. Es ist ein gern genutztes Argument nach dem Motto „Es gibt den Islamrat, Zentralrat etc. und deswegen können wir nicht mit einer Organisation zusammenarbeiten“, doch es spräche nichts dagegen, mit allen zusammen den islamischen Religionsunterricht zu organisieren.
Es gibt drei alevitische Organisationen in NRW, eine davon stellte vergangenes Jahr einen Antrag auf Religionsunterricht. Die damalige Regierung gab ein Gutachten in Auftrag und überprüfte, ob dieser Antrag ausreicht, die alevitische Religionsgemeinschaft als solche anzuerkennen und auf Basis des Gesetzes den Religionsunterricht umzusetzen. Inzwischen finden die Vorbereitungen für den alevitischen Religionsunterricht statt. Natürlich gibt es Schwierigkeiten, aber wichtig ist, dass der gute Wille zu sehen ist und Möglichkeiten der Umsetzung sehr wohl vorhanden sind.

Bildung Plus: Um den Lehrplan für einen muslimischen Unterricht aufzustellen, hatte das Kultusministerium Niedersachsen eigens einen Runden Tisch mit allen muslimischen Glaubensrichtungen gebildet. Letztendlich wurde der Unterrichtsstoff von allen muslimischen Religionsgemeinschaften, mit Ausnahme der Aleviten, akzeptiert. Können Sie Beispiele für Themen nennen, die auf diesem Lehrplan stehen?

Aiman Mazyek: Eines der Grundlagen ist das Curriculum, das der Zentralrat der Muslime gemeinsam mit Pädagogen vor 15 Jahren erarbeitet hat. Das ist eine Grundlage des Niedersachsen-Modells. Wie gesagt, es ist noch ein Modell und ist noch nicht umgesetzt. Es bleibt zudem abzuwarten, wie die niedersächsische Regierung die islamischen Organisationen einbinden wird. Thematisch stehen die Grundlagen des Islams auf dem Lehrplan, wie „woran glauben Muslime?“ und „die fünf Säulen“. Die fünf Säulen sind: Die Einheit Gottes, das fünf mal tägliche Gebet, die dritte Säule ist der Fastenmonat Ramadan, die vierte Säule die Armensteuer, die fünfte Säule ist die Pilgerfahrt und wie sie verrichtet wird.“ Auf diesen fünf Säulen basiert der Islam.

Bildung Plus: Welche Universitäten in Deutschland bieten schon einen Studiengang wie „Islamische Religionslehre“ für angehende Lehrerinnen und Lehrer an?

Aiman Mazyek: Die Universitäten Münster und Erlangen bieten diese Studiengänge. Zudem bereitet die Universität Osnabrück einen solchen Studiengang vor. Wie dort der aktuelle Stand aussieht, weiß ich nicht. Das sind in der Tat nicht viele Universitäten, aber es sind zumindest schon interessante und viel versprechende Ansätze vorhanden.

Bildung Plus: Axel Ayyub Köhler sprach kürzlich als Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland von der „Schule als Ort der Toleranzeinübung“. Was denken Sie über das viel diskutierte Tragen von Kopftüchern in Schule und Öffentlichkeit, über die Darstellung nackter Menschen im Sexualkundeunterricht und über die Teilnahme muslimischer Schülerinnen und Schüler am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht?

Aiman Mazyek: Ich denke, die Schule ist in der Tat ein Ort, an dem Toleranz eingeübt werden kann. Ich bin ja selbst in Deutschland zur Schule gegangen und kann das nachvollziehen. Wo soll den sonst Toleranz gelehrt werden, wenn nicht in der Schule? Deswegen denke ich auch, dass wir mit Verbotsgesetzen, wie beispielsweise einem Kopftuchverbotsgesetz nicht weiter kommen. Dadurch verschlimmert sich die Situation eher. Doch in Nordrhein-Westfalen ist man überzeugt, dass die Probleme sich verringern, sobald das Kopftuchgesetz in Kraft tritt. Das Gegenteil wird der Fall sein, dann gehen die Probleme erst richtig los.
Was den Schwimmunterricht betrifft, haben wir ja Gesetze, beziehungsweise hier sind Urteile gefällt worden, dass sich muslimische Mädchen insbesondere in ihrer Pubertätsphase von ihrem Glauben her nicht mehr vor dem anderen Geschlecht zeigen sollen. Dementsprechend findet auch getrennter Schwimmunterricht und dergleichen statt. Beim allgemeinen Sportunterricht gibt es von islamischer Seite keinen wie auch immer gearteten Beweggrund, daran nicht teilzunehmen. Trotzdem gibt es sicherlich Eltern, die das nicht erlauben. Das hat dann aber mit der individuellen Erziehung und deren Herkunft zu tun und weniger mit dem islamischen Glauben. Auch da versuchen wir innerhalb unseres Verbandes aufzuklären, beispielsweise durch Fortbildungsseminare und mitzuteilen, dass das nichts mit der elterlichen Erziehungspflicht zu tun hat, sondern, dass es hier Grenzen gibt. Hier fordern wir die Eltern auch auf, an Elternabenden mitzuwirken und die Sprechtage zu besuchen.
Was den Sexualkundeunterricht betrifft, wird dies etwas verkürzt gesehen. Denn nicht nur muslimische Eltern mit Migrationshintergrund möchten wissen, wie der Unterricht aufgebaut ist, sondern ebenso deutsche Eltern, einfach weil dies eine sehr sensible Angelegenheit ist, die wir mehr vom pädagogischen Gesichtspunkt betrachten.

Bildung Plus: Für Kinder mit Migrationshintergrund sind Kindergarten und Schule wichtige und oft die einzigen Orte, um die deutsche Sprache zu sprechen und die deutsche Kultur kennen zu lernen. Es gibt breiten Konsens bezüglich der Frage, Deutsch möglichst früh als Umgangssprache zu etablieren. Die Landesarbeitsgemeinschaft der kommunalen Migrantenvertretungen in Nordrhein-Westfalen (LAGA-NRW) jedoch ist der Meinung, nur, wenn Kinder mit Migrationshintergrund auch ihre Muttersprache beherrschen, können sie eine zweite, die deutsche Sprache, ausreichend gut erlernen. Sie plädieren für die Einführung das Schulfaches „Türkisch“ für Muttersprachler, aber wahlweise auch als Fremdsprache. Was halten Sie für sinnvoll, um den Sprachproblemen zu begegnen?

Aiman Mazyek: Ich würde keinen „wenn–dann–Satz“ daraus machen, aber es wird ein Schuh daraus, wenn wir pädagogisch und bildungstechnisch gesehen über den Tellerrand hinausschauen und erkennen, dass ein Kind, das betreut mehrsprachig aufwächst, enorme Vorteile hat. Wir können nicht von einer globalisierten Welt sprechen und Mehrsprachigkeit einfordern, wenn wir nicht anfangen, dies im Kindesalter schon aufzubereiten. Und da haben Sie gerade bei den Kindern mit Migrationshintergrund eine große Chance.
Die Realität von Kindern mit Migrationshintergrund an den Schulen sieht jedoch so aus, dass die Kinder nur unzureichend die Muttersprache ihrer Eltern beherrschen und noch weniger gut die deutsche Sprache. So endet es in einer Katastrophe. Außerdem verfügen Lehrkräfte oft über kein Konzept zur Mehrsprachigkeit im Kindesalter. Diese Themen müssen wir in Zukunft angehen. Vor allem müssen wir lernen, Mehrsprachigkeit als eine Herausforderung und eine Chance zu betrachten, statt als Schwierigkeit. Ich kenne viele Familien, die klagen, dass die Lehrer keine Sensibilität haben für Kinder, die Deutsch nicht als Muttersprache haben und es erst mal nicht gut verstehen und sprechen können. Mit entsprechender Vorbereitung lernt das Kind aber in Windeseile und beherrscht im Alter von 7 Jahren zwei Sprachen! Es muss sich ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Mehrsprachigkeit etwas Gutes ist, das gefördert werden muss. Arabisch, Bosnisch oder Türkisch als zweite Fremdsprache an Schulen anzubieten, wäre eine entscheidende Möglichkeit, Mehrsprachigkeit zu unterstützen. Dies würde zudem die Eltern entlasten, die Angst haben, dass ihre Kinder die Sprache ihrer Herkunftsfamilie verlieren.

Bildung Plus: Was könnte in den Kindergärten unternommen werden, um deutschen Kindern und Kindern mit Migrationshintergrund schon früh einen Einblick in die jeweils andere Kultur zu vermitteln?

Aiman Mazyek: Es bietet sich an, dass man die religiösen Feste in Kindergärten gemeinsam angeht. Das christliche Weihnachtsfest genauso wie das islamische Zuckerfest, warum nicht? Anregungen von muslimischen Eltern werden oft dankbar von den Erzieherinnen angenommen und man könnte zahlreiche weitere Ideen suchen und finden, um sich interkulturell auszutauschen. Wir reden oft zu sehr über die Negativ-Beispiele, dabei gibt es so viele „Best-Practice-Beispiele“, die in Deutschland schon seit vielen Jahren existieren.

Bildung Plus: Integration ist ein Prozess, der auf Gegenseitigkeit beruht. Was müsste noch geschehen, um ideale Voraussetzungen für eine gelingende Integration zu schaffen? Welchen Beitrag wünschen Sie sich von der Bundesrepublik Deutschland? Welchen Beitrag sollten in Deutschland lebende Muslime beziehungsweise Migrantenorganisationen leisten?

Aiman Mazyek: Die Bundesregierung soll die vielen guten Ankündigungen, die durchaus Signalwirkung haben, umsetzen. Stichwort: Religionsunterricht. Diesbezüglich gibt es sehr viel Nachholbedarf. Auf der muslimischen Seite soll man ganz offen die Lebenslüge diskutieren, die heißt „Wir werden irgendwann zurück in unser Heimatland gehen“. Doch für die Kinder, die hier in der dritten oder vierten Generation leben, ist ihr Heimatland Deutschland. Ich wünsche mir, dass solche Bewusstwerdungsprozesse bei Migranten aus verschiedenen Generationen von Migrantenorganisationen in Gang gesetzt werden.
Auch die Mehrheitsgesellschaft muss einen Lernprozess durchmachen. Die Menschen müssen verstehen, dass sie zur Veränderung ihrer eigenen Gesellschaft da sein müssen. Wie lange haben wir gebraucht, das tabuisierte Wort „Einwanderungsgesellschaft“ zuzulassen und uns als solche zu bezeichnen.