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Mittwoch, 07.06.2006
Abschiebung: Hartes Urteil für Psychiater - Von Samir Rabbata
Ein Berliner Arzt wurde verurteilt, weil er Flüchtlingen ohne angemessene Untersuchung Kriegstraumata attestiert haben soll. Die Verteidigung sieht den Prozess politisch motiviert.
Einer der Anwälte findet als Erster Worte: „Das müssen wir erst mal verdauen.“ Der Rest der kleinen Gruppe vor Saal 504 des Berliner Strafgerichts schweigt. Der Schreck über das gerade gesprochene Urteil sitzt tief. Zu einem Jahr und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilte der Richter den Arzt Dr. B., wenn auch zur Bewährung. Seine ebenfalls angeklagte Ehefrau, die auch Ärztin ist, sprach er frei.
Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Berliner Psychiater in den Neunzigerjahren bei etlichen Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien ohne ausreichende Untersuchungen posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) attestiert hat. Diese Zeugnisse dienten den Migranten zur Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Bei Frau B. konnte das Gericht nicht zweifelsfrei feststellen, ob sich die Allgemeinärztin ebenfalls eines Vergehens schuldig gemacht hat.
Der Fall ist von grundsätzlicher Bedeutung. Denn es steht der Vorwurf von Flüchtlingsorganisationen im Raum, die Politik wolle die Medizin mit dem Ziel einer schnelleren Abschiebung von Flüchtlingen instrumentalisieren – zumindest sich von Ärzten dabei nicht behindern lassen. Für Dr. B. ist die Intention der Staatsanwaltschaft klar: „Hier soll ein Exempel statuiert werden, um andere Ärztinnen und Ärzte einzuschüchtern.“
Tatsächlich warf die Berliner Innenverwaltung Fachärzten in den vergangenen Jahren immer wieder vor, den aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Flüchtlingen massenweise posttraumatische Belastungsstörungen zu attestieren. In der Folge wies der damalige Berliner Innensenator Eckart Werthebach (CDU) seine Behörde an, Kriegsflüchtlinge zur Zweitbegutachtung vor Polizeiärzten antreten zu lassen. In vielen Fällen wurde ihnen eine Traumatisierung abgesprochen. Mit zum Teil haarsträubenden Begründungen seien reihenweise psychisch kranke bosnische Kriegsflüchtlinge gesundgeschrieben worden, berichtet der Psychiater Dr. med. Ferdinand Haenel vom Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin. Vor Gericht hatten diese Zweitbegutachtungen durch den polizeiärztlichen Dienst jedoch nur selten Bestand. Ronald Reimann, Rechtsanwalt der angeklagten Frau B., wertet den Prozess gegen die Eheleute deshalb auch als Retourkutsche dafür, dass die Polizeigutachter unter Beschuss geraten sind.
So befand das Gericht im Fall von Dr. B., dass eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Patientendokumentation und der inhaltlichen Ausführung in den erstellten fachärztlichen Attesten besteht. Daher folgte es in wesentlichen Punkten der Auffassung der Staatsanwaltschaft, wonach die meisten Atteste vorsätzlich ohne jede Untersuchung ausgestellt wurden. „Das Wesen eines ärztlichen Attestes kann nicht auf die Stufe einer Tatsachenbekundung des betroffenen Flüchtlings gestellt werden“, begründete der Richter sein Urteil. Andernfalls bräuchte man hierfür keinen Arzt aufzusuchen.
Doch konnten die Beschuldigten die Anschuldigungen kaum durch entlastende Zeugenaussagen aus der Welt räumen. Denn die Staatsanwaltschaft hat nur die Fälle zur Anklage gebracht, bei denen die betroffenen Patienten entweder verstorben sind (einige durch Suizid) oder sich mit unbekanntem Aufenthalt im Ausland aufhalten. „Somit hat die Staatsanwaltschaft dieses Verfahren zielgerichtet gesteuert, um Verteidigungsmöglichkeiten der Angeklagten zu vereiteln“, kritisiert Anwalt Reimann.
Seiner Auffassung nach müssten beim Vorwurf der lückenhaften Dokumentation in den Patientenakten auch die damaligen Umstände betrachtet werden. So strömten nach dem Zerfall Jugoslawiens mehr als 35 000 Migranten nach Berlin. Nach dem Friedensschluss von Dayton beschloss die Innenministerkonferenz 1996, dass nur noch diejenigen Flüchtlinge geduldet werden sollten, die eine kriegsbedingte PTBS glaubhaft machen konnten.
„Wir sprechen beide Serbo-Kroatisch. Dies war wohl der Grund, warum wir damals in unserer Praxis von den Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien regelrecht überrollt wurden“, erinnert sich Frau B. heute. Deshalb habe man der Behandlung der Patienten absolute Priorität eingeräumt. In den Patientenunterlagen hätten sie nur das Notwendigste notiert. Nach Ansicht von Dr. B. sei eine umfangreiche Dokumentation aber auch nicht notwendig: „Schließlich handelte es sich um Atteste und nicht um Gutachten.“
Dr. B. will das Urteil nicht hinnehmen und geht in Berufung. Er werde in seiner Arbeit auch künftig mit ähnlichen Fällen konfrontiert und hoffe auf Rechtssicherheit. In Berufung geht aber auch die Staatsanwaltschaft. Ihr fiel das Urteil zu milde aus.
(Quelle: Deutsches Ärzteblatt, 24.02.06)