Montag, 10.04.2006
Da die Äußerungen der Berliner Regierung und meiner Kirche zu weit von meiner Ansicht entfernt liegen, möchte ich mich mit e-mail wenigstens an einen Teil der Muslime wenden.
Als - römisch-katholischer - Christ habe ich keinen Zweifel, dass die gezielte Provozierung durch die Karikaturen eine massive Sünde sind.
Genau so würde ich urteilen, wenn jemand Jesus, die Evangelisten, Jünger oder Kirchenväter so instrumentalisiert hätte - auch wenn einige aus dieser Reihe durchaus Ansatzpunkte für Zweifel, Satire (oder sogar ernsthafte Kritik) in ihrem Lebenswandel oder in ihren Lehren geboten haben mögen. Es ist indiskutabel, mit zweierlei Maß zu messen.
Als lebenserfahrener (67jähriger) Jurist, der die Entwicklung der Sprache der Politik und der Werbung für Politik und für Wirtschaftsgüter verfolgt hat, ärgert mich die Serie von Totschlag-Argumentationen mit den beiden Schlagwörtern "Pressefreiheit" und "Meinungsfreiheit": Sowohl die Medien als auch die Politiker und die Priester aller an den Einen, Barmherzigen Gott glaubenden Religionen hätten allen Bürgern zumuten können und sollen, dass es in solchen Fällen nie nur um die hohen Ziele geht, sondern um die Resultanten (wie der Physiker sagen würde) bei in verschiedene Richtungen weisenden Zielen:
Die Freiheit setzt immer Verantwortung des Freien gegenüber seinen Mitmenschen, "Nächsten" (das sind alle in der Reichweite meiner konkreten Handlung lebenden Menschen) voraus, nachzulesen im zweiten, VIEL ZU OFT VERGESSENEN Halbsatz des Artikels 2 Absatz 1 unseres Grundgesetzes.
Wir Älteren erinnern uns noch gut an die Debatten über die Einführung und die präzise Abgrenzung - !!! - des so genannten "Soraya-Paragraphen", heute
§ 103 Strafgesetzbuch über die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter. Auch § 104 über den strafrechtlichen Schutz von Flaggen, § 130 bis 131 über öffentliche Volksverhetzung , Aufruf zu Straftaten usw sowie die §§ 166 ff über den Schutz der Religion hätten sofort in die Zeitungen gemusst, um zu zeigen, wie man bis heute versucht hat, eine BALANCE, den gerechten KOMPROMISS zwischen den hier konkurrierenden Zielen zu finden.
Wäre es so abwegig gewesen, darauf hin zu weisen, dass - es in allen Kulturkreisen außer der Sanktion einer Missetat durch das staatliche Strafrecht auch noch viele andere, unterschiedlich einschneidende Sanktionen gibt: Bußgelder (bei uns das Ordnungswidrigkeitenrecht), Ehrengerichtsstrafen, Verachtung und ihr Ausdruck im Nicht-mehr-Grüßen, Ignorieren des Missetäters, Boykott aller Art, Leserbriefe usw usw usw - die Phantasie der Menschen hat ja da in den Jahrzehntausenden viel geschaffen ...- man darüber nachdenken kann, ob der Schutz religiöser Überzeugungen in unserem Jahrzehnte alten Netz von Vorschriften (einschließlich dem Medienrecht) noch den heutigen und den absehbaren Bedürfnissen in unserem Land entspricht oder verändert werden sollte - ich schätze, dass unter uns, außer den an Religion völlig Desinteressierten, auch viele religiös Engagierte leben, dass die Zahl dieser beiden Extreme vielleicht (auf Kosten der Mitte) wächst - und mit dieser Polarisierung auch das Konfliktpotential, dem "der Staat" rechtzeitig vor Zusammenstößen ein Konzept entgegen stellen sollte. Wenn ich an die Entwicklung des religiösen Klimas in den USA seit meiner Jugend denke, sehe ich auch bei uns noch so einiges kommen.
Daraus folgt, dass ich Trauer und Scham empfinde sowohl über die (vermeintlich im Namen der dänischen und europäische "Werte" verübte) Provokation als auch über das m.E. schlampige Konfliktmanagement danach in Kopenhagen, Berlin, Brüssel - und dem Vatikan.
Wenn jemand es für wert hält, könnte er obigen Text vielleicht ins Arabische, Türkische oder Persische übersetzen.
Würde mich sehr freuen.