Donnerstag, 10.11.2005
In der Anmoderation zu einem Interview mit Daniel Cohn-Bendit bezüglich der Unruhen in Frankreich stellte die Moderatorin des „Heute-Journals“ Marietta Slomka in der Sendung vom 08.11. fest, dass es in Deutschland mittlerweile schick sei, in Restaurants „Café latte“ zu bestellen, woraus man schließen könne, dass die Integration der italienischen Migranten ganz gut gelungen sei. Herrn Cohn-Bendit stellte sie dann sinngemäß die Frage, ob es Zufall sei, dass die Randalierer in Frankreich nicht der christlich-abendländischen Kultur angehören würden.
Der Befragte ging auf die Frage gut und angemessen ein.
Es ist unglaublich, in welcher Offenheit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen das Ressentiment transportiert werden kann, dass die Gewaltwelle in Frankreich originär mit dem Islam zu tun hätte.
Es ist unfassbar, mit welcher Leichtigkeit und Selbstgerechtigkeit Muslime, die die Eskalation der Ereignisse in Frankreich gleichermaßen mit Sorge erfüllt, vor den Kopf gestoßen werden und in Zusammenhang mit Gewalttätigkeiten gebracht werden, die eindeutig das Ergebnis sozialer Ungerechtigkeiten sind.
Gleichzeitig wird die Frage aufgeworfen, ob in Deutschland ähnliches geschehen könnte, was gemäß einiger (vornehmlich Unions-) Politiker nicht von der Hand zu weisen sei.
Damit wird in unverantwortlicher Weise ein unsäglicher Geist herauf beschworen, eine gefährliche Stimmungsmache erzeugt, die ihrerseits bereits den ersten Schritt einer Eskalation darstellt.
Dabei ist völlig eindeutig, dass die derzeitige Gewaltwelle in Frankreich in einem direkten Zusammenhang mit Frankreichs Vergangenheit als Kolonialmacht steht.
Die Gründe für die Einwanderung nach Frankreich sind völlig andere, als die für die Immigration nach Deutschland ab den 60er Jahren. Wer dies bei den aktuellen Konflikten nicht bedenkt, sondern lediglich auf die Religion der Einwanderer abstellt, erzeugt ein falsches Bild. Soll man dem „Heute-Journal“ hier eher einen Fehler oder Absicht unterstellen?
Bezüglich der Einwanderung von Türken (u.a.) nach Deutschland kann heute wohl gesagt werden, dass eine bessere Planung der Integration sinnvoll gewesen wäre, ein Fehler der schlecht jemandem anzulasten ist, wo doch Einwanderer und Deutsche gleichermaßen zunächst von einem befristeten Aufenthalt ausgingen. Dennoch, trotz manchen Defizits, wie wir es jetzt resümieren, kann gesagt werden, dass die Erwartungen von Deutschen und „Gastarbeitern“ in Erfüllung gingen: Menschen kamen zum Arbeiten nach Deutschland und schufen so für sich einen kleinen- und für Deutschland einen großen Wohlstand. Konsequenz daraus sind freundschaftliche Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei und z.B auch die Gastfreundschaft gegenüber deutschen Touristen in der Türkei. Manch anhaltende Probleme zum Thema Integration brauchen deshalb nicht unerwähnt bleiben.
Das Verhältnis von Frankreich zu Algerien und vielen anderen ehemaligen Kolonien ist grundverschieden. Frankreich hat nicht zum Wohlstand, sondern überwiegend zu Not und Elend in den Kolonien beigetragen, viele Länder einem politischen Chaos überlassen, hat Araber und Afrikaner aus den besetzten Gebieten in die ersten Reihen der Fronten des 2. Weltkriegs gestellt, hat die Einwanderer dieses Zusammenhangs bis heute benachteiligt, sich selbst überlassen und in Ghettos abgeschoben, die von Anfang an für diesen Zweck erbaut wurden.
In den 60er Jahren wurden Algerier, die in Paris gegen die Kolonialpolitik Frankreichs demonstrierten, von der Polizei angegriffen, hundertfach getötet und in die Seine geworfen.
Offizielle Worte des Bedauerns hat es in Frankreich nie gegeben.
Warum fällt es Frankreich eigentlich so schwer, die dunklen Kapitel seiner Geschichte einzugestehen?
Wenn man Türken, sei es in Deutschland oder in der Türkei, nach Deutschland befragt, wird man nach wie vor viel Positives hören.
Menschen in Algerien, Mali oder Sénégal äußern sich aus den genannten Gründen jedoch überwiegend nicht positiv über Frankreich.
Abneigung und Hass, die bei Migranten in Frankreich existieren, haben in dieser Form kein entsprechendes Pendant bei Migranten in Deutschland, weshalb eindeutig nicht die Religionszugehörigkeit sondern die Geschichte und der Grad der Benachteiligung das Maß an Identifikation oder Abneigung mit der „Aufnahmegesellschaft“ bestimmen.
Gewalttätige Konflikte wie sie Frankreich derzeit erlebt, sind abscheulich, selbstzerstörerisch und unvernünftig, was einem jeder bestätigen wird, der reden kann. Jedoch redet nur der, der Gehör zu finden glaubt. Die französische Politik hat sich jedoch zu lange arrogant über die Interessen der Bewohner seiner Kolonien und seiner Einwanderer aus diesen Ländern hinweggesetzt.
Wenn heute Menschen in Deutschland gerne „Café latte“ bestellen und Italiener tatsächlich gut integriert sind, hat das mit Sicherheit damit zu tun, dass sich Italiener in Deutschland wohl fühlen. Hätte die Polizei jemals in Köln demonstrierende Italiener in den Rhein geworfen, hätten wir heute sicherlich eine andere Situation.
Frau Slomka ist überdies noch zu entgegnen, dass es z.B. in Düsseldorf genauso schick ist zum „Libanesen“ oder zum „Türken“ zu gehen, wie „Café latte“ zu bestellen, wobei die Religion genauso viel oder wenig eine Rolle spielt, wie bei den Konflikten in Frankreich.
Deutsche Politiker sind gut beraten, die französischen Verhältnisse nicht herbei zu reden.