Die deutsche Industrie steckt nach Einschätzung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in der tiefsten Krise seit Gründung der Bundesrepublik. In einem aktuellen Bericht spricht der Verband von einer strukturellen Erschütterung, die den Wirtschaftsstandort Deutschland fundamental bedrohe. BDI-Präsident Peter Leibinger beschrieb die Lage jüngst mit drastischen Worten: "Die deutsche Industrie befindet sich im freien Fall."
Die aktuellen Daten des Statistischen Bundesamtes bestätigen die düstere Diagnose. Die Industrieproduktion brach im August 2025 um 4,3 Prozent gegenüber dem Vormonat ein. Besonders betroffen sind die traditionellen Schlüsselbranchen: Die Automobilproduktion sank um 18,5 Prozent, der Maschinenbau verzeichnete ein Minus von 6,2 Prozent. Für das Gesamtjahr 2025 prognostiziert der BDI einen Produktionsrückgang um zwei Prozent – das vierte Schrumpfungsjahr in Folge.
Die Chemieindustrie, einst eine tragende Säule der deutschen Wirtschaft, kämpft mit Auslastungsproblemen. Nach Angaben des BDI laufen viele Anlagen nur noch bei etwa 70 Prozent ihrer Kapazität. Die Gießerei-Industrie bezeichnet ihre Situation sogar als "existenziell" und meldete im ersten Halbjahr 2025 einen Produktionsrückgang von sechs Prozent im Vorjahresvergleich.
Als wesentliche Ursache für die anhaltende Krise identifizieren Wirtschaftsverbände die massiv gestiegenen Energiekosten. Der Wegfall preiswerter russischer Gaslieferungen habe die Produktionskosten insbesondere in energieintensiven Branchen wie der Chemie- und Metallverarbeitung in die Höhe getrieben. Hinzu kommen eine schwache globale Nachfrage und handelspolitische Unsicherheiten, etwa durch die Ankündigung neuer US-Zölle.
"Unsere Wettbewerbsfähigkeit erodiert Tag für Tag", warnt ein Industrievertreter. "Während andere Länder ihre Industrie aktiv unterstützen, ersticken wir in Bürokratie und hohen Abgaben."
Der BDI fordert angesichts der Krise eine grundlegende wirtschaftspolitische Wende. An erster Stelle stehe die Priorisierung von Investitionen in Infrastruktur und Transformation gegenüber konsumtiven Staatsausgaben. Das geplante Sondervermögen für Klima und Infrastruktur müsse zudem zweckgebunden bleiben und dürfe nicht zur Deckung anderer Haushaltslücken verwendet werden.
Ein weiterer zentraler Punkt ist der Bürokratieabbau. "Die Unternehmen brauchen Luft zum Atmen, keine zusätzlichen Melde- und Dokumentationspflichten", so die Forderung aus der Industrie. Nur durch konsequente Entlastung könne Deutschland wieder zu einem attraktiven Investitionsstandort werden.
Die Bundesregierung räumt zwar eine schwache Konjunktur im dritten Quartal 2025 ein, zeigt sich aber insgesamt optimistischer als die Industrieverbände. Sie hat ihre Wachstumsprognose für 2025 leicht auf 0,2 Prozent angehoben und erwartet für 2026 ein Plus von 1,3 Prozent. Als Hoffnungsträger gelten die geplanten staatlichen Investitionsprogramme, die in der zweiten Jahreshälfte Impulse geben sollen.Wirtschaftsministeriumssprecher verwiesen zudem auf erste Anzeichen der Stabilisierung in der Bauindustrie, die im August ein Produktionsplus von 0,6 Prozent verzeichnete. Dies könne ein Indiz dafür sein, dass die Investitionstätigkeit langsam wieder anlaufe.
Die Diskrepanz zwischen der alarmierenden Warnung der Industrie und der vorsichtig optimistischen Regierungseinschätzung zeigt, wie unsicher die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands derzeit ist. Während die einen bereits von einer historischen Krise sprechen, hoffen die anderen auf eine allmähliche Erholung durch staatliche Maßnahmen.
Fest steht: Die deutsche Industrie steht an einem Scheideweg. Die kommenden Monate werden zeigen, ob es gelingt, durch gezielte Investitionen und Reformen die Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen oder ob der "freie Fall", von dem der BDI-Präsident spricht, weiter andauert. Für hunderttausende Beschäftigte in den betroffenen Branchen hängt davon ihre berufliche Zukunft ab.