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Donnerstag, 16.03.2023


James Baldwin, einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. (Foto: © Dick Fontaine, courtesy of the Dick Fontaine Collection, Harvard Film Archive)

Berlinale-Filmbesprechung: „I Heard It through the Grapevine“

Der Dokumentarfilm rückt Schriftsteller James Baldwin in den Mittelpunkt. Als wichtige Stimme der US-Bürgerrechtsbewegung erweist sich sein Kampf im Kontext der Black-Lives-Matter-Bewegung als heute noch relevant

Bei der 73. Berlinale lief in der Sparte Forum der 1982 gedrehte Dokumentarfilm „I Heard It through the Grapevine“. Er hat eine Länge von 91 Minuten, seine Farben sind ausschließlich schwarz-weiß. Natürlich musste der Berlinale-Zuschauer sich 2023 keinen 41 Jahren Film anschauen!

Der 1939 geborene britische Regisseur Dick Fontaine hat 2022 Filmmaterial aus dem Harvard Film Archiv restauriert. Dick Fontaine gilt nicht nur als einer der weltweit führenden Filmregisseure, wenn es um Dokumentarfilme oder dokumentarische Porträts, speziell von Sängern und Musikern, geht. Rund 50 Filme hat er erfolgreich produziert. Von 1995 bis 2012 war er Leiter der Dokumentarfilmabteilung der „National Film & Television School“ in Beaconsfield, England.

Dick Fontaine mischt geschickt Archivmaterial zwischen die Berichte dieses auf der Berlinale gezeigten Dokumentarfilmes. So entwickelt sich der Film zu einem schmerzhaften historischen Dokument, das sich im Kontext der Black-Lives-Matter-Bewegung als heute noch relevant erweist.

Antirassistischer Kampf

Der Regisseur hat das fast ein halbes Jahrhundert alte Filmmaterial über den US-Schriftsteller James Baldwin (1924 bis 1987) in den Mittelpunkt von „I Heard It through the Grapevine“ gestellt. Der US-Autor sagte über sich selbst, er „kommt von ganz unten“. Im New Yorker Stadtteil Harlem, nach seiner Empfindung „mehr einem Ghetto als Stadtteil gleichend“, kam er zur Welt. Der Vater lässt Mutter und 5 kleine Kinder eines Tages sitzen. Armut, besonders Hunger, waren damals Baldwins Begleiter. Im Dokumentarfilm lernt man auch den Musiker David Baldwin kennen. Er engagiert sich damals ebenso in der Bewegung der Afro-Amerikaner wie sein Bruder James. Der US-Lyriker Amiri Baraba (1934 bis 2014) kämpft auch für die Rechte der Afro-Amerikaner wie der in Nigeria geborene Schriftsteller Chinua Achebe (1930 bis 2014). Der damals in den USA lebende Autor ist in Deutschland sehr bekannt bis heute. Er gewann 2002 den „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels“. 

Die Bürgerrechtsbewegung weist immer wieder darauf hin, dass auch sie amerikanische Staatsbürger sind. Ob man nun weiße Hautfarbe oder welche Hautfarbe auch immer sein Eigen nenne. Daher verwenden sie den Begriff „Afro-Amerikaner“ mit Stolz! Der Ausspruch „Black is beautiful“ unterstreicht das noch. 

Im Film sieht man, wie James Baldwin 1980 sich in den Südstaaten der USA aufhält. 15 Jahre zuvor hatte ein Protestmarsch von Selma, im US-Bundesstaat Alabama gelegen, nach Montgomery geführt. Martin Luther King Jr. hatte den Marsch angeführt. Baldwin ist auch zu sehen, wie er 1980 in Washington D.C. vor dem Martin Luther King Memorial steht. Er spricht ins Mikrofon und stellt eine Frage. Es geht darum, was der 1929 geborene Baptistenprediger, der 1968 von einem weißen Rassisten ermordet worden ist, erreicht hat. Es geht auch darum: Kann man überhaupt ein Resümee ziehen und lassen sich alle offenen Fragen beantworten?  Waren die Ziele der Bürgerrechtsbewegung überhaupt ausreichend? War ihr Anspruch auf Gleichstellung vor dem Gesetz sowie auf das Ende der Ausgrenzung utopisch, revolutionär oder gar naiv?

Der Ku-Klux-Klan und seine Beziehung zum Weißen Haus

In der Zeit von um 1950 bis 1960 wurden über 100 Bürgerrechtler ermordet. Bis heute vermutet man, als Drahtzieher stecke der rassistische und gewalttätige Geheimbund Ku-Klux-Klan dahinter. Kaum ein Mörder der über 100 ermordeten Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung konnte verhaftet werden. Die Zahl der gefassten Täter liegt im einstelligen Bereich. Hatte J. Edgar Hoover (1895 bis 1972), der ab 1924 bis zu seinem Tote FBI-Direktor gewesen war, überhaupt Interesse daran, weiße Mörder von Afro-Amerikanern ausfindig zu machen? Sah Hoover nicht in der Bürgerrechtsbewegung „farbige Rote oder Rote Farbige“, also Kommunisten? Das gehört auch zu den unbeantworteten Fragen, die Baldwin aufwirft. Hat der Ku-Klux-Klan nicht herausragende Beziehungen, bis ins, wie heißt das Gebäude so schön? Das Weiße Haus ist gemeint. Warum wird die Farbe „weiß“ so betont beim Amtssitz des US-Präsidenten? Sitzen im Repräsentantenhaus, im Senat, in der Ministerriege, in den Reihen der Bundesrichter, der Gouverneure nicht sogar zahlreiche Mitglieder des Ku-Klux-Klans?

Man hörte von einem Gerücht, dass es ein Ku-Klux-Klan-Mitglied bis auf den Stuhl des US-Präsidenten geschafft haben soll. Der Filmtitel „I Heard It through the Grapevine“ heißt ja nicht von ungefähr so. Auf Deutsch übersetzt wird daraus „Ich habe es durch die Weinrebe gehört“. Ob nun ein US-Präsident wirklich Mitglied bei diesem rassistischen Geheimbund gewesen ist, bleibt unbeantwortet.

Beantwortet werden kann dagegen, wer Senator Robert Carlyle Byrd war. Der 1917 geborene und 2010 verstorbene Politiker gehörte von 1952 bis 2010 dem Kongress an. Bei neun Wahlen hintereinander siegte er in West Virginia. Bis heute ist Byrd (Demokratische Partei) der Senator mit der längsten Amtszeit im Senatorenamt in der Geschichte der USA. Schon sein Vater war Mitglied des Ku-Klux-Klans, der Sohn trat mit knapp über 20 Jahren ebenfalls in den Geheimbund ein. Als er 1952 mit Mitte 35 Jahren erstmals für das US-Repräsentantenhaus kandidiert hatte, erklärte er seinen offiziellen Austritt aus dem Geheimbund. Zu den unbeantworteten Fragen, die Baldwin 1980 gestellt hatte, gehört auch, ob solche Austritte aus einer aufrichtigen Einsicht wegen erfolgt oder nur Showeffekte sind?

Es gab und gibt wohl noch viele „Byrds“ bis heute in den USA in Regierungsverantwortung. Der 44. Präsident der USA, der 1961 geborene Barak Obama, war von 2009 bis 2017 im Amt. Die USA konnten 233 Jahre nach ihrer Entstehung den ersten Afro-Amerikaner als Präsidenten im Weißen Haus erleben.


Black-Lives-Matter-Bewegung

Den Kampf gegen die Rassentrennung, Angriffe auf Kirchen, die rassistische Polizei-Brutalität, Willkür und Unrecht, die die Schwarze Bevölkerung ertragen musste und muss, zeigt der Film schonungslos. Recht skeptisch blicken diese Freiheitskämpfer auf ihre Gegenwart und die wenigen Errungenschaften, die von damals geblieben sind. 

So wird der Film zu einem schmerzhaften historischen Dokument, das sich im Kontext der Black-Lives-Matter-Bewegung als heute noch relevant erweist. Der Humor, vielleicht auch das Kopfschütteln, kommt nicht zu kurz! Man erlebt die Kämpfernaturen Amiri Baraba und James Baldwin im Gespräch. Der Lyriker berichtet von einem Besuch eines elitären Colleges in den USA, wo man ihn, den berühmten Schriftsteller, im Literaturunterricht als Gast begrüßt hatte. Es hatte sich um ein sehr teures College gehandelt. Die afro-amerikanischen Mädchen, die die große Mehrheit der Schülerinnen darstellten, standen kurz vor dem Schulabschluss. Ihre Väter konnten das teure Schulgeld aufbringen, weil sie erfolgreich als Showstars, Basketballsportler, Boxer oder American Footballstars tätig waren.

Amiri Baraba berichtete, er habe eine „Schülerin herausgepickt und habe nach Martin Luther King gefragt“. Die Schülerin antwortete: „Das ist doch der Mann, der die Bibel übersetzt hatte“. Einer anderen Schülerin habe er einen Zettel vorgelegt. Auf dem stand „Malcolm X“. Die Frage nach dem 1925 geborenen US-Aktivisten und Bürgerrechtler, der 1965 ermordet worden ist, beantwortete die junge Dame folgendermaßen: „Sie müssen bitte entschuldigen. Ich habe von einem König Malcolm dem Zehnten noch nie gehört“.

Der Lyriker stellt seinem Freund und Kollegen die Frage, ob man „sich nicht an die eigene Nase fassen muss, wenn unsere Jugendlichen nichts von unseren Helden wissen oder wissen wollen“. Der milde James Baldwin hat die richtige Antwort parat! „Was meinst Du, was Du für Antworten bekommen hättest, wenn Du in meinem Geburtsort Harlem gefragt hättest“. Er spielt darauf an, dass die Kinder dort von guten Schulen ausgegrenzt sind, oft ohne ausreichende Schreib- und Lesekenntnisse später auf Jobsuche sind.  Der Dokumentarfilm „I Heard It through the Grapevine“ hat dank des geschickt geschnittenen Filmmaterials von Dick Fontaine -leider- immer noch hochaktuelle Bezüge. (Volker-Taher Neef, Berlin)