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Freitag, 19.11.2021
Im Schatten Gottes: Unter Yavuz Sultan Selim brach die globale Moderne an
Wer dieses Buch liest, wird sehr viel über gegenwärtige Politik erfahren, die sich – ob bewusst oder unbewusst – ein Muster an den osmanischen Erfolgen nimmt.
(iz). Im Jahr 2018 beendete Frank Griffel den Mythos, dass die Philosophie unter MuslimInnen untergegangen sei. Nun beendet Alan Mikhail den Mythos davon, dass MuslimInnen keine Reformation erlebten. Was Griffel und Mikhail eint? Sie beide sind Lehrbeauftragte in Yale. Ein Studium dort kann ich mir zwar nicht leisten, doch ihre Bücher sind erschwinglich. Und jeder Cent lohnt sich.
Mikhail beendet nicht bloß den Mythos davon, dass MuslimInnen keine Reformation erlebten. Er stellt zudem die Behauptung auf, dass Martin Luther den Erfolg der Reformation, dem sich bis ins tiefste Europa erstreckenden Schatten eines osmanischen Sultans zu verdanken habe. Die Auseinandersetzung mit diesem hielt den Papst davon ab schwerere Schritte gegen Luther zu unternehmen. Der Name dieses Sultans lautet: Yavuz Sultan Selim. Geboren 1470, verstorben 1520. Seine Regierung trat Sultan Selim im Jahr 1512 an, regierte 8 Jahre und änderte die Geschicke der Welt wie kein anderer.
Die Erben Roms und der Hass der Humanisten
Francesco Petrarca, einer der drei Väter der europäischen Renaissance, träumte im 14. Jahrhundert davon, das Erbe des Römischen Reiches anzutreten. Im 16. Jahrhundert ist eindeutig, wer das Erbe des Römischen Reiches nicht bloß erträumt, sondern wahrhaftig antritt: Das Osmanische Reich. Die Türken wurden einst „Römer der muslimischen Welt“ genannt. Auch selbst nannten sie sich „Rum“: Römer.
Europa, Asien und Afrika: Das war damals die Welt – und die Osmanen herrschten auf all diesen Kontinenten. Wo sie nicht direkt herrschten, wurden die Menschen von der Angst beherrscht, dass sie angestürmt kommen. Diese Angst war es, diese Übermacht der Osmanen, die Columbus in die damals „neue Welt“ führte. Columbus war Teil der Eroberung Granadas, der letzten muslimischen Festung auf der iberischen Halbinsel. Diese stellte einen der seltenen Siege der damaligen Christen dar gegen die MuslimInnen. Und eben weil der erklärte Erzfeind, der Türke, so übermächtig war und alle Handelswege blockierte, standen die europäischen KönigInnen mit dem Rücken zur Wand. Sie hatten nichts zu verlieren und Columbus brach auf in eine neue Welt, auf der Suche nach Verbündeten gegen „die“ MuslimInnen.
Das Ergebnis? Sie nahmen ihren Hass auf MuslimInnen mit in die neue Welt. Davon zeugt der Name einer Stadt im heutigen Mexico: Matamoros heißt dort noch heute eine Stadt. Zusammengesetzt aus zwei spanischen Wörtern: Matar = töten, morden und Moros = Maure, abwertend für Muslim. Der in Europa schwelende Hass auf MuslimInnen drückte sich in der Bezeichnung von Städten aus. Und so kommt es, dass eine Stadt im heutigen Mexico „Muslimmörder“ heißt. Dies alles geschah zur Zeit der Renaissance, das heißt der Wiederentdeckung der Antike. Doch öfter noch als über die Vervollkommnung des Menschen schrieben die so bezeichneten „Humanisten“ über ihren Hass auf die Muslime: „Die Humanisten schrieben viel häufiger und ausführlicher über die Bedrohung durch die Türken und die Notwendigkeit eines Kreuzzugs als über die besser bekannten Themen wie edle Gefühle, liberale Erziehung, die Würde des Menschen oder die Unsterblichkeit der Seele.“
Sultan Selims Machiavellismus
Freiheit für Andersdenkende gab es im Europa des 16. Jahrhunderts nicht. Andersdenkende, das sind Menschen muslimischen und jüdischen Glaubens. Christen gehen davon aus, dass MuslimInnen alle Christen zwangskonvertieren wollen, so wie sie es eben auch taten. Es war das Eigene, das sie im Feind gespiegelt sahen. Sie wussten nicht oder leugneten, dass bis zum Jahr 1517 die Mehrheit der osmanischen Bevölkerung Christen waren. 218 Jahre stellten Christen die Mehrheit im Osmanischen Reich und lebten friedlich und frei im Land der Türken, die sich als Erben Roms ansahen.
In seinem „Don Karlos“ lässt Friedrich Schiller die von Hass auf Muslime erfüllten Geldgeber des Columbus auftreten und legt einer Hauptfigur den berühmten Ausspruch in den Mund: „Geben Sie Gedankenfreiheit.“ Solch ein Satz wäre unmöglich im damaligen Osmanischen Reich. Gedankenfreiheit gab es dort.
Jedoch: Was möglich war, wäre der Ruf nach weniger Machiavellismus im Verhalten Sultan Selims. Wenn er gegen Schiiten vorgeht, so tut er es nicht, weil er an sich etwas gegen Schiiten hat, sondern weil sie im Pakt mit Schah Ismail stehen, einem politischen Kontrahenten, und Aufstände im Reich anzetteln.
Wenn also im heutigen Deutschland türkischstämmigen MuslimInnen gewisse Rechte vorenthalten werden mit der Begründung, sie wären Erdoğans langer Arm, dann findet dieses Verhalten sein Vorbild in Sultan Selim. Nur das türkischstämmige MuslimInnen keine Aufstände anzetteln.Auch wird der aufmerksame Leser finden, dass U.S. amerikanische Politik nach osmanischem Muster betrieben wird. Die USA unterstützt mal diese und mal jene Miliz, je nachdem wie es den eigenen Interessen dient. Auch Sultan Selim, der mächtigste Mann seiner Zeit, handhabte es so. Wer ihm gegen die Safawiden half, der wurde gefördert, um dann bei veränderten Umständen fallen gelassen zu werden, wenn sie den Interessen des Reiches nicht mehr dienlich waren.
Zeitgenössische Politik im Spiegel
Wer dieses Buch liest, wird also sehr viel über gegenwärtige Politik erfahren, die sich – ob bewusst oder unbewusst – ein Muster an den osmanischen Erfolgen nimmt. Eroberte Gebiete werden nicht von eingesetzten Türken regiert und nicht die eigene Sprache wird eingeführt, wie es Europa in seinen Kolonien tat. Stattdessen wird die Verwaltung Ansässigen übertragen. Auch dies erinnert an die Politik der USA. Und wie Napoleon Bonaparte mit seinem Code Napoleon für mehr Bürgerrechte in seinen eroberten Gebieten sorgte, so brachte der Osmane mehr Rechte, in die von ihm eroberten Gebieten. Sklaverei war zwar nicht verboten, doch Sklaven konnten auf eine Art und Weise aufsteigen in der Gesellschaft, die damals unmöglich war in Europa und seinen Kolonien: „Im Gegensatz zu den frühneuzeitlichen Gerichten in Europa gewährten die Schariagerichte zu Selims Zeit religiösen Minderheiten und Frauen im Bereich des Familienrechts deutlich mehr Rechte.“ Und so ist es auch keine Überraschung, dass nach Amerika verschleppte MuslimInnen, die ersten waren, die einen Aufstand gegen die Tyrannei der Kolonialherren initiierten – sie waren schlicht mehr Rechte gewohnt.
Dieses Buch zu lesen ist ein einziger Genuss für solche, die es genießen ein überkommenes Geschichtsverständnis zu revidieren. Auch der türkische Präsident Erdoğan müsste sein Geschichtsverständnis ändern nach der Lektüre dieses Buches. Denn der Grund, warum die christlichen Glaubenskrieger in Amerika überall Moscheen sahen, war nicht, weil es dort echte Moscheen gab, so Mikhail, sondern weil die Europäer einen solchen Muslimkomplex hatten, dass sie überall den angeblichen Feind sahen.
Das Verhalten hat sich jedoch noch immer nicht geändert. Dieselben Vorurteile, die damals gegen MuslimInnen herrschten, herrschen noch immer vor. Nur der Schwerpunkt der Argumente ändert sich. Aus diesem Grund ist dieses Buch eine Pflichtlektüre für alle Eurozentristen wie auch Osmanenverehrer. Taktik, Strategie und Kalkül diktieren die politischen Entscheidungen. Das war gestern so und wird morgen so sein. Die Entscheidungen und politischen Geschehnisse drücken nicht die Überlegenheit oder Unterlegenheit eines Glaubens aus. Sondern den Scharfsinn der Akteure ganz gleich welchen Glaubens.
Des Sultans Dichtung
Das Verhältnis Sultan Selims zum Glauben wird an einigen Stellen aufgeführt. So beispielsweise die Reformationen, die er durchführte oder die Anekdote, dass es eben Sultan Selim war, der das Mausoleum des auch in Europa bekannten Sufi-Meisters Muhjiddin ibn ‚Arabi bauen ließ – doch Poesie, die fehlt in diesem Buch. Sultan Selim hat eine Gedichtsammlung in persischer Sprache hinterlassen. Dieser Aspekt des Sultans, dessen Schatten sich auch heute noch auf die gesamte Welt erstrecke, wird nicht beleuchtet. Dies wäre die Krönung des Meisterwerkes gewesen. Es ist zu hoffen, dass dieses Buch viele Leser findet, um mit Vorurteilen aufzuräumen und Übersetzer dazu inspiriert, auch das literarische Werk des „Schatten Gottes“ der Öffentlichkeit zu vermitteln.
(Mit freundlicher Genehmigung des Autors Ahmet Aydin, Erstveröffentlichung am 07.08.2021 in: Islamische Zeitung)
Alan Mikhail: Gottes Schatten Sultan Selim und die Geburt der modernen Welt, aus dem Englischen von Heike Schlatterer und Helmut Dierlamm, C.H. Beck, 508 Seiten mit 75 Abbildungen und 24 Karten, EUR 32.–