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Donnerstag, 04.02.2021

Die Sozialenzyklika von Papst Franziskus aus muslimischer Sicht: Mehr als ein wertvolles Wort - Von Aiman A. Mazyek

Fratelli tutti“, die jüngst erschienene Sozialenzyklika von Papst Franziskus ist auch aus muslimischer Sicht ein mehr als bemerkenswertes Dokument. Immerhin handelt es sich um einen eindringlichen Aufruf für Geschwisterlichkeit und Freundschaft über alle Grenzen, über alle Religionen und Kulturen hinweg, ein leidenschaftliches Plädoyer gegen Kriege. Er sei überzeugt, so der Papst, dass „zwischen den Religionen (...) ein Weg des Friedens möglich“ sei.

Mit dieser Enzyklika hat das höchste geistliche Oberhaupt der Katholiken einer Welt voller Gewalt und Verunsicherung eine außerordentliche Idee entgegengesetzt: die Vision einerfraternitéder großen Weltgemeinschaft. Diese Enzyklika ist in jeder Hinsicht bemerkenswert, ja geradezu revolutionär und sollte von uns allen, ob Muslim oder nicht, aufgenommen, mitgedacht und weiterentwickelt werden. Wir sind eine große Menschheitsfamilie – und deshalb sind wir ihr das schuldig.Die Botschaft der Enzyklika, die in einem eindrucksvollen diametralen Widerspruch zu den nihilistischen jihadischen Weltbildern muslimischer Extremisten, zu den militanten Abschottungsideologien der Rechten und, ja, auch zu den Kreuzzügen in der Geschichte des Christentums steht, hat aus meiner Sicht – aufgrund anderer weltpolitischer Ereignisse – noch nicht die öffentliche Rezeption erhalten, die sie verdient.Unser Traum der „einen“ großen Menschheitsfamilie ist eben keine Utopie, kein jenseitiges Erlösungsversprechen, sondern – zumal in Zeiten der Zerwürfnisse der Völker, der uns alle gleichermaßen betreffenden Klimakatastrophe und weltweiten Kriege – eine existenzielle Verantwortung.

Franz von Assisireiste bekanntermaßen im Jahr 1219 nach Ägypten in die von Kreuzfahrern belagerte Hafenstadt Damiette und sprach dort mit dem SultanMalik-al-Kamilüber den Frieden. Die Begegnung des christlichen Heiligen mit dem Sultan nimmt der Papst zum Anlass, an seine eigenen Begegnungen zu erinnern: „Wenn mir bei der Abfassung von ‚Laudato si‘ eine Quelle der Inspiration durch meinen Bruder, den orthodoxen PatriarchenBartholomaios, zuteilwurde, der sich nachdrücklich für die Sorge um die Schöpfung eingesetzt hat, so habe ich mich in diesem Fall besonders vom GroßimamAhmad Al-Tayyeb anregen lassen, dem ich in Abu Dhabi begegnet bin. Dort haben wir daran erinnert, dass Gott ‚alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen und sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben.‘“Mit diesen Worten erinnert Papst Franziskus an seine erste Reise auf die Arabische Halbinsel überhaupt. Im Zentrum dieser Reise stand ein interreligiöses Treffen, die Globale Konferenz der menschlichen Brüderlichkeit. Dieses Treffen als einen Meilenstein des interreligiösen Austausches zu bezeichnen, greift sicherlich nicht zu hoch. Und die Begegnung mit dem Großimam der Kairoer Al-Azhar-Universität, Ahmad al-Tayyeb, war mitnichten eine beiläufige: Sie hatte einen langen Vorlauf. Über lange Zeit ging ihr ein Prozess der Annäherung und der Verständigung voraus; Treffen und Schriften wechselten zwischen Rom und Kairo hin und her. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Hohe Komitee für menschliche Brüderlichkeit, dessen Generalsekretär, der Richter Mahmoud Abdel Salam,an der Organisation des Treffens zusammen mit dem Vatikan maßgeblich beteiligt war. Das Treffen im Februar 2019 kulminierte schlussendlich in der Unterzeichnung des historischen Dokumentes über die Geschwisterlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt, der sogenannten Erklärung von Abu Dhabi, in der die Verbundenheit der Religionen betont wird.

Dass Ahmed al-Tayyeb in der Enzyklika gleich mehrfach als Inspirationsquelle genannt wird und er selbst betont, mit „Fratelli tutti“ gebe Franziskus der „Menschheit ihr Gewissen zurück“, zeigt, dass der gemeinsame Weg weiter beschritten wird. Mit der Teilnahme Mahmoud Abdel Salams an der Präsentation der Enzyklika am 4. Oktober 2020 nahm im Übrigen erstmalig ein Muslim teil. Für mich als Muslim ist das ausgesprochen bemerkenswert und bedeutsam.Wir brauchen jetzt mehr denn je eine Gesellschaft, in der Solidarität wieder das bedeutet, was sie ist: Verlässlichkeit. Wir brauchen eine Gemeinschaft, in der man sich empört über alltägliche Ungerechtigkeit, über Elend und Menschenverachtung. Und da sind die Religionen in der Pflicht. Heute heißt es zivilgesellschaftliches Engagement oder Solidarität, früher sprach man von Geschwisterlichkeit (Brüderlichkeit), Nachbarschaftshilfe oder Nächstenliebe. Mit allem ist Ähnliches gemeint: Einsatz für den Frieden, für Gerechtigkeit, Wohlfahrt und Wohlergehen in meiner unmittelbaren Umgebung.

Bei unserem Propheten liest sich das so: „Keiner von euch ist gläubig, bis er für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht“; Jesus sagt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Koran und Bibel sind hier Geschwister im Geiste.Deutschland kann und wird die Einheit der Verschiedenen besser leben können, wenn wir alle begreifen, dass Religionen und das Wissen um sie uns nicht einengen, sondern bereichern, das gilt auch für die religiös eher Unmusikalischen unter uns. Und ein Mehr an Spiritualität, sei es das Gebet am Flughafen vor Reisebeginn im Andachtsraum oder das mit dem autogenen Training vergleichbare fünfminütige Mittagsgebet in der Mittagspause am Arbeitsplatz, hat einer Gesellschaft noch nie geschadet. Was wir brauchen sind Menschen, die Zuversicht, Barmherzigkeit, Solidarität und Nächstenliebe verbreiten und leben: Jene Nicht-Selbstgefälligen, die versuchen, der Welt ein wenig mehr Frieden zu geben.

Auf diesem Weg werden natürlich immer wieder Fehler gemacht, denn der Mensch ist fehlbar und vergisst. Auf Arabisch heißt Mensch „Inssan“, das Verb dazu ist „nassa“ und bedeutet: vergessen. Demnach ist der Mensch ein Vergesslicher, ein Geschöpf der Vergesslichkeit. Gott weiß das, schließlich hat er uns erschaffen, und er übt dazu barmherzige Nachsicht. Er erinnert uns auf wundervolle Weise immer wieder daran. Wenn wir hinfallen, macht das also nichts, tragisch ist nur, wenn wir nicht wieder aufstehen und uns in unserem Menschsein vergessen.In diesem Sinne müssen Werte der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Gerechtigkeit und Menschenrechte stets aufs Neue erkämpft und verteidigt werden. Es gilt das Virus menschlicher Zerstörungswut zurückzudrängen, ob im Gewande des Rassismus, des religiösen Extremismus oder politischen Fundamentalismus. Besonders wir Muslime haben ein vitales Interesse, dem religiösen Extremismus entgegenzutreten. Die anhaltende Vorbehaltsdiskussion gegenüber uns Muslimen muss ein Ende nehmen! Wir sind Deutsche, deutsche Muslime – und dies nicht nur auf Bewährung.

„Die Welt ist viel zu gefährlich, um darin zu leben – nicht wegen der Menschen, die Böses tun, sondern wegen der Menschen, die danebenstehen und sie gewähren lassen“, sagte Albert Einstein. Die rassistischen Übergriffe auf andersgläubige Menschen, Moschee- und Synagogenattentate, Anschläge auf türkische Wohn- und Geschäftsstraßen sind nur die Spitze eines Eisberges. Von diesem Eisberg ist in den letzten Jahren immer mehr ans Tageslicht gekommen. Und mit ihm ist eine beklagenswerte Haltung des Wegschauens und Verharmlosens sichtbar geworden. Dabei sind diese Anschläge doch im Grunde Anschläge auf unsere Gesellschaft als Ganzes, ja, sie stellen eine große Gefahr für unsere Demokratie als solche dar. Dies ist an den Morden des rechtsextremen sogenannten NSU, die jahrzehntelang den Opfern angelastet wurden, überdeutlich geworden.

Jede Form von Antisemitismus, gruppenspezifischer Menschenfeindlichkeit und Rassismus ist eine Sünde im Islam. Wir deutsche Muslime – als Zentralrat der Muslime in Deutschland allemal – haben uns in Auschwitz zu unserer Verantwortung und damit zu unserer Zukunft, unserer Gegenwart und unserer Geschichte in diesem Land bekannt. Wir unterstreichen damit, uns für den Erhalt unseres Rechtsstaates einzusetzen, für unsere freiheitliche Demokratie, für unsere von Vielfalt geprägte, plurale Gemeinschaft in Deutschland einzutreten, die getragen sein soll von „Einigkeit und Recht und Freiheit“, die „des Glückes Unterpfand“ sind, wie es so trefflich in unserer Nationalhymne heißt.In seiner Abschlusspredigt sagte der Prophet des Islam: „Die gesamte Menschheit stammt von Adam und Eva ab. Ein Araber hat weder einen Vorrang vor einem Nicht-Araber, noch hat ein Nicht-Araber einen Vorrang vor einem Araber; Weiß hat keinen Vorrang vor Schwarz, noch hat Schwarz irgendeinen Vorrang vor Weiß.“ Dies ist das anti-rassistische Manifest unseres Propheten, das anti-rassistische Manifest des Islam. Und im edlen Koran heißt es: „O ihr Menschen, Wir haben euch von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Der Angesehenste von euch bei Gott, das ist der Gottesfürchtigste von euch. Gott ist gewiss allwissend und hat Kenntnis von allem.“ (Vers 49/Sure 13).

Für uns Muslime bedeutet das, alles zu tun, alles zu unternehmen, damit sich eine Katastrophe wie die Shoa niemals wiederholen kann. Weder in unserem Land noch sonst wo auf der Welt. Es bedeutet, dass wir aus religiöser Überzeugung gegen jegliche gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit aufstehen und unsere Stimme erheben, uns dem Antisemitismus widersetzen und allen Rassisten entschieden die Stirn bieten. Und so stellen wir Muslime uns an die Seite von Papst Franziskus und seine Enzyklika „Fratelli tutti“.




Erstveröffentlichung in den "Herder-Korrespondenzen" 1/2021 - Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion. Siehe: https://www.herder.de/hk/hefte/archiv/2021/1-2021/mehr-als-ein-wertvolles-wort-die-sozialenzyklika-von-papst-franziskus-aus-muslimischer-sicht/